Vorkommnisse im Zusammenhang mit Bundestagssitzung in Westberlin (6)
10. April 1965
Einzelinformation Nr. 337/65 über Vorkommnisse im Zusammenhang mit der provokatorischen Bundestagssitzung in Westberlin
Am 9.4.1965, gegen 9.25 Uhr, versuchte der SPD-Bundestagsabgeordnete Neumann, Franz,1 geb. 14.8.1904, wohnhaft in Berlin-Tegel, [Straße, Nr.], über die Grenzübergangsstelle Drewitz mit dem Pkw nach Westdeutschland zu reisen. Auf die Zurückweisung durch die Grenzsicherungskräfte reagierte Neumann in sachlicher Form mit der Bemerkung, ihm sei eine solche Entscheidung unerklärlich, da er den Veröffentlichungen des »ND«2 entnommen habe, dass Bundestagsabgeordnete nur an der Westgrenze zurückgewiesen werden sollen. Wenn sich diese Weisung auch auf die Berliner Grenze beziehen würde, müsste er dies allerdings akzeptieren. In diesem Zusammenhang äußerte er sein Unbehagen darüber, an West-KPP Dreilinden von den Journalisten über die Zurückweisung befragt zu werden. Eine Presseveröffentlichung sei ihm sehr peinlich, zumal er von einigen Bundestagsmitgliedern bereits auf die Möglichkeit einer Zurückweisung hingewiesen worden sei.
An der GÜST Friedrichstraße versuchte am 9.4.1965, gegen 19.30 Uhr, der wissenschaftliche Assistent des Bundestagsausschusses für Familien- und Jugendfragen und für wirtschaftlichen Besitz des Bundes, Oberregierungsrat [Name 1, Vorname], geb. [Tag, Monat] 1915, wohnhaft in Niederdöllendorf, in die Hauptstadt der DDR einzureisen. Er lehnte es ab, die ihm vorgelegte Erklärung zu unterschreiben.3 Neben der Bemerkung, seine Grundsätze würden dies nicht zulassen, führte er zur »Begründung« noch an, dass er nur »kleiner Mitarbeiter« sei und dass er früher immer ohne Schwierigkeiten hätte einreisen können.
Die Abwicklung des Reiseverkehrs verlief – bis auf die von zeitweiligen Sperrungen betroffenen Verkehrswege – im Wesentlichen normal. Die längsten Wartezeiten traten an der GÜST Marienborn mit 24 bis 29 Std. für Lkw und 12 Std. für Pkw auf. Gegen 9.00 Uhr trat eine vorübergehende Stockung in der Heranführung von Fahrzeugen zu der GÜST Marienborn auf. Es wird eingeschätzt, dass auf westdeutscher Seite zu diesem Zeitpunkt mit einer Sperrung gerechnet worden war. An der GÜST Horst betragen die Wartezeiten für Lkw ca. 20 bis 25 Std. Die Pkw-Abfertigung verläuft normal. Allgemein war ein leichter Rückgang des Reiseverkehrs nach Westberlin zu verzeichnen.
Auf den Wasserwegen hatten sich bis zur Aufhebung der zeitweiligen Sperrung gegen 15.45 Uhr insgesamt 317 Schiffe gestaut, davon 171 aus Westdeutschland, 117 aus der DDR, 28 aus der ČSSR und 1 aus Polen.
An den West-KPP Helmstedt und Töpen–Juchhöh wurden Angehörige des Bundesgrenzschutzes festgestellt, die die von Westberlin nach Westdeutschland reisenden Personen nach Truppenbewegungen auf dem Gebiet der DDR befragten.
Von westlicher Seite aus wurde die intensive Beobachtungstätigkeit unserer Staatsgrenze fortgesetzt, einschließlich der verstärkten Luftaufklärung. An der Staatsgrenze nach Westberlin hielt am 9.4.1965 die verstärkte Streifentätigkeit der Westberliner Polizei ebenfalls an. Gleichzeitig haben die Versuche, zu unseren Grenzposten Kontakt aufzunehmen und sie zur Fahnenflucht aufzufordern, zugenommen.
Am 9.4.1965 erfolgten von Westberlin aus mehrere direkte Provokationen gegen unsere Grenzsicherungskräfte. Gegen 15.45 Uhr bewarfen drei Bauarbeiter vom Gelände des Springerkonzerns4 aus die dort eingesetzten Posten der 2. Kompanie, GR 35, mit Steinen. Gegen 16.45 Uhr warf eine männliche Person vom Leuschnerdamm aus einen Stein gegen Posten der gleichen Einheit. In der Wildenbruchstraße (GR 37) bewarfen Westberliner Jugendliche die Grenzbeleuchtung und zerstörten dabei eine Lampe.
