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Ursachen und Motive illegalen Verlassens der DDR

2. April 1965
Bericht Nr. 210/65 über festgestellte Ursachen, Bedingungen und Motive des illegalen Verlassens der DDR

In der Zeit vom 13. August 1961 bis 31. Dezember 1964 haben insgesamt 21 488 Bürger der DDR unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen die Republik illegal verlassen.

Von diesen 21 488 Republikfluchten erfolgten:

  • 8 482 (39,5 %) vom 13.8.1961 bis 31.12.1961,

  • 6 069 (28,2 %) im Jahre 1962,

  • 3 605 (16,8 %) im Jahre 1963,

  • 3 332 (15,5 %) im Jahre 1964.

Im gleichen Zeitraum konnten von den Sicherheitsorganen der DDR 16 299 Republikfluchten von Bürgern der DDR verhindert werden. Seit dem 13.8.1961 ist insgesamt ein wesentlicher Rückgang der Republikfluchten zu verzeichnen und es konnte insbesondere seit 1962/63 aufgrund verbesserter Schutz- und Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze der DDR eine ständig zunehmende Anzahl von Republikfluchten verhindert werden.

Eine Übersicht über das Verhältnis der gelungenen zu den verhinderten Republikfluchten in den einzelnen Jahren zeigt seit dem 13.8.1961 folgende Entwicklung:

[Zeitraum]

gelungene Republikfluchten

verhinderte Republikfluchten

13.8.1961–31.12.1961

8 432 = 82 %

1 907 = 18 %

1962

6 069 = 57 %

4 625 = 43 %

1963

3 605 = 44 %

4 682 = 56 %

1964

3 332 = 40 %

5 085 = 60 %

Bei den gelungenen Republikfluchten nach dem 1.1.1962 sind nachträglich folgende Fluchtwege bekannt geworden:

Republikfluchten vom 1.1.1962 bis 31.12.1964 insgesamt: 13 006 [1 968]

davon über Staatsgrenze West

= 5 857

= 45 %

2461

[davon über Staatsgrenze] Westberlin

= 2 695

= 20,7 %

93

[davon über Staatsgrenze] Nord/Küste

= 243

= 1,8 %

13

mit Dokumenten des grenzüberschreitenden Verkehrs (einschließlich Touristen- und Rentnerreisen)

= 1 249

= 9,7 %

1 467

unbekannte Fluchtwege

= 2 962

= 22,8 %

149

Eine Mitwirkung der Schleuserorganisationen2 konnte bei 2–3 % der gelungenen Republikfluchten festgestellt werden. Es ist offensichtlich, dass bei den Republikfluchten der Personen, deren Fluchtwege bisher unbekannt blieben, ebenfalls zu einem bedeutenden Teil Schleuserorganisationen mitwirkten.

Bei den im Zeitraum vom 1.1.1962 bis 31.12.1964 verhinderten 14 392 Republikfluchten waren folgende Fluchtwege geplant:

über Staatsgrenze West und Nord

11 381

= 79,0 %

[über Staatsgrenze] Westberlin

2 323

= 16,2 %

über das sozialistische Ausland

443

= 3,0 %

Sonstige

245

= 1,8 %

In etwa 7–8 % aller Fälle wirkten Schleuserorganisationen und andere Feindzentralen an der Vorbereitung der Republikfluchten mit.

Im Ergebnis der Analysierung der Delikte des Republikverrats muss festgestellt werden, dass die Ursachen, Motive und Beweggründe für diese Handlungen ihre Grundlage in dem sich zwischen beiden gesellschaftlichen Systemen in Deutschland vollziehenden Klassenkampf haben. In dem ökonomischen, politischen und ideologischen Kampf des westdeutschen Imperialismus gegen den umfassenden Aufbau des Sozialismus in der DDR spielt der mit einem ausgeklügelten System konspirativ-technischen und politisch-ideologischen Mitteln und Methoden betriebene Menschenhandel eine wesentliche Rolle. Der westdeutsche Staatsapparat, die Konzerne, Parteien, Organisationen und sonstige Einrichtungen mit ihren Publikationsorganen (Rundfunk, Fernsehen, Presse u. a.), die Geheimdienst- und Untergrundorganisationen versuchen in zunehmendem Maße und auf die verschiedenste und vielfältigste Art und Weise die sozialistische Bewusstseinsbildung der Bürger der DDR entsprechend ihrer Pläne und Absichten zu beeinflussen. Dabei ist die politisch-ideologische Diversion auf die unterschiedliche Bewusstseinsbildung und Denkweise der verschiedenen Gruppen und Schichten der Bevölkerung der DDR abgestimmt und konzentriert sich auf solche Menschen, die aufgrund einer alten und rückständigen oder noch ungefertigten und unreifen Denk- und Lebensweise leichter dem Einfluss der bürgerlichen Ideologie unterliegen.

Wie aus vorliegenden Materialien erarbeitet werden konnte, haben die Sendungen westdeutscher und Westberliner Rundfunk- und Fernsehstationen auf die Entschlussfassung und Durchführung von Republikfluchten einen wesentlichen Einfluss. Dabei ist jedoch zu beachten, dass dieser Einfluss oftmals nicht als die unmittelbare Triebkraft für eine Flucht in Erscheinung tritt bzw. als solche nicht erkannt wird. Diese Tatsache ist darauf zurückzuführen, dass eine derartige Beeinflussung in der Regel über einen sehr langen Zeitraum erfolgt und immer kombiniert und verflochten mit einer Vielzahl anderer Bedingungen, Faktoren und Anlässen wirksam wird. (Etwa 90 % der Grenzverletzer haben mehr oder weniger regelmäßig die Sendungen des Westrundfunks bzw. -fernsehens verfolgt.)

Eine weitere äußerst wirksame Form der politisch-ideologischen Beeinflussung ist die von der Bonner Regierung betriebene und geförderte Kontaktpolitik. Sie konzentriert sich auf die Erweiterung und Intensivierung aller sog. unpolitischen, humanitären und menschlichen Kontakte, vor allem auf dem Gebiet der Wissenschaft, Kultur usw. Dabei geht es um die Ausnutzung solcher Kontakte zur

  • Verbreitung und Propagierung demagogischer Bonner Vorschläge, wie beispielsweise für die »Freiheit des Reiseverkehrs«,

  • Verschleierung der aggressiven Bonner Politik und

  • ideologischen Beeinflussung von Bürgern der DDR mit dem Ziel der Abwerbung.

Neben dieser Kontaktpolitik, die insbesondere solche Personenkreise wie Wissenschaftler, Ärzte, Ingenieure, Techniker und Kulturschaffende betrifft, spielen, wie die durchgeführten Untersuchungen ergaben, die persönlichen Kontakte von Bürgern der DDR zu westdeutschen und Westberliner Bürgern eine bestimmte Rolle. Derartige Kontakte in Form von Besuchen westdeutscher bzw. Westberliner Bürger bei Verwandten und Bekannten in der DDR und Berlin (Passierscheinabkommen)3 sowie des Brief- und Paketverkehrs mit Westdeutschen und Westberlinern haben bei etwa 40 % der Grenzverletzer zur Entschlussfassung für eine Republikflucht mit beigetragen. Eine besondere Wirksamkeit haben dabei die Rückverbindungen4 republikflüchtiger DDR-Bürger, die auf dem Postwege Verwandte, Bekannte, Arbeitskollegen usw. über die gelungene Republikflucht informieren und ihnen zum Teil konkrete Hinweise über Flucht- und Schleusungsmöglickeiten geben und vor allem ihre Lebensverhältnisse im Westen verherrlichen. So konnte festgestellt werden, dass Republikfluchten bzw. Schleusungen einzelner DDR-Bürger ganze Kettenreaktionen weiterer Fluchten bzw. Fluchtvorbereitungen aus ihrem Verwandten-, Bekannten- oder Arbeitskreis hervorriefen. In diesen Fällen spielte insbesondere das persönliche Verhältnis zu den Geflüchteten hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft der über die westlichen Verhältnisse gemachten Mitteilungen eine große Rolle. Diese Tatsache wird deshalb von der Feindpropaganda und ebenfalls von den Menschenhändlerorganisationen in zunehmendem Maße ausgenutzt, um Bürgern der DDR am Beispiel der Geflüchteten oder ausgeschleusten »sichere« Fluchtmöglichkeiten und eine gesicherte Existenz in Westdeutschland anzubieten.

