Untersuchung über die Beat-Demonstration in Leipzig (1)
1. November 1965
Einzelinformation Nr. 966/65 über eine Zusammenrottung von Jugendlichen in Leipzig am 31. Oktober 1965
Aufgrund der dem MfS bekannten Absichten sog. Beat-Anhänger, am 31.10.1965 in Leipzig einen Protestmarsch gegen das »Verbot der Beat-Musik« durchzuführen (siehe Einzel-Information Nr. 941/65 vom 26.10.1965), waren alle erforderlichen Sicherungsmaßnahmen eingeleitet worden. Dabei wurde in Betracht gezogen, dass sich außer den eigentlichen Initiatoren, die als Ausgangspunkt der entsprechenden Flugblattverbreitung und Flüsterpropaganda anzusehen sind, einige dieser Jugendlichen wurden inzwischen bereits aufgeklärt, auch andere Jugendliche ohne konkrete Kenntnis der provokatorischen Absichten der Rädelsführer, teilweise aus Sympathie, aber auch aus Neugier, anschließen können.
Auf Initiative des MfS wurden deshalb nach Abstimmung mit der Bezirksleitung der Partei entsprechende Einsatzkräfte der VP, der Kampfgruppen und der DHfK-Sportler mobilisiert und bereitgehalten.
Vom MfS wurden die notwendigen Maßnahmen eingeleitet, um die als »Beat-Anhänger« bekannten Personengruppierungen verstärkt unter inoffizieller Kontrolle zu halten mit dem Ziel, ihre Absichten rechtzeitig zu erkennen und mögliche direkte feindliche Einflüsse von vornherein zu unterbinden. Die für den »Protestmarsch« vorgesehenen Örtlichkeiten im Stadtgebiet von Leipzig standen außerdem unter ständiger Kontrolle von Beobachtungsposten, gedeckten Funkwagen usw. des MfS, sodass eine ständige Übersicht über die Absichten und die Entwicklung gewährleistet war.
Die ersten einzelnen und kleineren Gruppen Jugendlicher wurden am 31.10.1965, gegen 7.45 Uhr, in verschiedenen Straßen der Innenstadt Leipzigs festgestellt, ohne dass diese in irgendeiner Form besonders organisiert oder provokatorisch auftraten.
Zu dieser Zeit herrschte in der Leipziger Innenstadt bereits reger Fußgängerverkehr, wie er an Sonn- und Feiertagen dort immer üblich ist. Dabei handelte es sich vor allem um Besucher Leipzigs, u. a. um Ausländer- und Touristengruppen, die die Stadt besichtigten, und zunehmend bereits um erste Gruppen von Besuchern des am gleichen Tage stattfindenden Fußball-Länderspiels DDR–Österreich.
Aus diesem Grund wurden diese kleineren Gruppen, die in keiner Weise aktiv wurden und in offensichtlicher Unklarheit abwarteten, ob etwas und was geschieht, nicht aufgelöst.
Als sie sich gegen 10.40 Uhr in organisierter Form in Stärke von jeweils 150 bis 200 Personen in den Zugangsstraßen zum Wilhelm-Leuschner-Platz verstärkten und auf der Nordseite dieses Platzes konzentrierten, wurden Maßnahmen zur Auflösung dieser Ansammlung eingeleitet. Da diese Ansammlung inzwischen ca. 1 000 Personen erreicht hatte und teilweise die Fahrbahnen einzelner Straßen und die Kreuzung blockierte, wurden die Jugendlichen zunächst durch Lautsprecherwagen der Volkspolizei aufgefordert auseinanderzugehen, weil sie sich gesetzwidrig verhielten und den Straßenverkehr behinderten. Diese Aufforderung wurde vom größten Teil der Jugendlichen jedoch mit Pfiffen, Pfui- und Buhrufen beantwortet.
Daraufhin wurde in Absprache zwischen dem 1. Sekretär der Bezirksleitung,1 dem Leiter der Bezirksverwaltung des MfS2 und dem Chef der Bezirksbehörde der Deutschen Volkspolizei der Einsatz der 21. VP-Bereitschaft angewiesen, die durch Räumketten und unter Anwendung des Schlagstockes die Jugendlichen in die Peterstraße und andere Nebenstraßen abdrängten. Die vollständige Auflösung der Konzentration geschah durch den Einsatz von Wasserwerfern und war nach ca. 20 Minuten vollzogen. Von den Jugendlichen wurde kein tätlicher Widerstand geleistet, sodass es zu keinerlei Verletzungen oder Sachschäden kam. Die anderen in Bereitschaft stehenden Kräfte brauchten nicht eingesetzt werden.
Wie dem MfS offiziell bekannt wurde, beabsichtigte ein Teil der an der Zusammenrottung beteiligten Jugendlichen, die Provokationen vor, während und nach dem Fußball-Länderspiel in und um das Zentralstadion fortzusetzen.3 Durch die Einleitung geeigneter Maßnahmen wurden diese Provokationen verhindert und die Veranstaltung verlief reibungslos.