Das Fahrzeug Nr. 22 der amerikanischen Militärverbindungsmission wurde am 9.4.1965, gegen 18.30 Uhr, wegen überhöhter Geschwindigkeit (ca. 180 km/h) auf der Autobahn in Richtung Niemegk gestoppt und anschließend der sowjetischen Kommandantur in Potsdam zugeführt. Am 9.4.1965, gegen 15.55 Uhr, wurde auf der Autobahn in Richtung Marienborn (km 9,8) das Fahrzeug Nr. 6 der britischen MVM gestellt, als die Insassen Militärtransporte auf der Autobahn fotografierten. Die MVM-Angehörigen wurden der sowjetischen Kommandantur in Potsdam übergeben.
Im Zusammenhang mit der am 7.4.1965 in Westberlin stattgefundenen Kabinetts- und Bundestagssitzung und über die von der Regierung der DDR durchgeführten Maßnahmen wurden weiter folgende Einzelheiten bekannt:
In einer persönlichen Unterhaltung brachte der irakische Sonderbotschafter in Kairo, Jamil, am 5.4.1965 zum Ausdruck, dass er die Maßnahmen der DDR gegen die provokatorische Bundestagssitzung in Westberlin begrüßt und voll unterstützt. Er ließ sich ausführlich über die Zurückweisung Brandts5 an der Staatsgrenze der DDR unterrichten und verurteilte in diesem Zusammenhang die von der Bundesregierung und vom SPD-Vorstand betriebene Politik in Deutschland. Gleichzeitig verglich er die Politik der Bundesregierung in der Deutschlandfrage mit der westdeutschen Politik in Israel.6 Er erklärte, die arabischen Länder hätten seit 1952 gemeinsam mit der DDR gegen den westdeutschen Imperialismus kämpfen müssen. Er beabsichtigt, seinen persönlichen Einfluss für die stärkere Gegenmaßnahmen des Irak gegen die Politik Bonns und für eine konsequente Verbesserung der Beziehungen zur DDR geltend zu machen. Er ist bereit, am 10.4.1965 in Kairo mit den dort anwesenden Vertretern der DDR Verbindung aufzunehmen.
Aus anderen Kreisen des irakischen Außenministeriums und aus Journalistenkreisen wurde bekannt, dass sie die durch die DDR eingeleiteten Maßnahmen gegen die Provokation in Westberlin als berechtigt und notwendig einschätzen. Sie erwarten, dass die DDR-Maßnahmen die größtmögliche Härte gegen die Provokateure aufwiesen.
Am 6.4.1965 erklärte der stellv. Leiter der Treuhandstelle für den Interzonenhandel,7 Hillenherms: Obwohl die Zeitungen immer wieder schreiben, dass über die Treuhandstelle bzw. über den Interzonenhandel die DDR unter Druck gesetzt werden sollte, um ihre Maßnahmen rückgängig zu machen bzw. einzuschränken, glaubt er persönlich nicht daran, dass man in Bonn zu solch einer unvernünftigen Lösung schreiten könnte. Die Treuhandstelle hat auch bisher in dieser Frage noch keine Weisungen erhalten. Wenn es keine weiteren Folgen nach sich ziehen sollte, was er allerdings befürchtet, besteht keine Veranlassung, die sich in letzter Zeit entwickelnden positiven Gespräche abzustoppen. Allerdings ist noch nicht zu beurteilen, inwieweit die Gegner des Interzonenhandels in Bonn wieder Oberwasser bekommen. Hillenherms befürchtet jedoch Auswirkungen auf die Passierscheingespräche. Seiner Meinung nach könnte sich das so auswirken, dass die DDR bei den Passierscheingesprächen Forderungen stellt, die für die Bundesrepublik unannehmbar sein könnten. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, wäre es dann möglich, dass sich bestimmte Schwierigkeiten ergeben könnten. Er selbst ist der Meinung, dass diese Bundestagssitzung in Westberlin nicht notwendig war und z. Zt. nur unnötige Sorgen bereiten kann. Es war kein zwingender Grund vorhanden, die Tagung nach 6½ Jahren wieder nach Westberlin zu verlegen.
In Gesprächen mit leitenden Wirtschafts- und Finanzkreisen Westberlins konnte festgestellt werden, dass vor allem die USA für die Durchführung der Bundestagssitzung in Westberlin verantwortlich gemacht werden. Diese Kreise sind folgender Meinung: Wenn der Ami nicht die Genehmigung erteilt hätte, wäre uns alles erspart geblieben. Dass die DDR entsprechend reagieren musste, war klar. Nun scheint es, als ob die Amis über ihren Schritt selbst nicht glücklich sind. Dass sie nur Protestnoten schickten, um nicht das Gesicht zu verlieren, aber sonst keinerlei Maßnahmen ergriffen, bestätigt ihre Meinung.