Die geführten Untersuchungen haben ergeben, dass sich die Mehrzahl aller Grenzverletzer erst in dem Moment zur Durchführung einer Republikflucht entschlossen hat, als sich eine »sichere« Möglichkeit für den illegalen Grenzübertritt bot. D. h., erst das Vorhandensein oder Anbieten bzw. Inaussichtstellen einer (oft nur in den subjektiven Vorstellungen des Betreffenden) »sicheren« Fluchtmöglichkeit führt in der Regel zur Realisierung vorhandener Gedanken und Absichten für ein illegales Verlassen der DDR. Wird diese Möglichkeit nicht geboten oder gefunden, bleiben die Menschen in der DDR bzw. warten teilweise auf spätere Möglichkeiten. Es konnte festgestellt werden, dass zumeist nur sehr junge oder geistig primitive Menschen ohne besondere Vorbereitungen und Überlegungen die Staatsgrenze zu durchbrechen versuchen. Aus diesem Grunde wird vom Gegner die ideologische Beeinflussung der DDR-Bürger raffiniert mit Hinweisen auf Möglichkeiten des illegalen Verlassens der DDR kombiniert.

Typische Beispiele dafür sind Sendungen und Interviews westlicher Rundfunksender mit republikflüchtigen DDR-Bürgern. Dabei werden neben der üblichen Hetze gegen die DDR die Verhältnisse in Westdeutschland verherrlicht (Schilderung von Arbeits-, Verdienst- und Bildungsmöglichkeiten für Republikflüchtige in Westdeutschland) und in mehr oder weniger versteckter Form Fluchtwege und Fluchtmöglichkeiten betrieben. So ist in mehreren Sendungen des Westrundfunks, insbesondere des RIAS, im Oktober und November 1964 über Republikfluchten von DDR-Bürgern unter Ausnutzung von Touristenreisen ausführlich berichtet worden. Es erfolgten dabei unter anderem Schilderungen über gelungene Fluchtunternehmen bei Fahrten der Urlauberschiffe »Völkerfreundschaft« und »Fritz Heckert«, wobei solche Details, wie Zeitpunkt und Dauer der Fahrt durch den Bosporus, Entfernung zwischen Schiff und Ufer, Wassertemperatur, Richtung und Stärke der Strömung, günstigste Absprungmöglichkeiten vom Schiff, Fluchthilfe durch türkische Motorbote usw. ausführlich beschrieben wurden.5

Außerdem wurden von den Zentren und Vertretern der politisch-ideologischen Diversion direkte Kontakte zu imperialistischen Geheimdiensten und Menschenhändlerorganisationen unterhalten, um den ihrer Beeinflussung unterlegenen DDR-Bürgern Flucht- und Schleusungsmöglichkeiten zu verschaffen. In vom MfS durchgeführten Ermittlungsverfahren sind Beweise dafür erarbeitet worden, dass Verbindungen zwischen verschiedenen Menschenhändlergruppen und Vertretern der Ultrapolitik in führenden politischen und staatlichen Funktionen (z. B. Barzel6, Lemmer7, Krone8) und anderen Anhängern der Ultras in westdeutschen und Westberliner Dienststellen, Presseorganen und Parteien bestehen. Ein Beispiel dafür ist die von Westberliner CDU-Kreisen und der Illustrierten »Stern« finanzierte und organisierte Tunnelprovokation vom 5.10.1964, bei der der Unteroffizier Genosse Schultz9 von Westberliner Banditen ermordet und 57 DDR-Bürger nach Westberlin geschleust wurden. Leiter dieser Aktion war das Vorstandsmitglied des Landesverbandes der Westberliner CDU Egon Hartung10, der nach vorliegenden Aussagen inhaftierter Schleuser persönliche Beziehungen zu Bonner Regierungsstellen unterhält. Diese Tatsachen zeigen, dass der Menschenhandel von den Ultras in Westdeutschland und Westberlin als ein Instrument der Durchsetzung ihrer entspannungsfeindlichen Pläne und insbesondere als ein Mittel des Drucks auf alle realistisch denkenden Kräfte ausgenutzt wird.

Von der Westberliner CDU wird eine parteieigene Schleuserorganisation unterhalten, die selbst oder in Zusammenarbeit mit anderen Menschenhändlergruppen DDR-Bürger nach Westberlin verschleppt. Es handelt sich dabei um die Gruppe Hartung-Klöckting11, die ihren Sitz in der Bildungsstätte der Westberliner CDU »Robert-Tillmann-Haus« in Berlin-Nikolassee12 hat und von dem ehemaligen Vorsitzenden des CDU-Kreisverbandes Berlin-Mitte und jetzigem Mitglied des Landesverbandes der CDU Westberlin Egon Hartung geleitet wird. Aufgabe dieser Gruppe ist es, den Kontakt zu den in der Hauptstadt der DDR wohnenden ehemaligen Mitgliedern der West-CDU aufrechtzuerhalten und diese bei persönlichen Besuchen durch Gespräche und Geschenksendungen dahingehend zu beeinflussen, die DDR illegal zu verlassen. In der Mehrzahl der dem MfS bekannt gewordenen Fälle wurden diese Bürger unter Druck gesetzt, indem man ihnen mitteilte, sie seien »politisch gefährdet und müssten aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit mit einer Festnahme durch die Staatssicherheitsorgane rechnen«. Mit ähnlichen Druckmitteln und »Argumenten« sind auch in der Hauptstadt der DDR wohnende ehemalige SPD-Mitglieder13 von Beauftragten Westberliner SPD-Kreise zur Republikflucht veranlasst worden.

Von westdeutschen und Westberliner Konzernen und Unternehmen werden gleichfalls mit den verschiedensten Mitteln und Methoden Versuche unternommen, bestimmte Fachkräfte und Spezialisten aus der DDR abzuwerben. Dabei werden hauptsächlich die Verbindungen und Kontakte zu Handelsorganen und Betrieben in der DDR dazu ausgenutzt, um Personen festzustellen, die sich mit Fluchtabsichten tragen oder »unzufrieden« sind. Im Verfahren gegen den Abteilungsleiter am Institut für Textiltechnologie der Chemiefasern Rudolstadt, [Name 1], wurde bekannt, dass die Badischen Anilin- und Sodawerke und weitere Wirtschaftsunternehmen durch Verschicken von Prospekten und Stellenangeboten ihn und andere Ingenieure für die Aufnahme einer Tätigkeit in ihren Betrieben zu interessieren versuchten.

Der beim Versuch der Republikflucht festgenommene Oberapotheker der Hautklinik der Charité [Name 2] ist von einem leitenden Mitarbeiter der Arzneimittelfabrik Ackermann in Westberlin wiederholt zum illegalen Verlassen der DDR aufgefordert worden, wobei ihm eine hochbezahlte Stellung im genannten Betrieb zugesichert wurde.

Dem Abteilungsleiter im Zentralinstitut für Kernphysik Rossendorf Dipl.-Ing. [Name 3] sollten über seine in Westdeutschland lebenden Verwandten vom sog. Ministerium für gesamtdeutsche Fragen gefälschte Pässe für eine Republikflucht zur Verfügung gestellt werden, wenn er sich bereit erklärt, in einem westdeutschen Kernforschungszentrum zu arbeiten.

