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Versuchte Einfuhr Westberliner Satireblätter Neuss Deutschland

16. Dezember 1965
Einzelinformation Nr. 1123/65 über die versuchte Einschleusung von »Extra-Blättern« der Hetzschrift »Neuss Deutschland« in die Hauptstadt der DDR

Am 15.12.1965, gegen 14.00 Uhr, wurde der Rauter, Ernst,1 geb. 27.4.1929 in Klagenfurt, wohnhaft Nürnberg und Berlin 15, Xantener Straße 9, Staatsangehörigkeit: Österreicher, bei dem Versuch gestellt, über die GÜST Bahnhof Friedrichstraße mehrere Exemplare von zwei verschiedenen »Extra-Blättern« der Hetzschrift »Neuss Deutschland«2 in die Hauptstadt der DDR einzuschleusen. (Rauter wurde nach entsprechender Untersuchung nach Westberlin ausgewiesen.)

Eines dieser »Extra-Blätter« ist, unter Anspielung auf die gegenwärtige Auseinandersetzung mit ihm, Wolf Biermann3 gewidmet, von dem verschiedene, teilweise direkt für »Neuss Deutschland« bestimmte Erklärungen wiedergegeben werden. U. a. wird auch die bereits von der Westpresse aufgegriffene Erklärung Biermanns wiedergegeben (»Matthäus, Kap. 21, Vers 45/46«4), wonach er ein »Prophet« sei, der vom Volk gehalten und geschützt würde, geschützt gegen die »Hohenpriester und Pharisäer«, die seine Gleichnisse gehört und verstanden hätten und ihn deshalb verfolgen würden.

Zur Verschleierung dieser eigentlichen Ziele sind die Erklärungen und Kommentierungen dieser Hetzschrift überwiegend so angelegt, als würden sie sich in erster Linie gegen den Westen richten, insbesondere gegen die Bemühungen der Westpresse, das Auftreten von Biermann gegen die DDR auszunutzen und die amerikanische Vietnam-Politik zu unterstützen.

In dem anderen »Extra-Blatt« wird gegen den bekannten Aufruf Westberliner Tageszeitungen zur Unterstützung der amerikanischen Vietnam-Politik Stellung genommen.5 Die versuchte Einschleusung dieses »Extra-Blattes« sollte offensichtlich, wie auch aus Erklärungen von Biermann zu diesen Fragen ersichtlich ist, mit dazu dienen, die gegen die DDR gerichtete Zielsetzung dieser Kreise in den Hintergrund treten zu lassen.

Wie dem MfS in diesem Zusammenhang zuverlässig bekannt wurde,6 ist die Herausgabe des »Extra-Blattes« über Biermann von Wolfgang Neuss7 und Robert Havemann8 und Wolf Biermann selbst in der Hauptstadt der DDR beraten und festgelegt worden.

Neuss hat bereits seit längerer Zeit engen Kontakt zu diesen Personen und den mit ihnen eng verbundenen Personenkreisen.

Der o. g. Rauter wird neben Neuss, Delavaux9, Groenewold,10 Wolfgang Gruner,11 Koegler,12 Mondry,13 Rieck, Ronald Rochow,14 Tomayer15 und den Organisationen Liberaler Studentenbund Deutschlands,16 Sozialistischer Deutscher Studentenbund,17 Humanistische Studenten-Union18 als Mitherausgeber der »Extra-Blätter« »Neuss Deutschland« geführt.

In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass sich im Verlaufe des Jahres 1965 die Tätigkeit dieser Personenkreise in der vorgenannten Richtung, insbesondere die Herausgabe von »Neuss Deutschland« und die Aufnahme von Kontakten zu Personen in der Hauptstadt der DDR betreffend, wesentlich verstärkt hat.

Vom MfS wurden die erforderlichen Aufklärungs- und Sicherungsmaßnahmen eingeleitet.

  1. Zum nächsten Dokument Austausch von Versöhnungsbotschaften polnischer und deutscher Bischöfe

    16. Dezember 1965
    Einzelinformation Nr. 1126/65 über den Austausch von Botschaften zwischen den polnischen und den deutschen Bischöfen
  2. Zum vorherigen Dokument Zugentgleisung bei Lauchhammer

    15. Dezember 1965
    Einzelinformation Nr. 1120/65 über einen Bahnbetriebsunfall auf der Strecke Ruhland–Lauchhammer-Ost, [Bezirk] Cottbus, am 14. Dezember 1965

  1. Ernst Alexander Rauter, Jg. 1929, österreichischer Schriftsteller, als Sprachkritiker in der Tradition von Karl Krauss schrieb er Mitte der 1960er Jahre u. a. Texte für den Kabarettisten Wolfgang Neuss.

  2. Satirisches Blatt mit dem dem »Neuen Deutschland« nachempfundenen Kopf, das als Begleittext für die Kabarettabende von Wolfgang Neuss »Das jüngste Gerücht« in Westberlin herausgegeben wurde. Es entstand in Zusammenarbeit auch mit ostdeutschen Intellektuellen. Beteiligt waren u. a. Wolf Biermann, Hans Bunge, Jens Gerlach, Robert Havemann.

