Vertriebenen-Denkschrift der EKD
1. November 1965
Einzelinformation Nr. 939/65 über die Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«
Dem MfS wurde bekannt, dass die in letzter Zeit in der Westpresse wiederholt erwähnte und umstrittene Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD), »Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«,1 hauptverantwortlich von Prof. D. Dr.2 Ludwig Raiser,3 Professor an der Universität Tübingen und Vorsitzender der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD, ausgearbeitet worden ist.4
Nach einer noch nicht überprüften Information (an der Überprüfung wird gearbeitet) soll die Bundesregierung die EKD zur Erarbeitung dieser Denkschrift angeregt haben. Als Beweggrund wird angeführt, dass damit die Evangelische Kirche einen »Beitrag zur Bekämpfung der östlichen Propaganda über den angeblichen Revanchismus der Bundesrepublik« leisten sollte. Durch die Denkschrift sollten vor allem die Argumente abgeschwächt werden, dass die Bundesrepublik der einzige Staat in Europa sei, der Gebietsansprüche an seine östlichen Nachbarn stellt.
Als Vermittler zwischen der Bundesregierung und der Evangelischen Kirche hätten vonseiten der Bundesregierung der Bundestagsabgeordnete und Leiter des außenpolitischen Arbeitskreises der CDU, Majonica,5 und der Beauftragte des Auswärtigen Amtes in Westberlin, von Keudell,6 fungiert, während die Evangelische Kirche durch Bischof Kunst7 und Konsistorialrat von Wedel8 (Juristischer Berater der Berlin-Brandenburgischen Kirche, Westberlin) vertreten worden sei.
Nach der noch nicht überprüften Information sollen im Zusammenhang mit der Beratung und Bestätigung der Denkschrift durch die Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche Deutschlands und den Rat der EKD in Westberlin in der Zeit vom 11. bis 16.10.1965 auch entsprechende Konsultationen mit Mitgliedern dieser Gremien aus der DDR in Berlin stattgefunden haben. Über die Ergebnisse dieser Beratungen, insbesondere über das Verhalten der DDR-Vertreter, liegen noch keine Informationen vor.9
In diesem Zusammenhang wurde weiter bekannt, dass in Bonn erwogen werden solle, ob nach der offiziellen Veröffentlichung dieser Denkschrift der EKD durch die neue Bundesregierung eine »gemäßigte« Erklärung zur Oder-Neiße-Frage abgegeben werden kann, ähnlich der Erklärung der Bundesregierung gegenüber der ČSSR zum Münchener Abkommen.
Nachstehend wird auf einige wesentliche inhaltliche Seiten der im Original vorliegenden Denkschrift (44 Seiten), die bei Bedarf angefordert werden kann, hingewiesen:
In dem vom Vorsitzenden des Rates der EKD, Präses Scharf,10 unterzeichneten Vorwort wird als Grund der Abfassung dieser Denkschrift angegeben, »dass die Besetzung der deutschen Ostgebiete jenseits der Oder-Neiße-Linie durch Sowjetrussland und Polen und die Vertreibung von Millionen deutscher Menschen aus diesen Gebieten und aus den alten deutschen Siedlungsgebieten in der Tschechoslowakei sowie im übrigen Osten und Südosten Europas Probleme aufgeworfen haben, die bisher nicht ausreichend gelöst worden sind«.
Die Evangelische Kirche sei dadurch, dass eine Vielzahl ihrer Glieder aus diesen Gebieten stammt, von der Problematik mitbetroffen. Sie halte es deshalb für ihre Pflicht, diesen Problemen nachzugehen sowie den Wegen zu ihrer Lösung.
Die Kirche wolle mit diesem Beitrag zur Versachlichung der Diskussion dienen, bestehende Spannungen beseitigen und Wege zum politischen Handeln ebnen.
Es wird in dem Vorwort hervorgehoben, dass für die ganze Darstellung nur die westlichen Mitglieder der Kammer für öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche Deutschlands verantwortlich sind und dass die Gesamtorientierung und völkerrechtliche Darlegung von der Diskussionslage in Westdeutschland und Westberlin ausgehe.
Kapitel I – Umfang und Zusammenhänge der Probleme
Mit der Umsiedlung habe das Geschichtsbewusstsein des deutschen Volkes einen empfindlichen Schlag erlitten. Des Weiteren sei sie ein Verlust großer kultureller Kraftfelder. Kirchlich gesehen empfindet es der deutsche Protestantismus bis heute als einen tiefgehenden Eingriff in seine Substanz, dass ihm mehrere große Landeskirchen ganz verloren gegangen und die Kirchen von Berlin-Brandenburg, Pommern und Schlesien in ihrem Bestand erheblich geschmälert worden sind.
Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung habe die notwendige sittliche und rechtliche Bewältigung bisher nicht erfahren. Das Potsdamer Abkommen sei eine vorläufige Entscheidung, und eine völkerrechtliche Dauerregelung stehe noch aus. Solange dieser Zustand bestehe, bilde er einen Herd der Unruhe, weil ohne Lösung der deutschen Frage eine politische Entspannung in Europa erfolglos bleiben müsse.