In vielen Fällen wurden von republikflüchtigen DDR-Bürgern und westdeutschen Bürgern Ausschnitte mit Stellenangeboten aus westdeutschen Zeitungen an ihre in der DDR wohnenden Verwandten, Bekannten und ehemaligen Arbeitskollegen geschickt, um diese über die angeblich besseren Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten in Westdeutschland zu informieren. Derartige Mitteilungen gaben in einer Reihe von Fällen den Anlass für die Vorbereitung bzw. Durchführung einer Republikflucht.

Ehemalige Grenzgänger, die beim Versuch der Republikflucht festgenommen wurden, gaben als Motiv ihrer Handlungsweise an, dass sie dem von Westberlin ausgehenden Einfluss ihrer ehemaligen Betriebe, wie Siemens, AEG u. a., unterlagen.

Diese Einflussnahme erfolgte teilweise durch die Übersendung von Päckchen mit Lebens- und Genussmitteln sowie durch die Zusicherung, dass ihnen die alten Arbeitsplätze jederzeit zur Verfügung stehen. Nicht selten wird von älteren Personen angegeben, dass ihnen aufgrund einer früheren Tätigkeit in einem in Westdeutschland bzw. Westberlin befindlichen Betrieb im Westen eine höhere Rente als in der DDR zusteht.

Im Ergebnis von Ermittlungsverfahren konnte festgestellt werden, dass die imperialistischen Geheimdienste seit mehreren Jahren ihre im Gebiet der DDR tätigen Agenten beauftragten, sog. potenzielle Flüchtlinge aufzuklären und sofort zu melden. Wie aus sichergestellten schriftlichen Anweisungen des Bundesnachrichtendienstes und des amerikanischen Geheimdienstes hervorgeht, interessieren sich diese Dienststellen vor allem für Geheimnisträger, Fachkräfte und Spezialisten, Angehörige der technischen und medizinischen Intelligenz, die aus verschiedenen Gründen die Absicht haben, die DDR illegal zu verlassen. Gleichzeitig wird von den Geheimdiensten versucht, über für sie interessante DDR-Bürger kompromittierende Materialien zu beschaffen. Unter Ausnutzung dieses Materials und durch Anbieten hochbezahlter Stellungen in der Wirtschaft, Wissenschaft und Forschung Westdeutschlands oder anderer kapitalistischer Staaten werden diese Personen veranlasst, die DDR illegal zu verlassen. So wurde der im April 1964 vom amerikanischen Geheimdienst ausgeschleuste Professor der Geschichte der Medizin an der Karl-Marx-Universität Leipzig Wilhelm Katner14 nach seiner Entbindung als Hochschullehrer systematisch vom amerikanischen Geheimdienst unter Druck gesetzt und zum Republikverrat veranlasst.

Zur Schaffung von Möglichkeiten zur Ausschleusung sie interessierender DDR-Bürger organisieren die Geheimdienste eine umfassende Aufklärung der Staatsgrenze der DDR und vor allem der Kontrollsysteme an den Grenzübergangsstellen. Mehrere festgenommene Agenten hatten Aufträge, bei der Ein- und Ausreise über die KPP ständig auf eventuelle Veränderungen im Kontroll- und Sicherungssystem zu achten. Andere Agenten und Verbindungsleute waren mit der Auskundschaftung von Schleusungsmöglichkeiten über das sozialistische Ausland beauftragt. Zum Zwecke der Ausschleusung von DDR-Bürgern besteht eine enge Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten und den verschiedenen Menschenhändlergruppen, die sie teilweise anleiten, kontrollieren und mit den notwendigen technischen und nachrichtendienstlichen Hilfsmitteln versorgen.

Der Anteil der einzelnen Alters- und Berufsgruppen an Grenzdelikten ist unterschiedlich und lässt bestimmte Rückschlüsse hinsichtlich der Ursachen, Motive und Begehungsformen dieser Handlungen zu. Eine Gegenüberstellung des Anteils der Alters- und Berufsgruppen bei gelungenen und verhinderten Republikfluchten zeigt folgendes Bild:

[Alter]

durchgeführte Republikfluchten

verhinderte Republikfluchten

unter 18 Jahre

14 %

35 %

18 bis 25

62 %

47 %

über 25

24 %

18 %

[Berufsgruppe]

durchgeführte Republikfluchten

verhinderte Republikfluchten

Arbeiter

44 %

53 %

Techn. und kaufm. Angestellte

24 %

3,5 %

Landwirtschaftliche Berufe

5 %

3,0 %

Intelligenz

3 %

0,5 %

Schüler/Studenten

8 %

17 %

Handwerker/Gewerbetreibende

2 %

0,5 %

Rentner/Hausfrauen/Sonstige

14 %

22,5 %

Es ist zu erkennen, dass der Anteil solcher Personengruppen, wie technische und kaufmännische Angestellte, Intelligenz, Handwerker und Gewerbetreibende, bei den gelungenen Republikfluchten höher ist, als bei den verhinderten. Ein umgekehrtes Verhältnis besteht bei den Kategorien Arbeiter, Schüler und Studenten sowie Rentner und Hausfrauen.

Damit wird die Feststellung bestätigt, dass der Menschenhandel in erster Linie auf die Abwerbung solcher Personenkreise (Angehörige der technischen und medizinischen Intelligenz, Wissenschaftler, Fachkräfte und Spezialisten) gerichtet ist, deren Flucht für die DDR einen ökonomischen oder politisch-moralischen Schaden bedeutet. Ein weiterer Beweis dafür ist die Tatsache, dass der Anteil dieser Personengruppen an organisierten Schleusungen relativ hoch ist.

Im Jahre 1963 konnten von 4 682 verhinderten Republikfluchten 8,5 % von Westberliner Menschenhändlerorganisationen vorbereitete und organisierte Schleusungsversuche festgestellt werden. Der prozentuale Anteil der einzelnen Bevölkerungsgruppen an diesen Schleusungsversuchen war wie folgt:

Arbeiter

18 %

gegenüber 48 % Gesamtanteil an Grenzdelikten

Technische und kaufmännische Angestellte

42 %

[gegenüber] 10 %

Intelligenz

10 %

[gegenüber] 3 %

Schüler/Studenten

6 %

[gegenüber] 15 %

Sonstige einschl. Rentner und Hausfrauen

23 %

[gegenüber] 21 %

Landwirtschaftliche Berufe

1 %

[gegenüber] 3 %

Die durchgeführten Untersuchungen haben ergeben, dass vom Gegner in erster Linie nur solche DDR-Bürger ausgeschleust werden, die

  • aufgrund ihrer beruflichen oder gesellschaftlichen Stellung für ihn interessant sind,

  • über die entsprechenden verwandtschaftlichen oder anderweitigen Beziehungen in Westdeutschland oder Westberlin verfügen,

  • entweder selbst oder aufgrund verwandtschaftlicher oder anderweitiger Verbindungen im Westen in der Lage sind, ihre Ausschleusung zu bezahlen.

Das trifft in der Regel auf die bereits genannten Personenkreise zu. Demgegenüber versuchte der übrige Teil der gestellten Grenzverletzer (Arbeiter, Jugendliche und Sonstige) mehr oder weniger überlegt und organisiert die Staatsgrenze der DDR nach Westdeutschland bzw. Westberlin zu durchbrechen. Sie stellten demzufolge auch den Hauptanteil der verhinderten Republikfluchten.

Besonders hoch ist der Anteil der medizinischen Intelligenz und Angehöriger medizinischer Berufe an gelungenen Schleusungsaktionen. So sind von den im 1. Halbjahr 1964 nachträglich bekannt gewordenen 82 Schleusungen von DDR-Bürgern allein 37 (45 %) Angehörige medizinischer Berufe mit ihren Familienmitgliedern. Der Anteil Angehöriger medizinischer Berufe an im 1. Halbjahr 1964 verhinderten Schleusungsaktionen beträgt 8 %.