Am 5.4.1965 äußerte der Pressereferent der Westberlin SPD, Horst Vollrath, zur Bundestagssitzung in Westberlin: Das hätte man früher machen sollen. Jetzt ist die ganze Sache überflüssig und bringt nur unnötige Scherereien mit der Zone. Zu der Zurückweisung Brandts an der Staatsgrenze sagte er: Da können wir nichts machen. Auch der Interzonenhandel kann heute nicht mehr als Waffe gegen Pankow eingesetzt werden. Da ist mehr als eine westliche Nation auf dem Sprung, der Zone gegen gutes Geld alles zu liefern, was sie braucht. Höchstens das Travel Board8 könnte jetzt die Schraube noch mehr anziehen, aber das ist nicht unsere Sache. Vollrath erklärte, dass Brandt, Bahr9 und der Westberliner Senat jetzt mehr als um alles andere um die Durchführung des Passierscheinabkommens10 sowie um die Möglichkeiten einer neuen Passierscheinvereinbarung im Herbst dieses Jahres bangen. Er sagte, die in Bonn denken an unsere Berliner Belange immer zuletzt, sonst hätten sie das Passierscheinabkommen mit einkalkuliert.
Westberliner Senatsangestellte äußerten, dass die Bundesregierung durch ihre inkonsequente Haltung in den letzten Jahren selbst den Anspruch, in Westberlin zu tagen, in ein zweifelhaftes Licht gesetzt hat. Wenn man nach fast siebenjähriger Pause jetzt beteuert, dass man das Recht hat, ständig in Westberlin zu tagen, so muss das unglaubwürdig erscheinen. Auch die Ankündigung von Gerstenmaier,11 dass der Bundestag jedes Jahr einmal in Westberlin zusammentreten soll, kann an dieser heiklen Situation nichts ändern.
Die von den Alliierten gezeigte Zurückhaltung hat für die Bundesrepublik erneut eine blamable Situation entstehen lassen. Die Amerikaner waren sogar so zurückhaltend, dass sie ihre sonst üblichen Hubschrauber-Rundflüge entlang der Grenze unterließen.
In Kreisen linksstehender SPD-Funktionäre wird die Meinung vertreten, dass die Aktionen des Ostens nur dann einen Sinn haben, wenn sie über das Wochenende fortgesetzt werden. Es dürfte jetzt auf keinen Fall damit aufgehört werden, wenn der Osten sein Ziel erreichen will. Am 30. April 1965 wird der Bundesrat in Westberlin tagen und es ist beabsichtigt, daraus eine noch größere Schau zu machen. Sollten die Aktionen seitens des Ostens eingestellt werden, dann wird die Propaganda des Westens dies als einen Erfolg der Proteste der Alliierten auswerten.
Ein SPD-Funktionär aus Kreuzberg vertrat am 9.4.1965 folgende Meinung: In der Luft hat sich nun alles wieder beruhigt. Es wird genauso kommen, wie die meisten Menschen die Aktionen des Ostens eingeschätzt haben, dass nämlich am Wochenende alles wieder vergessen sein wird. Es wäre besser gewesen, wenn der Osten noch eine Weile am Drücker geblieben wäre. Durch das Abflauen der Aktion hat der Osten nur einen halben Erfolgt erzielt.
Aus der Terrororganisation »Vereinigung 17. Juni 1953«12 in Westberlin wurde bekannt, dass sie für die Fertigung des in der Westpresse (u. a. »Telegraf« vom 8.4.1965) gezeigten Transparentes mit der Aufschrift: »Wir begrüßen die Bundestagssitzung in Westberlin« verantwortlich zeichnete. Der im »Telegraf« vom 8.4.1965 abgebildete Träger des Transparentes ist das Mitglied der Terrororganisation [Vorname Name 2], der an mehreren Sprengstoffanschlägen gegen die Staatsgrenze der DDR beteiligt war. Die Absicht der »Vereinigung 17. Juni 1953«, eine Flugblattaktion gegen die SED Westberlin und gegen das Passierscheinabkommen durchzuführen, wurde fallen gelassen, weil sich keiner bereit erklärte, diese Flugblätter zu verteilen. Ursprünglich war beabsichtigt, mit dieser Flugblattaktion zugleich die Durchführung der Bundestagssitzung in Westberlin zu begrüßen.