  3. Wolf Biermann, Jg. 1936, Liedermacher, Regisseur. Erhielt nach wiederholten Behinderungen in seiner künstlerischen Arbeit zuvor durch das 11. Plenum des ZK der SED im Dezember 1965 endgültiges Auftritts- und Publikationsverbot in der DDR.

  4. Matt. 21.45–46: »Und da die Hohenpriester und Pharisäer seine Gleichnisse hörten, verstanden sie, dass er von ihnen redete. Und sie trachteten darnach, wie sie ihn griffen; aber sie fürchteten sich vor dem Volk, denn es hielt ihn für einen Propheten.«

  5. Westberliner Zeitungen – vor allem aus dem seinerzeit marktbeherrschenden Springer-Verlag – sammelten 1965 Geld, von dem u. a. Nachbildungen der Freiheitsglocke des Schöneberger Rathauses gekauft und an Witwen im Vietnamkrieg gefallener US-amerikanischer Soldaten verschenkt werden sollten. Neuss protestierte in »Neuss Deutschland« gegen diese Aktion.

  6. Da das MfS die Telefone, Wohnungen und Arbeitsräume von Havemann und Biermann komplett verwanzt hatte, waren sie in der Lage, sämtliche dort stattfindenden Gespräche zu belauschen.

  7. Wolfgang Neuss, Jg. 1923, politischer Kabarettist und Schauspieler, führte in den 1950er Jahren Regie im Westberliner Kabarett »Die Stachelschweine«, wo er 1966 wieder als Gast mit eigenen Programmen auftrat. In seinen satirischen Programmen »Das jüngste Gerücht« und »Neuss Testament« begleitete er Mitte der 1960er Jahre die deutsch-deutsche Politik, 1965 trat er in Frankfurt/M. gemeinsam mit Wolf Biermann auf.

  8. Robert Havemann, Jg. 1910, Physikochemiker, 1943 vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, 1945–47 Leiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, 1945–64 Professor für physikalische Chemie in Berlin, seit 1932 für die KPD aktiv, 1950–64 SED, 1961–66 korrespondierendes Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften, aus der SED ausgeschlossen und von der Universität fristlos entlassen wegen seiner philosophischen Vorlesungen, die das SED-Regime einer kritischen Revision unterzogen, 1964/65 Leiter der Arbeitsstelle für Photochemie der Deutschen Akademie der Wissenschaft, im Dezember auch dort fristlos entlassen wegen eines nicht genehmigten Artikels im »Spiegel« für die Aufhebung des KPD-Verbots in der Bundesrepublik, wurde zum bekanntesten Dissidenten in der DDR.

  9. Gerd Delaveaux, Koautor für Neuss’ Programm »Neuss Testament«.

  10. Gisela Groenewold, Jg. 1943, Fotografin für »Neuss Deutschland«, Lebensgefährtin von Neuss. Kurt Groenewold, Jg. 1937, Rechtsanwalt, mit Neuss bis zu dessen Tod 1989 eng befreundet.

  11. Wolfgang Gruner, Jg. 1926, Kabarettist und Schauspieler, Autor und Darsteller im Ensemble des Westberliner Kabaretts »Die Stachelschweine«, satirischer Kommentator für die Westberliner regionale Fernsehnachrichtensendung »Abendschau«.

  12. Wahrscheinlich Monika Koegler (ab 1968: Monika Sperr), Jg. 1941, Schriftstellerin und Dramaturgin, betreute die Herstellung von »Neuss Deutschland« redaktionell, traf sich im Sommer 1966 mit Biermann, Rolf Ludwig, Eberhard Esche und Peter Dommisch im Deutschen Theater, bevor sie sich 1967 zu Studien am Ostberliner Theater der Freundschaft aufhielt.

  13. Eberhard Mondry, Jg. 1929, Schauspieler.

  14. Ronald Rochow, Techniker beim Westberliner Kabarett »Die Stachelschweine«.

  15. Horst Tomayer, Jg. 1938, Journalist, Schauspieler und Schriftsteller, Mitte der 1960er Jahre als Autor auch für Wolfgang Neuss tätig.

  16. Liberaler Studentenbund Deutschlands (LSD), 1950–69 Hochschulverband der FDP, näherte sich in den 1960er Jahren der Neuen Linken und der APO an.

  17. Sozialistischer Deutscher Studentenbund (SDS), 1946 gegründeter Hochschulverband der SPD, nach sich verschärfender Kritik an der Politik der SPD wurde von dieser die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in SPD und SDS beschlossen. Der SDS wurde eine der treibenden Organisationen der Studentenbewegung in der Bundesrepublik und zerfiel Ende der 1960er Jahre.

  18. 1962 gegründete Hochschulorganisation der Humanistischen Union. Mit SDS und LSD treibende Organisation der Studentenbewegung der 1960er Jahre.