Die Analysierung der Motive und Beweggründe für ein illegales Verlassen der DDR bei Angehörigen der Intelligenz ergab folgende Faktoren, die im Wesentlichen zur Entschlussfassung für eine Flucht beitrugen:

  • a)

    Starker Einfluss der bürgerlichen Ideologie, der politisch-ideologischen Diversion. In allen überprüften Fällen haben die Betreffenden ständig westliche Rundfunk- und Fernsehsendungen verfolgt. Die Mehrzahl der Täter hatte enge Verbindungen zu Verwandten und Bekannten in Westdeutschland bzw. Westberlin. In einer Reihe von Fällen bestanden briefliche Verbindungen zu republikflüchtigen ehemaligen Arbeitskollegen oder Bekannten, die nach ihrer Republikflucht in Westdeutschland hochbezahlte Arbeitsstellen und anderweitige materielle und soziale Vergünstigungen erhielten und ihrem (in der Regel sehr umfangreichen) Bekanntenkreis in der DDR darüber berichteten.

  • b)

    Infolge bürgerlicher bzw. kleinbürgerlicher Erziehung im Elternhaus, in der Schule und Universität (insbesondere bei älteren Personen) sowie derartiger Einflüsse im Umgangs- und Arbeitskreis wurde in der Mehrzahl der Fälle die politisch-ideologische Diversion wirksam. Die Folge davon war:

    • Unverständnis gegenüber Maßnahmen und Beschlüssen der Partei und Regierung (insbesondere der Schutz- und Sicherungsmaßnahmen vom 13.8.1961),

    • sog. gesamtdeutsches Denken – Nichtanerkennung von zwei deutschen Staaten,

    • wachsende Zweifel an der Richtigkeit der Politik der DDR,

    • Objektivismus – beide Seiten hören, um Vergleiche zwischen den Verhältnissen in der DDR und den in Westdeutschland ziehen zu können. Dabei spielen folgende Probleme eine besondere Rolle: Reiseverkehr zwischen beiden deutschen Staaten, Reisen in das kapitalistische Ausland (Italien, Spanien, Schweiz usw.), größere Kaufkraft in Westdeutschland, größerer Luxus, besseres Leben.

      So erklärte z. B. ein Diplom-Ingenieur: »… Obwohl ich in der DDR ein materiell sorgenfreies Leben führen konnte, glaubte ich, dass es mir in Westdeutschland noch besser gehen würde und ich mir alle Annehmlichkeiten des Lebens leisten könne …« Ein Arzt sagte aus: »… mir gefällt vor allem, dass es zwischen den kapitalistischen westeuropäischen Ländern keine Reisebeschränkungen gibt …«

      Ein anderer Arzt erklärte im Zusammenhang damit, dass er beide Seiten hören müsste, um sich ein »objektives« Bild von der politischen Lage zu machen, unter anderem Folgendes: »… Im Fernsehen sah ich mir sowohl die ›Tages‹-15 und ›Abendschau‹16 als auch die ›Aktuelle Kamera‹17 an und betrachtete mir die Sendung ›Der schwarze Kanal‹18 ebenso wie den ›Internationalen Frühschoppen‹19 …«

  • c)

    Von Angehörigen der technischen Intelligenz wurden u. a. als Fluchtmotive solche »Argumente«, wie

    • berufliche Schwierigkeiten, Auseinandersetzungen im Betrieb, keine berufliche Perspektive in der DDR (z. B. ein Aerodynamiker wollte nach Westdeutschland, weil er nach Einstellung des Flugzeugbaus in der DDR nicht mehr seinen Spezialberuf ausüben konnte),20

    • Behinderung der wissenschaftlichen Arbeit durch bürokratische Maßnahmen, Materialschwierigkeiten, unzureichende technische Voraussetzungen usw.,

    • Beschränkung des Reiseverkehrs nach Westdeutschland, Westberlin und in das kapitalistische Ausland zum Zwecke des wissenschaftlichen Erfahrungsaustausches und Informierung über den dortigen wissenschaftlich-technischen Fortschritt,

    • großzügigere Arbeits- und Entwicklungsmöglichkeiten in der westdeutschen Industrie, Wissenschaft und Forschung usw.

    angegeben.

Eine relativ große Anzahl von DDR-Bürgern versucht, sich durch eine Republikflucht der Verantwortung für begangene Straftaten zu entziehen. Nach vorliegenden Unterlagen haben sich in der Zeit vom 1.1.1963 bis 30.6.1964 15,6 % aller wegen versuchter Republikflucht angefallener Personen einer strafrechtlichen Verantwortung entziehen wollen. Dabei handelt es sich um Personen,

  • die gerichtlich verurteilt waren und eine Freiheitsstrafe antreten sollten (125 Personen),

  • gegen die Ermittlungsverfahren eingeleitet waren (295 Personen),

  • die strafbare Handlungen begangen hatten und eine Entdeckung und Bestrafung fürchteten (640 Personen).

Wegen Staatsverbrechen vorbestrafte Personen geben wiederholt als Fluchtgrund an, dass sie in Westdeutschland für ihre Haftzeit in der DDR eine finanzielle »Haftentschädigung« zu erwarten haben.

Bei Rückkehrern21 und Erstzuziehenden,22 die die DDR illegal zu verlassen versuchten, ergab die Analysierung der Motive ihrer Handlungsweise, dass diese zum überwiegenden Teil ideologischer Art sind. Es handelt sich bei diesem Personenkreis meist um junge Menschen unter 25 Jahren, die zum Teil vorbestraft und aus gewisser Abenteuerlust mit völlig falschen Vorstellungen über die gesellschaftlichen Verhältnisse in die DDR übergesiedelt sind. Aufgrund der jahrelang auf sie wirkenden antikommunistischen Einflüsse in Westdeutschland und Westberlin sehen sie sich nach ihrer Übersiedlung in die DDR mit Problemen konfrontiert, die zu lösen sie von selbst nicht imstande sind. Vielfach erfolgt die Übersiedlung auch ohne Wissen der nächsten Angehörigen, die ihrerseits anschließend durch Briefe und persönliche Zusammenkünfte diese jungen Menschen beeinflussen, wieder nach Westdeutschland oder Westberlin zurückzukehren. Aufgrund ihres Bewusstseinsstandes finden die Erstzuziehenden oft nicht den notwendigen Kontakt und es war auch zu verzeichnen, dass von den gesellschaftlichen Organen in der DDR diesen Menschen nicht immer die erforderliche Unterstützung bei der Eingliederung in die Gesellschaft gegeben wurde. In einer Reihe von Fällen sind von diesem Personenkreis gestellte Anträge auf legale Rückführung nach Westdeutschland von den zuständigen DDR-Dienststellen auf bürokratische Weise abgelehnt worden, was bei diesen Personen den Entschluss bewirkte, zu versuchen, illegal die Staatsgrenze zu überschreiten. In einem vorliegenden Fall wurde ein Erstzuziehender wiederholt von seiner in Westdeutschland wohnenden Mutter zur Rückkehr aufgefordert. Sie besuchte ihn in der DDR, um ihn zu diesem Schritt zu bewegen. Der von dem Erstzuziehenden beim zuständigen Rat des Kreises gestellte Antrag auf Rückführung wurde ohne nähere Erklärung abgelehnt. Daraufhin beauftragte die Mutter des Betreffenden einen westdeutschen Bekannten, zu ihrem Sohn zu reisen und diesem seinen westdeutschen Personalausweis und die dazugehörenden Einreiseunterlagen zu überlassen, um ihm damit die Möglichkeit des illegalen Verlassens der DDR zu verschaffen. Wie in verschiedenen Fällen festgestellt werden konnte, haben Erstzuziehende, die aus den genannten Gründen wieder nach Westdeutschland zurückwollten, ihren bekannten DDR-Bürger dahingehend beeinflusst, mit ihnen gemeinsam die DDR illegal zu verlassen.

