Anonymer Brief an den 1. Sekretär der SED-Kreisleitung in Weißenfels
15. April 1968
Einzelinformation Nr. 416/68 über einen anonymen Brief an den 1. Sekretär der Kreisleitung der SED Weißenfels, [Bezirk] Halle
Am 22.3.1968 erhielt der 1. Sekretär der Kreisleitung der SED Weißenfels, [Bezirk] Halle, ein anonymes Schreiben, dessen Inhalt sich auf die Entwicklung in der ČSSR bezieht.
Aufgrund der durch das Ministerium für Staatssicherheit sofort eingeleiteten Maßnahmen wurde am 26.3.1968 der [Name, Vorname 1], geboren [Tag, Monat] 1930, wohnhaft Weißenfels, [Straße, Nr.], beschäftigt beim Rat des Kreises Weißenfels als Mitarbeiter der Abteilung Finanzen, verheiratet, ein Kind, parteilos, als der Schreiber des anonymen Briefes ermittelt. Der [Name] ist Vollinvalide und fast völlig erblindet. Er gilt als sehr gewissenhafter und zuverlässiger Mitarbeiter und ist bereits seit ca. zehn Jahren in der gleichen Abteilung des Rates des Kreises Weißenfels tätig.
Der [Name] wird von Mitarbeitern des Rates des Kreises als sehr intelligent bezeichnet und infolgedessen auch allgemein geachtet. Der [Name] ist sehr kritisch veranlagt und äußerst pedantisch. Am politischen Geschehen nimmt er regen Anteil und ist umfassend über politische Probleme informiert. Es konnte festgestellt werden, dass [Name] neben den Sendern des Rundfunks der DDR auch westliche Rundfunkstationen empfängt.
Der [Name] ist Vorsitzender des Blindenverbandes von Weißenfels. Er unterhält Verbindung nach Westdeutschland zu einem Bekannten, der ebenfalls erblindet ist. Die Korrespondenz zwischen beiden Personen erfolgt mithilfe der Blindenschrift. Darüber hinaus besteht seitens des [Name] noch Verbindung zu seiner in Westdeutschland lebenden Mutter, die von ihm 1966 und 1967 besucht wurde.
Durch entsprechende Ermittlungen konnte festgestellt werden, dass der [Name] sämtlichen Briefwechsel persönlicher Art während seiner Arbeitszeit erledigt, wozu er ein Blindendiktiergerät sowie eine Blindenschreibmaschine benutzt.
Die Ehefrau des [Name], [Name, Vorname 2], geboren [Tag, Monat] 1935, parteilos, ist als Lehrerin an der Beuditz-Oberschule I in Weißenfels tätig. Eine Position zu politischen Problemen bezieht sie innerhalb des Lehrerkollektivs nicht, obwohl sie aufgrund ihrer Intelligenz und geistigen Regsamkeit durchaus in der Lage wäre, Gegenwartsprobleme einzuschätzen.
Der zu verarbeitende Lehrstoff wird von ihr völlig beherrscht, aufgrund ihrer Lehrbefähigung gibt es Anzeichen von Überheblichkeit. Über den Inhalt von Diskussionen in den oberen Klassen ist die [Name] demzufolge informiert.
Der Sohn der Familie [Name] – acht Jahre alt – befindet sich in einem Blindeninternat. Ein von [Name] in seinem anonymen Brief erwähnter Sohn bei der NVA existiert nicht. Die Wohnung der Familie [Name] liegt in der Nähe von militärischen Objekten der NVA, in der Umgebung wohnen einige Offiziere des Standortes.
Der [Name] hat bereits in der Vergangenheit einen anonymen Brief an die Kreisleitung der SED gerichtet, dessen Inhalt sich gegen das Belästigen der Bevölkerung beim Durchbrechen der Schallmauer durch Flugzeuge richtet. Aufgrund dessen wurde mit [Name] durch den Vorsitzenden des Rates des Kreises eine entsprechende Aussprache geführt.
Da der erneute anonyme Brief des [Name] ebenfalls keine Verletzung von Strafrechtsnormen darstellt, wurde in Absprache mit dem 1. Sekretär der Kreisleitung festgelegt, eine Aussprache mit [Name] durchzuführen, an der der 1. Sekretär der Kreisleitung der SED sowie der Vorsitzende des Rates des Kreises teilnehmen. Das Ziel der Aussprache besteht darin, ähnliche Handlungen des [Name] zu unterbinden.