Die Vertriebenen empfänden mit Recht, dass dieses Problem nicht mit der wirtschaftlichen Eingliederung als erledigt angesehen werden könne. Sie bedürften des Verständnisses für den Umfang und die Leidenschaft ihrer Diskussionen um das »Recht auf Heimat«. Dieser Begriff sei über den engeren Wortsinn hinaus oft nur ein Hinweis auf ein Bündel weiterreichender Probleme und Aufgaben. Durch den Gang der bisherigen Diskussionen würde jedoch die deutsche Seite in die Gefahr geraten, mit ihren politischen Vorstellungen neben die weltpolitische Wirklichkeit zu geraten.
Kapitel II – Die Vertriebenen in Gesellschaft und Kirche
Bei allem, was zu den Problemen der Vertriebenen gesagt werde, müsse bedacht werden, dass die Vertreibung bei den Betroffenen eine Unsicherheit in der Umweltbeziehung, ein verletztes Rechtsgefühl und Misstrauen gegenüber der Zukunft zur Folge gehabt hätte.
Es wird eingeschätzt, dass eine wirtschaftliche Eingliederung der Umsiedler in Westdeutschland erfolgt sei. Dabei werden die Leistungen des Bonner Staates gewürdigt und folgende Maßnahmen hervorgehoben:
- –
Fremdrentengesetz,
- –
Novelle zum Auslandsrentengesetz,
- –
Übernahme der Rentenleistungen für Kriegsgeschädigte,
- –
Regelung der Beamtenversorgung nach Artikel 131 des Grundgesetzes,
- –
Lastenausgleichsgesetzgebung.11
Weiter wird festgestellt, dass strukturmäßig ein sozialer Abstieg erfolgte und eine gesellschaftliche Eingliederung »vor allem durch die Fremdenfeindlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht worden ist«.
»Nicht so sehr der Staat, mit seinen Maßnahmen der Daseinsvorsorge, als vielmehr die westdeutsche Gesellschaft« sei den »Vertriebenen offenbar Vieles und Wesentliches schuldig geblieben«.
Die Kirche stelle sich nach wie vor die Aufgabe, die volle Eingliederung der Umsiedler zu erreichen. Als aktive Gremien in diesem Zusammenhang werden hervorgehoben:
- –
die Innere Mission,
- –
das Evangelische Hilfswerk,
- –
der Konvent der zerstreuten evangelischen Ostkirchen,12
- –
der kirchliche Hilfsausschuss für die Ostvertriebenen,13
- –
die Landespfarrämter für Vertriebenenfragen,
- –
der Beauftragte für Umsiedler- und Vertriebenenfragen beim Rat der EKD.
»Eine neue Phase der Auseinandersetzung mit dem Vertriebenenproblem einzuleiten, die heute wichtigen Sachverhalte sehr viel besser und genauer zu untersuchen und auf dieser Grundlage subtilere und besser gezielte Methoden der Lösung zu entwickeln« wird als Aufgabe der Kirche in ihren Reihen und in der Öffentlichkeit gestellt.
Kapitel III – Zur gegenwärtigen Lage in den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie
Polen stände seit Ende des Krieges stets vor großen wirtschaftlichen Schwierigkeiten. In der Frage der polnischen Westgebiete gäbe es jedoch keinerlei Differenzen zwischen den Schichten der Bevölkerung und Glaubensrichtungen.
Zur Vorgeschichte der Grenzregelung nach 1945 werden angeführt:
- –
der deutsch-sowjetische Pakt vom 23.8.1939,14
- –
Konferenz von Teheran 1943,15
- –
Rede Churchills vor dem Unterhaus vom 22.2.1944,16
- –
Konferenz von Jalta und Potsdam.17
Dabei wird besonders hervorgehoben, wie sich die polnischen Ostgrenzen zur Sowjetunion verschoben haben.
Im Zusammenhang mit einer kurzen ökonomischen Analyse wird das Lebensinteresse des polnischen Volkes bei allen rechtlichen, sittlichen und politischen Überlegungen zu bedenken gegeben. Das Grenzabkommen zwischen der Regierung der DDR und Volkspolen wird nur als Fakt erwähnt.
Kapitel IV – Völkerrechtliche Fragen
Hier wurden folgende Thesen aufgestellt:
- 1.
Das Potsdamer Abkommen sieht nur eine provisorische Lösung der Westgrenzen Polens vor, da es nur von polnischer Verwaltung der Gebiete spricht und die Entscheidung über einen künftigen Hoheitswechsel einem künftigen Friedensvertrag überlässt.