Bei neuzuziehenden Ehepaaren trat in Erscheinung, dass oftmals einer der Ehepartner falsche Vorstellungen von den Verhältnissen in der DDR hatte, was dazu führte, dass Anträge auf Rücksiedlung gestellt wurden, die meist erfolglos blieben. Bei der Mehrzahl der Rückkehrer und Zuwanderer spielen enge verwandtschaftliche oder freundschaftliche Verbindungen in die Westzone, über die nach der Übersiedlung in die DDR weiterhin eine Beeinflussung erfolgt, eine Rolle. Ein anderer Faktor, der in Erscheinung trat, war Unzufriedenheit mit den beschränkten Reisemöglichkeiten, die für den Besuch der nächsten Angehörigen in Westdeutschland bzw. Westberlin bestehen.

Eine Mehrzahl von Personen hatte in der Westzone zeitweilig gut bezahlte Stellungen inne, während sie zum Teil nach ihrer Rückkehr bzw. Zuwanderung eine Arbeit zugewiesen bekamen, die nicht ihren Vorstellungen entsprach.

Bei einer Reihe von Rückkehrern gab es Unzufriedenheit in Bezug auf die Gewährung von Wohnraum, da ihnen zum Teil Versprechungen bei der Rückkehr gemacht worden waren (bzw. Zusicherungen, dass man ihre Wünsche weitestgehend berücksichtigen wird), die nicht oder nur teilweise eingehalten wurden.

Etwa 80 % aller Grenzverletzer sind Personen im Alter unter 25 Jahren (25 % im Alter zwischen 14 und 18 Jahren). Die Hauptursache für Republikfluchten und Grenzdurchbrüche von Jugendlichen sind die verschiedenen Formen der politisch-ideologischen Diversion, die infolge teilweise ungenügender positiver Einflüsse durch Elternhaus, Schule, gesellschaftliche und staatliche Organe eine bestimmte Wirkung erzielt.

Für die Art und Weise des westlichen Einflusses und für die unter bestimmten Kreisen von Jugendlichen vorhandene Bereitschaft zum illegalen Verlassen der Republik sind nach der Einleitung der Sicherungsmaßnahmen vom 13.8.1961 besonders folgende Erscheinungen typisch:

  • Verstärkter Empfang westlicher Rundfunk- und Fernsehsendungen, wobei das Hauptinteresse an Musik-, Kriminal- und Sportsendungen besteht (politische Sendungen bei einem geringeren Teil Jugendlicher),

  • Verwandten- und Bekanntenbesuche aus Westdeutschland bzw. Westberlin (Passierscheinabkommen),

  • Briefverbindungen zu Verwandten und Bekannten in Westdeutschland, Westberlin oder anderen kapitalistischen Staaten (Geschenkpakete spielen dabei eine wesentliche Rolle),

  • Briefwechsel mit republikflüchtigen Familienangehörigen, Freunden, ehemaligen Arbeitskollegen usw.,

  • Beeinflussung durch kirchlich gebundene Personen (Religionsgemeinschaften, z. B. »Junge Gemeinde«, Studentengemeinde u. a.),

  • bei der Mehrzahl der Jugendlichen mangelndes politisches Urteilsvermögen, ideologische Unklarheiten (z. B. Nichtverstehen der Sicherungsmaßnahmen an der Staatsgrenze),

  • der Hang, etwas Abenteuerliches, Gefährliches und Verbotenes zu unternehmen, etwas »zu erleben«.

In vielen Fällen waren die Eltern selbst am Empfang westlicher Rundfunk- und Fernsehsendungen interessiert und gaben damit negative Beispiele für ihre Kinder. Das gleiche trifft auch auf die von den Eltern und anderen Familienmitgliedern unterhaltenen Westverbindungen zu (Briefe, Pakete), wobei in der Regel die Verhältnisse im Westen verherrlicht werden. Häufig nehmen die Eltern und Erziehungsberechtigten selbst am politischen Leben keinen Anteil und halten demzufolge auch ihre Kinder nicht zur gesellschaftlichen Mitarbeit an. Verbindungen zur Schule oder den Lehrbetrieben bestanden in diesen Fällen ebenfalls nicht. In einer Vielzahl von Fällen konnte festgestellt werden, dass aus den verschiedensten Gründen (Uninteressiertheit, nebenberufliche Beschäftigungen usw.) der Zeitaufwand für die Erziehung der Kinder zu gering ist. Das trifft ebenfalls für solche Jugendliche zu, deren Eltern mit gesellschaftlichen und beruflichen Funktionen und Beschäftigungen überlastet sind.

Ungeordnete und zerrüttete Familien- und Eheverhältnisse (das Fehlen eines Elternteils usw.) beeinflussen im wesentlichen Maße die charakterliche und politische Entwicklung der Jugendlichen im negativen Sinne. Eine Befragung von 100 aus Westdeutschland zurückgekehrten DDR-Bürgern (davon 79 % Jugendliche) ergab, dass 38 % vor ihrer Republikflucht in ungeordneten Familienverhältnissen gelebt haben.

Eine nicht unbedeutende Rolle spielt bei der Republikflucht von Jugendlichen die Angst vor einer Strafe, z. B. wegen schlechter Schulzeugnisse, Schul- und Arbeitsbummelei oder anderer Handlungen. Allein im Jahre 1964 versuchten 103 Jugendliche (das sind 2 % aller in diesem Zeitraum versuchten Republikfluchten) aus Angst vor einer Einweisung in einen Jugendwerkhof23 bzw. nach kurzem Aufenthalt in einem Jugendwerkhof, illegal die DDR zu verlassen.

Der in den Schulen und Berufsschulen gebotene Lehrstoff (vor allem in Geschichte und Staatsbürgerkunde) hat – begünstigt durch mangelndes Interesse an diesen Problemen und ungenügend überzeugende Darlegung des Stoffes durch die Lehrkräfte – in einer Reihe von Fällen keine erzieherische Wirkung auf die Jugendlichen gehabt. Die mangelnde Klärung von Widersprüchen und Unklarheiten und das Fehlen von offenen Auseinandersetzungen sowie die leichtfertige Verurteilung falsche Auffassungen vertretender Jugendlicher führten in verschiedenen Fällen zu einer voreingenommenen Haltung gegen die Lehrkräfte, die Schule und den gebotenen Lehrstoff.

Vonseiten der Eltern und auch der Lehrkräfte wurde oftmals einer vorzeitigen Schulentlassung zugestimmt, so z. B. wenn der Jugendliche kein Interesse hatte, bis zur 10. Klasse die Schule zu besuchen oder bei leistungsschwachen Schülern, die dann in den meisten Fällen keinen Beruf erlernten. Eine nicht abgeschlossene Schulausbildung begünstigt in der Regel das Einwirken negativer Einflüsse. Diese Tatsache kommt darin zum Ausdruck, dass ein relativ hoher Prozentsatz republikflüchtiger Jugendlicher das Schulziel der 8. Klasse nicht erreichte bzw. die 9. und 10. Klasse der Erweiterten Oberschule nicht besuchte. Eine Überprüfung von 600 aus Westdeutschland zurückgekehrten DDR-Bürgern ergab, dass 32 % das Schulziel der 8. Klasse nicht erreicht hatten.24

Ein weiterer begünstigender Faktor für Herausbildung negativer Verhaltensweisen ist die widersprüchliche Erziehung im Elternhaus sowie in Schule und Jugendorganisation. In einigen Fällen wurde festgestellt, dass sich der erzieherische Einfluss in der Lehrausbildung und auf den Arbeitsstellen fast nur auf die fachliche Ausbildung beschränkt. Eine politisch-ideologische Erziehungsarbeit wurde oft nur in geringem Umfange geleistet bzw. trat völlig in den Hintergrund. In einer Reihe von Fällen wurden Jugendliche mit Bildungs- und Erziehungsschwierigkeiten in Arbeitsstellen vermittelt, die wenig geistige und fachliche Kenntnisse erforderten und in denen sich strafrechtlich anfällige und negative Elemente konzentrieren (Bauwesen, Landwirtschaft) wie Vorbestrafte, Rückkehrer, Erstzuziehende usw. Dort sind die Jugendlichen im besonderen Maße negativen Einflüssen ausgesetzt. So konnte im Ergebnis einer Befragung von 100 Rückkehrern festgestellt werden, dass 41 % aller Personen im Alter bis zu 25 Jahren keinen erlernten Beruf haben. Von diesen 41 % war zum Zeitpunkt ihrer Republikflucht ein Drittel Gelegenheitsarbeiter mit häufig wechselnden Arbeitsstellen und der übrige Teil, bis auf einige Ausnahmen, im Bauwesen, in der Privatindustrie, in der Landwirtschaft und in Produktionsgenossenschaften des Handwerks tätig gewesen.