Gegen 17.15 Uhr kam es vor dem Filmtheater »Capitol« erneut zur Bildung einer Gruppe von 50 Jugendlichen, die in Diskussionen offen ihr Missfallen über die von der VP angewandten Methoden zur Auflösung der Zusammenrottung am Vormittag zum Ausdruck brachten. Diese Gruppe wurde sofort aufgelöst.
Zwischen 19.00 und 20.00 Uhr wurden erneut mit Stempeldruckkasten gefertigte Flugblätter in der Nähe der HO-Gaststätte »Auerbachs Keller« (5), in einer Telefonzelle vor dem Hotel »International« (1), in der Riesaer Straße (5) und in der Grimmaischen Straße (1) gefunden.
Die Flugblätter haben die Größe von 7,5 mal 7,5 cm und trugen den Text: »Für die Jugend Wasserwerfer?? Ausnahmezustand! FDJ (als Unterschrift)«.
Die Flugblätter wurden mit anderen Stempeldruckkästen als die vom 25.10.1965 hergestellt.
Am 1.11.1965, in der Zeit von 0.15 bis 0.45 Uhr, wurden in Leipzig-Lindenau, Demmeringstraße, drei mit Ölfarbe geschmierte Losungen festgestellt. Text der Losungen:
»Nur noch Beat!«, »Gegen Wasserwerfer und Polizei nur noch Streik!« sowie »Nieder mit dem Polizeiterror!«
Die Losungen wurden an eine Schaufensterscheibe, auf die Straße sowie an die Hauswand einer Bibliothek geschmiert. (Maßnahmen zur Ermittlung der Täter wurden eingeleitet.)
Im Zusammenhang mit diesen Provokationen wurden in der Zeit vom 28. bis 31.10.1965 insgesamt 357 Jugendliche durch die VP bzw. durch das MfS vorläufig festgenommen, davon 7 Jugendliche unter 15 Jahren, 143 Jugendliche unter 18 Jahren, 207 Jugendliche über 18 Jahren. Die Jugendlichen unter 15 Jahren werden nach einer gründlichen Aussprache und Verwarnung ihren Eltern übergeben und die Eltern über ihre Aufsichtspflichten belehrt.
Weitere Untersuchungen, insbesondere gegen die Rädelsführer, werden vom MfS geführt. Dabei wird gründlichst beachtet, inwieweit vom Feind versucht wurde und wird, auf die »Beat-Anhänger« und andere jugendliche Gruppierungen Einfluss zu gewinnen und diese gegen die DDR auszunutzen.
Allgemein lässt sich jedoch bereits einschätzen, dass ein großer Teil der an der Zusammenrottung beteiligten Jugendlichen keinerlei direkte provokatorische Absichten verfolgte. Häufig in der Annahme, die gegenwärtige Kampagne gegen die Auswüchse der »Beat-Musik«, gegen die »Gammler« usw. würde sich grundsätzlich gegen diese unter der Jugend sehr beliebte Musikart wenden, waren sie der Flüsterpropaganda gefolgt, da sie »mit einem Verbot der Beat-Musik nicht einverstanden sind«. Im Allgemeinen ist festzustellen, wie auch durch diese Auffassungen bewiesen wird, dass über den wirklichen Sinn dieser Maßnahmen noch keine genügende Klarheit besteht, sondern häufig angenommen wird, die »Beat-Musik«, d. h. auch die von der Mehrheit der Jugend gewünschte kultiviert vorgetragene »Beat-Musik« solle grundsätzlich untersagt werden.
Aus diesen Gründen erscheint es zweckmäßig, stärker diese Differenzierung zwischen kultiviert vorgetragener »Beat-Musik« und den westlich dekadenten Steigerungen, den rowdyhaften Auswüchsen usw. deutlich zu machen, die von der überwiegenden Mehrheit der Jugendlichen selbst abgelehnt werden. An diese Seite könnte in der Aufklärungsarbeit unter den Jugendlichen wesentlich stärker angeknüpft werden, um unter der Jugend selbst die Bewegung zur Isolierung der westlich dekadenten und rowdyhaften Jugendlichen zu verbreitern. Entsprechende Materialien über solche Jugendliche können im Bedarfsfalle vom MfS zur Verfügung gestellt werden.
In diesem Zusammenhang erscheint es vor allem notwendig, die Aufklärung der Jugendlichen über diese Zusammenhänge in den Schulen, Betrieben usw., wo die Jugendlichen konzentriert sind und günstige Einflussmöglichkeiten bestehen, erheblich zu verstärken. Vom MfS wurden alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet, um die weitere Entwicklung westlich-dekadent und rowdyhaft auftretender Jugendlicher unter operativer Kontrolle zu halten und mögliche Versuche des Gegners zur Ausnutzung dieser Personenkreise gegen die DDR im Keime zu ersticken.