Äußerungen von Redakteuren der »Práce«
23. Juli 1968
Einzelinformation Nr. 781/68 über Äußerungen von Redakteuren der »Práce« zur innenpolitischen Situation in der ČSSR
Dem MfS wurden von einer zuverlässigen Quelle Äußerungen der »Práce«-Journalisten1 Velenský2 (Chefredakteur), Pudakova (Leiterin der Abteilung Außenpolitik), Vyhlidková (Mitarbeiterin der Abteilung Innenpolitik), Jiříček (Mitglied des Redaktionskollegiums) und Fachner (ehemaliger Mitarbeiter der Abteilung Außenpolitik) zu folgenden Fragen bekannt:
- –
Situation in der KSČ,
- –
Rolle einer »Oppositionspartei«,
- –
Lage in den Gewerkschaften und in den Betrieben,
- –
Berichterstattung der DDR-Presse über die Entwicklung in der ČSSR,
- –
Einschätzung des westdeutschen Imperialismus.
Im Einzelnen erklärten die »Práce«-Journalisten, die Abberufung »kompromittierter Mitglieder des ZK der KSČ« könne notfalls durch einen Generalstreik durchgesetzt werden. Eine Reihe von Betriebsbelegschaften habe bereits entsprechende Beschlüsse gefasst. Gegenwärtig seien Massenaustritte aus der KSČ zu verzeichnen. Außerdem würden es viele Kommunisten vorziehen, in den Betrieben und Wohngebieten nicht als Mitglieder der KSČ in Erscheinung zu treten.3
Nach Auffassung der erwähnten Journalisten sei die Bildung einer »Oppositionspartei« in der ČSSR, die die Aufgabe einer »Kontrollpartei« gegenüber der KSČ zu erfüllen habe, notwendig. Eine solche Partei garantiere die Einhaltung der Gesetzlichkeit in der ČSSR und bilde die Gewähr dafür, dass die KSČ nicht wieder in ihre »alten Fehler« verfällt; sie sei ein Ausdruck echter Demokratie.4
In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, dass sich die der katholischen Kirche nahestehende Volkspartei in der ČSSR sprunghaft entwickelt hat und ständig steigende Mitgliederzahlen aufweist.5
Die »Práce«-Journalisten sind der Meinung, dass im Zuge des »Demokratisierungsprozesses« in der ČSSR6 ein »demokratischer Sozialismus entstehe, der als Modell für alle europäischen Länder – sowohl für die sozialistischen als auch die kapitalistischen Länder – annehmbar sei.7
In den Gewerkschaften der ČSSR setzt sich, nach ihrer Darstellung, der Prozess der Auflösung fort. Zentrale Gewerkschaftsverbände existierten bereits nicht mehr. Auch die Industriegewerkschaftsverbände lösten sich auf. Es bildeten sich immer mehr Berufsvereinigungen (bis jetzt 30–40), die mit eigenen Forderungsprogrammen auftreten. Die Gewerkschaften seien in den Betrieben faktisch bedeutungslos geworden. Der Zentralrat der Gewerkschaften übe keinerlei Leitungsfunktionen mehr aus. Die KSČ nehme zu diesem Auflösungsprozess nicht Stellung.8
Nach Auffassung der »Práce«-Journalisten hätten in der Vergangenheit die Gewerkschaften unter der alten Führung der KSČ völlig versagt. Anstatt Interessenvertreter der Arbeiterklasse zu sein, hätten sie sich lediglich als »Ja-Sager« zur Politik der KSČ-Führung betätigt. Es sei nicht die Aufgabe der Gewerkschaften, sich um die Erhöhung der Arbeitsproduktivität, die Erfüllung des Volkswirtschaftsplans und den Wettbewerb zu kümmern. Ihre Aufgabe habe ausschließlich darin zu bestehen, die sozialen Interessen der Arbeiter zu vertreten. Sie müssten sich zum »Sozialpartner der Regierung« entwickeln.9
Charakteristisch für die Situation in der Industrie sei gegenwärtig, dass in zahlreichen Betrieben völlig ungeordnete Zustände herrschen. Betriebsleiter würden abgesetzt, die Produktion stagniere, die Qualität der Erzeugnisse sei oft mangelhaft und zunehmend würden Schwierigkeiten beim Absatz der Erzeugnisse auftreten.10 Infolge schlechter Arbeitsorganisation und mangelhafter Leitungstätigkeit sinke die Arbeitsmoral ständig. Immer mehr Arbeiter produzieren in den Betrieben für den eigenen Bedarf oder für den privaten Verkauf. Man eignet sich das Material unrechtmäßig an und schmuggelt die Erzeugnisse aus den Betrieben. Es häuften sich die Fälle, dass Erzeugnisse der Betriebe verschoben werden.
Nach Ansicht der erwähnten Redakteure gebe diese Situation keinen Anlass zur Verwunderung. Die Arbeiter seien äußerst verbittert gewesen über die Politik der alten KSČ-Führung und Regierung, über die Ungesetzlichkeiten und die verfahrene Wirtschafts- und falsche Nationalitätenpolitik. In diesem Zusammenhang setze man große Hoffnungen auf die Wirtschaftskonzeption von Ota Šik,11 die, wie man glaubt, eine inflationistische Entwicklung verhindern und zur Normalisierung der Lage in der Wirtschaft führen werde.
Die »Práce«-Journalisten verurteilten die Veröffentlichungen in der DDR-Presse zur Entwicklung in der ČSSR, durch die das Ansehen der DDR in der ČSSR stark gelitten hätte. (Die Journalisten kritisierten in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen12 Prof. Hagers.13) Sie glauben, dass es zu einer bedrohlichen Zuspitzung des Verhältnisses zwischen der ČSSR und der DDR kommen könnte, falls die DDR-Presse die bisher praktizierte Berichterstattung fortsetzt.
Zur Einschätzung der Rolle des westdeutschen Imperialismus wurde zum Ausdruck gebracht, dass die Mitarbeiter der »Práce« eine grundsätzlich andere Auffassung als die Genossen in der DDR vertreten. Sie stehen auf dem Standpunkt, dass die Bonner Regierung trotz des Geschreies der Revanchistenverbände keine ernsthaften aggressiven Absichten gegenüber der ČSSR hat.
Die Notstandsgesetzgebung14 sei einzig und allein ein Instrument der Bonner Innenpolitik; daraus könnte keine aggressive außenpolitische Zielstellung abgeleitet werden.
Die von der DDR gegebene Einschätzung der Rolle der SPD-Führer als Erfüllungsgehilfen der CDU/CSU wird abgelehnt. Die »Práce«-Journalisten sind demgegenüber der Meinung, dass sich für die westdeutsche Arbeiterklasse durch die Beteiligung der SPD-Führer an der Bonner Regierung neue Möglichkeiten für die Durchsetzung ihrer Interessen ergeben hätten.15
Die Information kann nicht publizistisch ausgewertet werden.
Soweit eine Auswertung gewünscht, wird um Abstimmung gebeten.16