In Ermittlungsverfahren, in denen Jugendliche aus sozialistischen Landwirtschaftsbetrieben wegen versuchter Republikflucht bearbeitet wurden, konnten neben den bereits aufgeführten Faktoren folgende begünstigende Bedingungen für eine Entschlussfassung zum illegalen Verlassen der DDR erarbeitet werden:

  • unzureichende Arbeitsbedingungen, keine geregelte Arbeitszeit,

  • nichterfüllte Versprechungen durch Vertreter der örtlichen Staatsorgane hinsichtlich beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten, kultureller Betreuung, Freizeitgestaltung usw.,

  • persönliche Auseinandersetzungen mit LPG-Vorsitzenden, Brigadieren, Betriebsleitern u. a. und daraus resultierende Verärgerungen.

Etwa 5 % bei versuchter Republikflucht gestellte Jugendliche geben an, dass sie sich der Ableistung der Wehrpflicht25 entziehen wollten. Sie beabsichtigten, sich entweder den mit dem Wehrdienst verbundenen Einschränkungen zu entziehen oder glaubten den feindlichen Argumenten, dass sie in Westdeutschland nicht zur Bundeswehr eingezogen werden.

In 126 von den Organen des MfS bearbeiteten Untersuchungsvorgängen wird von den Beschuldigten als Fluchtmotiv der Wunsch nach Aufnahme eines Studiums in Westdeutschland oder Westberlin angegeben. Zum überwiegenden Teil versuchen diese Personen ihre Handlungsweise damit zu begründen, dass eine nicht richtige Einstufung durch die Immatrikulationskommission an den Universitäten zur Entschlussfassung beigetragen habe. In dieser Hinsicht vorgenommene Überprüfungen ergaben, dass die entsprechend den ökonomischen Erfordernissen in der DDR sich notwendig machenden Umstufungen der Bewerber in andere Fachrichtungen von den Aufnahmekommissionen oft sehr formal und wenig überzeugend begründet werden. In der Hoffnung, in Westdeutschland oder Westberlin einen ihren Wünschen entsprechenden Studienplatz zu erhalten, versuchte daraufhin eine Reihe junger Menschen die Republik zu verlassen. Vielfach wirkten bei dieser Entschlussfassung noch Verwandte oder Bekannte im Westen mit, indem sie Hilfe bei der Suche nach einem geeigneten Studienplatz sowie eine finanzielle Unterstützung zusicherten.

Bei einer Anzahl ehemaliger Grenzgängerstudenten, die bei Schleusungs- und Republikfluchtversuchen festgenommen wurden, handelt es sich zumeist um Personen, die aufgrund ihrer langjährigen Ausbildung an Westberliner Universitäten der sozialistischen Entwicklung der DDR ablehnend und zum Teil feindlich gegenüberstehen. Da diese Studenten nach dem 13.8.1961 an den Universitäten der DDR nicht immatrikuliert und zunächst in die Produktion eingegliedert wurden, tritt bei ihnen hauptsächlich als Motiv ihrer Handlungsweise der Wunsch nach Fortsetzung ihres Studiums in Westberlin in Erscheinung.

Charakteristisch ist bei Jugendlichen, dass die Vorbereitung und Durchführung von Republikfluchten in der Regel in Gruppen erfolgt. Das heißt, dass die gegenseitige Beeinflussung, vor allem bei Jugendlichen im Alter unter 18 Jahren, wesentlich zur Entschlussfassung für das illegale Verlassen der DDR beiträgt. Dabei spielen solche Faktoren, wie Angeberei, »nicht feige sein«, Abenteuerlust usw., eine nicht zu unterschätzende Rolle. Es konnte festgestellt werden, dass sich eine große Anzahl Jugendlicher nur aus dem Grunde zur Republikflucht entschlossen hat, weil sie bei ihren Freunden nicht als Feiglinge und Angsthasen gelten wollten. Die durchgeführten Überprüfungen ergaben, dass in der Altersgruppe bis zu 18 Jahre 75–80 % zu zweit oder in Gruppen die Staatsgrenze verletzten. Bei den Altersgruppen 18 bis 21 und 22 bis 25 Jahre beträgt dieser Anteil etwa 50 %.

Die Feststellung, dass die Mehrzahl der Jugendlichen unüberlegt und ohne klare Vorstellungen über die tatsächlichen Verhältnisse in Westdeutschland die DDR verlässt, wird durch folgende Tatsachen bestätigt: Von 100 befragten Rückkehrern aus Westdeutschland waren 79 % Jugendliche im Alter bis zu 25 Jahren und davon 22 % Schüler und Sonstige. Die Dauer ihres Aufenthaltes in Westdeutschland betrug im Durchschnitt sechs Monate. Dabei ist vor allem bei Jugendlichen unter 18 Jahren bezeichnend, dass 82 % weniger als sechs Monate und davon 31 % weniger als einen Monat in Westdeutschland geblieben sind. Diese jungen Menschen, die unter sozialistischen Verhältnissen in der DDR lebten und erzogen wurden, waren nicht in der Lage, sich in das in Westdeutschland herrschende politische und soziale System einzuleben. Sie sahen sich in ihren Vorstellungen vom »goldenen Westen« getäuscht und kehrten in relativ kurzer Zeit in die DDR zurück.

Etwa bei einem Fünftel der vom MfS bearbeiteten Grenzdelikte wirkten als Motive für eine Republikflucht Probleme der Familienzusammenführung mit. Dabei handelt es sich um Ehegatten, Eltern, Geschwister und Verlobte, mit denen die Täter zusammenleben wollten. Charakteristisch ist, dass die in Westdeutschland und Westberlin wohnenden Familienmitglieder es in der Regel ablehnen, ihren Wohnsitz in die DDR zu verlegen. Sie versuchen vielmehr, die DDR-Bürger dahingehend zu beeinflussen, nach Westdeutschland bzw. Westberlin zu kommen und sich dort eine Existenz zu schaffen. Aufgrund der engen Beziehungen zu diesen Personen und dem mangelnden Vertrauen zur Entwicklung in der DDR lassen sich die DDR-Bürger – es handelt sich dabei hauptsächlich um junge Frauen – zur Republikflucht beeinflussen.

Wiederholt tritt auch in Erscheinung, dass die DDR-Bürger vor der Entschlussfassung zur Republikflucht mehrfach Versuche unternehmen, eine Genehmigung zur legalen Übersiedlung zu erhalten, welche jedoch abgelehnt wird. Es ist festgestellt worden, dass von den zuständigen DDR-Organen nur in den wenigsten Fällen mit den Antragstellern gesprochen und diesen die politische Notwendigkeit der Ablehnung klargemacht wurde, um somit vorbeugend zu arbeiten und die Begehung einer strafbaren Handlung zu verhindern.

Weiter trat in den letzten Jahren in Erscheinung, dass westdeutsche Bürger und Ausländer bei Besuchen in der DDR, insbesondere in der Hauptstadt Berlin, mit DDR-Bürgern enge Beziehungen eingehen, die vielfach zu Heiratsabsichten führten. Da der in Westdeutschland bzw. Westberlin wohnhafte Partner aus ökonomischen und teilweise auch aus politischen Gründen nicht gewillt ist, in die DDR überzusiedeln, von den Behörden jedoch vorher einer Eheschließung nicht zugestimmt wird, wurden Versuche unternommen, um auf illegalem Wege die DDR zu verlassen. Unmittelbarer Anlass zu diesem Schritt ist26 meistens die Verärgerung über die Ablehnung der Eheschließung oder des Antrages auf legalen Verzug.