Die Rechtmäßigkeit der Herrschaft Polens über seine Westgebiete bedürfe »noch einer endgültigen Legitimierung. Sie könnte nur durch eine deutsche Anerkennungserklärung geschaffen werden. Der von der Regierung der DDR gegenüber Polen ausgesprochene Verzicht18 kann dazu völkerrechtlich schon deshalb nicht ausreichen, weil es sich um Gebiete des alten deutschen Reiches handelt.«
Inwieweit sich aus dem Selbstbestimmungsprinzip das Recht der Bevölkerung in einem Teil eines Staatsgebietes ableiten lässt, über die Lostrennung ihres Gebietsteils aus dem Staatsverband und die Eingliederung in einen anderen Staatsverband und über alle aus einem Gebietswechsel sich für die Bevölkerung ergebenden Umsiedlungsprobleme selbstständig im Wege einer Volksabstimmung zu entscheiden, kann heute noch nicht eindeutig bejaht werden. Vorsicht sei auch gegenüber der Behauptung notwendig, das »Recht auf Heimat« gewähre schon nach geltendem Völkerrecht den Vertriebenen Rechtsansprüche auf volle Rückgliederung der Gebiete östlich der Oder-Neiße-Linie in den deutschen Staatsverband und auf ihre Rückkehr in diese Gebiete.
Trotzdem würden jedoch die Wegnahme der Gebiete und die Vertreibung der Bevölkerung aus ihnen gegen völkerrechtliche Verbote verstoßen.
- 2.
Die Aussiedlung der Deutschen bzw. die Verwehrung ihrer Rückkehr entspricht nicht der allgemeinen Rechtsüberzeugung in der Völkerrechtsgemeinschaft.
Die Bestimmungen des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten vom 12.8.1949 enthalten ein direktes »Deportationsverbot«.19
- 3.
Das polnische Argument, die Oder-Neiße-Grenze sei ein Sicherheitsfaktor, wird nicht anerkannt, da die Vertreibung Millionen deutscher Bewohner westlich von Polen »einen Herd der Unzufriedenheit und der Unruhe habe entstehen lassen, also das Gegenteil einer Sicherheits- und Friedensgrenze«.
Die Oder-Neiße-Linie sei auch vom militärischen Gesichtspunkt aus nicht »als strategisch für Polens Schutz besonders günstig anzusehen«. Der Kern des Arguments würde darin bestehen, »dass das Erbe einer bösen Vergangenheit dem deutschen Volk eine besondere Verpflichtung auferlegt, in der Zukunft das Lebensrecht des polnischen Volkes zu respektieren und ihm den Raum zu lassen, dessen es zu seiner Entfaltung bedarf«.
- 4.
Es wird zu bedenken gegeben, dass in den 20 Nachkriegsjahren in den ehemaligen Ostgebieten große Veränderungen erfolgt sind, die auch rechtlich berücksichtigt werden müssten.
Die Lage verändert sich in dem Maße, indem Polen erfolgreiche Anstrengungen gemacht hat, den Besitz in sein Staatsgebiet zu integrieren. Eine volle Wiederherstellung alten Besitzstandes, die in den ersten Jahren nach 1945 noch möglich gewesen wäre, ist 20 Jahre später unmöglich, wenn sie Polen jetzt in seiner Existenz bedrohen würde.
Bei politischen Lösungen müsste daher ein Ausgleich gesucht werden.
Kapitel V – Theologische und atheistische Erwägungen
Das Recht auf Heimat könne theologisch nicht begründet werden, es bestehen hierüber große Meinungsverschiedenheiten (Lübecker Thesen20 und Thesen des Bielefelder Arbeitskreises der kirchlichen Bruderschaften21).
Es wird die Frage der Schuld des deutschen Volkes aufgeworfen, dabei aber auch von einer gegenseitigen Schuldverstrickung gesprochen.
Zurzeit würde die deutsche Ostpolitik überwiegend unter einem unnüchternen Pathos und zu wenig sachlichem Gehalt leiden. Die Kirche müsse daher dafür eintreten, dass Grundfragen der deutschen Ostpolitik so sorgfältig wie möglich geprüft und unter Umständen neu formuliert werden.
Kapitel VI – Die deutschen Ostgrenzen als politische Aufgabe
Die in der Denkschrift aufgeführten rechtlichen, ethischen und theologischen Überlegungen sollen in politisches Handeln eingehen und dahin wirken, eine neue Bewegung in die politische Vorstellung des deutschen Volkes hineinzubringen und auch den Nachbarn im Osten einen Dialog auf neuer Ebene anzubieten.
Es solle von den derzeitigen Realitäten ausgegangen werden, jedoch sei eine vorzeitige definitive Anerkennung der Regelung des Potsdamer Abkommens eine politisch unkluge Preisgabe wertvoller Grundlagen und Objekte künftiger Friedensverhandlungen. Es müsse eine vertragliche Regelung angestrebt werden. Um zu einer Lösung zu kommen, müsse die Bundesregierung ihren starren und einseitigen Rechtsstandpunkt korrigieren, ohne ihn von vornherein und bedingungslos preiszugeben.
Aus dieser Information dürfen im Interesse der Sicherheit der Quellen lediglich die Angaben über den Inhalt der Denkschrift publizistisch ausgewertet werden.