Etwa 15 % aller republikflüchtigen DDR-Bürger sind Bewohner des Grenzgebietes. Bei diesen Personen kommt neben den bereits aufgeführten Gründen und Motiven als begünstigender Faktor die genaue Kenntnis des Grenzverlaufs sowie der Schutz- und Sicherungsmaßnahmen hinzu. Dieser Umstand bewirkt, dass bei diesen Menschen die Verlockung, illegal nach Westdeutschland zu gehen, wesentlich größer ist, als bei anderen Personenkreisen. Aus diesem Grunde sind bei Grenzbewohnern Fluchtmotive zu finden, die bei anderen DDR-Bürgern seltener zu einem solchen Schritt führen, wie z. B. Ehestreitigkeiten, familiäre Auseinandersetzungen usw. In mehreren Fällen kam es bei Grenzbewohnern, die unter Alkoholeinfluss standen, zu spontanen Grenzverletzungen. Hinzu kommt noch, dass ein großer Teil der Bewohner des unmittelbaren Grenzgebiets, insbesondere an der Staatsgrenze West, im gegenüberliegenden westdeutschen Grenzgebiet Verwandte und Bekannte zu wohnen haben. Ein weiterer Umstand, der in verschiedenen Fällen auf eine Entschlussfassung zur Republikflucht einwirkt, war die teilweise unter den Bewohnern des Sperrgebietes an der Staatsgrenze herrschende Unzufriedenheit und Verärgerung über die ihnen auferlegten Beschränkungen.

Bei der Untersuchung von Grenzdelikten ist festgestellt worden, dass Bewohner des Grenzgebietes ihre Orts- und Lagekenntnisse anderen DDR-Bürgern, die die DDR illegal verlassen wollen, zur Verfügung stellen bzw. dass Grenzbewohner mit diesem Ziel ausgefragt und ausgehorcht werden. Eine Analysierung der Fluchtwege von zurückgekehrten DDR-Bürgern ergab, dass etwa 5 % bei ihrer Flucht Hilfe und Unterstützung von Grenzbewohnern erhielten.

Eine Anzahl von Vorkommnissen beweist, dass negative Elemente mit ehemaligen Angehörigen der NVA/Grenze, denen durch ihre frühere Dienstdurchführung die örtlichen Verhältnisse an der Staatsgrenze, das Sicherungssystem sowie die Postenwege genau bekannt sind, in Verbindung zu treten versuchen. In einigen Verfahren fielen ehemalige Angehörige der NVA/Grenze als Mitglieder von Gruppen an, die einen Grenzdurchbruch vorbereiteten. Es zeigte sich, dass verschiedene Grenzsoldaten nach ihrer Dienstentlassung infolge des Fehlens eines festen Kollektivs, eine ideologisch ungünstige Entwicklung nehmen. In Verbindung mit negativen Kräften, unter deren Einfluss sie gerieten, haben ehemalige Angehörige der NVA/Grenze ihre Kenntnisse für die Vorbereitung und Durchführung von Grenzverletzungen zur Verfügung gestellt bzw. selbst daran teilgenommen, um sich in den Augen der negativen Kräfte zu »rehabilitieren«. Andererseits bemühen sich auch Personen, die sich mit Fluchtabsichten tragen, die ehemaligen Angehörigen der NVA/Grenze in persönlichen Gesprächen unter den verschiedensten Varianten über die Grenzverhältnisse auszufragen, um auf diese Weise in den Besitz von Informationen über das Sicherungssystem an der Staatsgrenze zu gelangen.

Anlage 1 zum Bericht Nr. 210/65

Ergebnisse der Befragung von im 1. Halbjahr 1964 aus Westdeutschland zurückgekehrten DDR-Bürgern über Motive und Anlässe ihrer Republikflucht

Im Zusammenhang mit der Feststellung und Analysierung von Republikfluchtmotiven und -anlässen wurden 100 Befragungsprotokolle von im 1. Halbjahr 1964 aus Westdeutschland zurückgekehrten DDR-Bürgern durchgearbeitet. Die darin von den Rückkehrern über ihre Fluchtgründe gemachten Angaben geben einen annähernd richtigen Querschnitt der wesentlichsten Motive und Anlässe. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass dieser Querschnitt nur den aus den verschiedensten Gründen wieder in die DDR zurückgekehrten Personenkreis charakterisiert.

Die altersmäßige und soziale Zusammensetzung der 100 überprüften Rückkehrer:

  • 32 % unter 18 Jahre,

  • 26 % 18 bis 21,

  • 21 % 22 bis 25,

  • 18 % 26 bis 40,

  • 3 % über 40,

  • 11 % Schüler,

  • 21 % Lehrlinge,

  • 15 % Industriefacharbeiter,

  • 10 % Beschäftigte in der sozialistischen Landwirtschaft,

  • 32 % ungelernte27 Arbeiter,

  • 4 % ohne Arbeit.

Diese Feststellungen zeigen, dass der überwiegende Teil der zurückkehrenden DDR-Bürger (79 %) im Alter unter 25 Jahren ist und sich in der Hauptsache aus Schülern und Lehrlingen (22 %) und ungelernten Arbeitern (39 %) zusammensetzt. Das bedeutet, dass solche Berufsgruppen, wie Facharbeiter, technische und kaufmännische Angestellte und Angehörige der Intelligenz, die aufgrund ihrer Fachkenntnisse und Berufserfahrungen die Möglichkeit einer Eingliederung in die westdeutsche Wirtschaft haben, nur in einem geringen Umfange in die DDR zurückkommen. Diese Tatsache lässt gleichzeitig die Schlussfolgerung zu, dass die Mehrzahl der Republikfluchten dieser Personenkreise überlegt und organisiert erfolgt. Demgegenüber können solche Personengruppen, wie Schüler, Lehrlinge und ungelernte Arbeiter, in geringerem Maße festen Fuß fassen und sind deshalb bereits nach kurzer Zeit von den westdeutschen Verhältnissen enttäuscht. Das trifft vor allem auf junge Menschen zu, die unter sozialistischen Verhältnissen in der DDR erzogen wurden und sich in das in Westdeutschland herrschende politische und soziale System nicht einleben können. Außerdem ist bei diesem Personenkreis festzustellen, dass die Begehungsformen ihres illegalen Verlassens der DDR nur in wenigen Fällen überlegten und organisierten Charakter aufweisen.

Einen Beweis für diese Feststellung ergibt die folgende Übersicht über die Dauer des Aufenthalts der 100 überprüften Rückkehrer in Westdeutschland bzw. Westberlin.

  • Unter 1 Monat = 14 %,

  • 1 bis 2 [Monate] = 11 %,

  • 2 bis 6 [Monate] = 31 %,

  • 6 bis 12 [Monate] = 20 %,

  • über 12 [Monate] = 24 %.

Bei den Jugendlichen der Altersgruppe bis zu 18 Jahren ist bezeichnend, dass 82 % weniger als sechs Monate in Westdeutschland geblieben sind (davon 31 % unter einem Monat).

45 % der Personen sind Bewohner von Grenzkreisen an der Staatsgrenze West und Berlin und somit mit den Grenzverhältnissen und Sicherungsmaßnahmen bekannt. 8 % waren ehemalige Angehörige der NVA/Grenze und verließen zum Teil mit anderen Personen in den ihnen bekannten Grenzabschnitten das Gebiet der DDR.

23 % aller Grenzverletzer waren vorbestraft, und zwar 10 % wegen krimineller Straftaten, 3 % wegen Staatsverbrechen und 10 % wegen § 8 Passgesetz.

Als Ursachen, Motive und begünstigende Faktoren der Republikfluchten wurden festgestellt:

  • bei 23 % Verbindungen zu republikflüchtigen Verwandten und Bekannten,

  • und 17 % Verbindungen zur Westverwandtschaft,

  • 7 % waren vor dem 13.8.1961 besuchsweise in Westdeutschland oder Westberlin,

  • 9 % wurden durch Erstzuziehende und Rückkehrer beeinflusst,

  • 13 % versuchten sich durch die Republikflucht einer Strafverfolgung zu entziehen,

  • 38 % aller Personen lebten in ungeordneten Familien- und Eheverhältnissen,

  • bei 10 % spielte der Alkohol bei der Entschlussfassung zur Republikflucht eine Rolle,

  • 32 % aller Personen hatten das Schulziel (8. Klasse Grundschule) nicht erreicht,

  • 14 % waren Arbeitsbummelanten.

Bei den einzelnen Altersgruppen sind im Wesentlichen folgende Motive und Anlässe für die Republikfluchten angegeben worden:

1. Jugendliche im Alter von 15 bis 17 Jahren (32 %)

Bei dieser Altersgruppe konnte festgestellt werden, dass die Jugendlichen aufgrund ihres noch unterentwickelten Bewusstseins sehr leicht einer Beeinflussung aus dem Westen und durch negative Elemente aus ihrem Umgangskreis unterliegen. So geben zehn Jugendliche an, dass der regelmäßige Briefverkehr mit republikflüchtigen Verwandten und Freunden bzw. mit westdeutschen Verwandten in ihnen falsche Vorstellungen über die Lebensverhältnisse im Westen geweckt habe. Von vier Jugendlichen wird der ständige Empfang von westlichen Rundfunk- und Fernsehsendungen als Motiv ihrer Flucht benannt. Eine wesentliche Rolle spielt bei dieser Altersgruppe die gegenseitige Beeinflussung, wobei Angeberei, »nicht feige sein« und Abenteuerlust oftmals Jugendliche zur Republikflucht bewegen. Das zeigt sich darin, dass 81 % dieser Altersgruppe in Gruppen die Staatsgrenze durchbrachen.

Weitere Anlässe für ein illegales Verlassen der DDR waren:

  • Schwierigkeiten in der Schule bzw. Berufsschule (Angst vor Prüfungen, nicht bis zur 10. Klasse die Schule besuchen usw.) (10 Fälle),

  • Schwierigkeiten auf der Lehr- und Arbeitsstelle (kein Interesse am Beruf, Auseinandersetzungen mit Ausbildern usw.) (8 Fälle),

  • Streit mit den Eltern (Erziehungsschwierigkeiten ) (8 Fälle),

  • Angst vor Strafe (kriminelle Handlungen), Angst vor Einweisung in einen Jugendwerkhof (5 Fälle).

Begünstigend auf die Entschlussfassung zur Republikflucht wirkten bei etwa 28 % der Jugendlichen unter 18 Jahren ungeordnete und zerrüttete Familienverhältnisse.

2. Jugendliche im Alter von 18 bis 21 Jahren (26 %)

Nach Angaben dieser Jugendlichen haben folgende Faktoren zur Entschlussfassung für das illegale Verlassen der DDR beigetragen: Falsche Vorstellungen über die Lebens- und Arbeitsverhältnisse im Westen, hervorgerufen

  • durch Briefwechsel mit republikflüchtigen Familienangehörigen und Freunden sowie mit der Westverwandtschaft in 7 Fällen,

  • durch Beeinflussung von DDR-Bürgern (Freunde, Arbeitskollegen usw.) in 9 Fällen,

  • durch den Empfang des Westrundfunks und -Fernsehens in 2 Fällen.

Sechs Jugendliche geben Schwierigkeiten und Auseinandersetzungen im Betrieb, drei Streit mit Eltern und zwei Angst vor einer Bestrafung als Motive an.

Zwei Jugendliche waren ehemalige Grenzgänger und glaubten im Westen wieder bessere Verdienstmöglichkeiten zu erhalten.

46 % der Jugendlichen dieser Altersgruppe lebten in ungeordneten Familienverhältnissen (Ehen geschieden oder ein Elternteil verstorben, Erziehung bei Pflegeeltern, Ehe der Eltern zerrüttet usw.).

Bemerkenswert ist, dass etwa 45 % dieser Jugendlichen während ihrer Schulzeit nicht das Ziel der 8. Klasse erreicht haben.

3. Personen im Alter von 22 bis 25 Jahren (21 %)

Bei dieser Altersgruppe spielten folgende Faktoren und Bedingungen bei der Entschlussfassung zur Republikflucht eine Rolle: Falsche Vorstellungen von den Lebens- und Arbeitsverhältnissen im Westen, hervorgerufen

  • durch Briefverkehr mit republikflüchtigen Verwandten und Bekannten sowie der Westverwandtschaft in 8 Fällen,

  • durch Beeinflussung von Familienangehörigen und Arbeitskollegen in 8 Fällen,

  • durch Beeinflussung von Mitgefangenen in Strafvollzugsanstalten in 2 Fällen.

Als weitere Motive und Anlässe wurden angegeben:

  • in 7 Fällen Ehestreitigkeiten,

  • in 3 Fällen Auseinandersetzungen im Elternhaus,

  • in 5 Fällen Auseinandersetzungen auf der Arbeitsstelle wegen Interessenlosigkeit, Arbeitsbummelei u. a.,

  • in 2 Fällen Angst vor Strafverfolgung wegen krimineller Straftaten,

  • in 1 Fall Entziehung der Wehrpflicht.

Drei Personen dieser Altersgruppe waren ehemalige Angehörige der NVA/Grenze und überschritten gemeinsam mit anderen Personen die Staatsgrenze in den ihnen bekannten Grenzabschnitten.

47 % der Personen dieser Altersgruppe haben das Schulziel nicht erreicht.

4. Personen im Alter von 26 bis 40 Jahren (18 %)

Bei dieser Altersgruppe ist bezeichnend, dass neun Personen = 50 % wegen Ehestreitigkeiten und zerrütteter Eheverhältnisse die DDR illegal verlassen haben. Von diesen neun Personen waren fünf ehemalige Angehörige der NVA/Grenze und benutzten zur Republikflucht den ihnen aus ihrer Dienstzeit her bekannten Grenzabschnitt. Weitere Motive und Anlässe waren.

  • in 4 Fällen Beeinflussung durch republikflüchtige Familienangehörige und ehemalige Arbeitskollegen,

  • in 4 Fällen Entziehung einer Strafverfolgung,

  • in 3 Fällen Auseinandersetzungen im Betrieb,

  • in 2 Fällen schlechte Wohnverhältnisse.

Fünf Personen geben an, dass übermäßiger Alkoholgenuss zur Entschlussfassung für eine Republikflucht beigetragen hat.

Auch bei dieser Altersgruppe haben neun Personen = 50 % während der Schulzeit das Ziel der 8. Klasse nicht erreicht.

5. Personen im Alter über 40 Jahre (3 %)

Als Anlässe und Motive wurden von diesen Personen angegeben:

  • in 1 Fall Angst vor Strafe wegen verleumderischer Äußerungen auf der Arbeitsstelle,

  • in 1 Fall zerrüttete Eheverhältnisse,

  • in 1 Fall der republikflüchtig gewordenen Ehefrau nach Westdeutschland zu folgen.

Von diesen drei Personen müssen zwei als geistig zurückgebliebene, primitive Menschen eingeschätzt werden.

Anlage 2 zum Bericht Nr. 210/65

[Neun Grafiken]

[nicht am Dokument ediert, siehe Faksimiles]

  1. Zum nächsten Dokument Lohndiskussion auf der Baustelle des Zementwerkes Rüdersdorf

    2. April 1965
    Einzelinformation Nr. 293/65 über Lohndiskussionen auf der Baustelle Zementwerk IV Rüdersdorf bei Berlin

  2. Zum vorherigen Dokument Schwere Explosion in Sauerstoff-Fabrik Leuna-Werke

    1. April 1965
    Einzelinformation Nr. 288/65 über eine schwere Explosion in der Sauerstoff-Fabrik der VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« am 31. März 1965