Aufenthalt des Prager Philosophen Machovec in der DDR
9. Mai 1968
Einzelinformation Nr. 510/68 über den Aufenthalt des Leiters der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität Prag, Prof. Dr. Machovec, in der DDR
Der Leiter der Philosophischen Fakultät der Karl-Universität Prag, Prof. Dr. Milan Machovec,1 hielt sich in der Zeit vom 30.4. bis 3.5.1968 in der DDR (in der Hauptstadt Berlin und in Naumburg, [Bezirk] Halle) auf.
Machovec war während der Tagung der »Internationalen Paulus-Gesellschaft«2 (27.–30.4.1967 in Marienbad/ČSSR) von katholischen Teilnehmern aus der DDR zu dieser Reise in die DDR eingeladen worden.
Auf dieser Tagung der »Paulus-Gesellschaft«, die sich mit der Organisierung des sogenannten Dialogs zwischen katholischen Christen und Marxisten beschäftigte, trat Machovec für eine ideologische Koexistenz zwischen Christen und Marxisten ein.3 Sein Auftreten auf dieser Tagung erfolgte als Vertreter der KSČ4 und als Beauftragter des ZK der KSČ.
Er arbeitete dort eng mit der damaligen Leiterin der Abteilung für Theorie und Soziologie der Religion am Soziologischen Institut der Akademie der Wissenschaften der ČSSR und jetzt neueingesetzten Leiterin des Staatsamtes für Kirchenfragen, Erika Kadlecová,5 zusammen.
Während der »III. Allchristlichen Friedenskonferenz« (31.3.–5.4.1968 in Prag)6 war Machovec, obwohl er nicht Mitglied der »Prager Christlichen Friedenskonferenz«7 ist, der Organisator sogenannter Seminare an der Karls-Universität, zu denen Teilnehmer der III. ACFV aus den sozialistischen Ländern eingeladen wurden. Auf diesen Seminaren gab Machovec dem von Westdeutschland aus eingereisten führenden Funktionär des SDS,8 Rudi Dutschke,9 die Möglichkeit, die DDR zu verleumden. Der Assistent von Machovec, Dr. Fišer,10 bezeichnete dabei u. a. Mao Tse-tung11 als den »größten lebenden Leninisten und als Schrittmacher der Verselbstständigung der kommunistischen Parteien gegenüber der Sowjetunion« und sprach sich für eine Auswirkung der »Kulturrevolution« auf die sozialistischen Länder aus.
(Machovec gehört in der ČSSR zu den Kräften, die vor allem in den ersten Wochen nach dem Januar-Plenum sehr aktiv mit revisionistischen Thesen und Forderungen auftraten,12 sich aber jetzt stärker im Hintergrund halten und vorwiegend in internen Diskussionskreisen auftreten. M. ist Mitverfechter einer Reihe von provokatorischen Forderungen der Kirche der ČSSR, wobei er jedoch offiziell wenig in Erscheinung tritt. Er ist Mitherausgeber der in Wien erscheinenden Zeitung »Neues Forum«, die den sogenannten revolutionären Marxismus von E. Fischer13 und Roger Garaudy14 publiziert. Machovec hält Verbindung zu den reaktionärsten Kreisen des Schriftstellerverbandes der ČSSR – besonders zu Kohout15 und Goldstücker16 – und beeinflusst in diesem Sinne auch seine Studenten. Enge Verbindung besteht zum apostolischen Administrator der Erzdiözese Prag, Bischof Tomášek.17)
Während seines Aufenthalts in der DDR trat Machovec in folgenden Orten und Gremien auf:
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1.5.1968, 9.30 Uhr, »Ost-West-Treffen« im Gemeindezentrum Berlin-Johannisthal
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1.5.1968, 20.00 Uhr, Veranstaltung der Katholischen und Evangelischen Studentengemeinden in der Katholischen Studentengemeinde Berlin
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2.5.1968, 19.30 Uhr, Vortrag im Katechetischen Oberseminar Naumburg18 über »Christliche und marxistische Begegnung in der modernen Gesellschaft«
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3.5.1968, 11.00 Uhr, Wiederholung des Vortrages im Katechetischen Oberseminar Naumburg
Ursprünglich war für den Aufenthalt des M. in der DDR die Zeit vom 30.4. bis 5.5.1968 vorgesehen. Offensichtlich war jedoch seine Reise in der DDR vonseiten der katholischen Teilnehmer der DDR an der damaligen Tagung der »Internationalen Paulus-Gesellschaft« ungenügend und nicht seinen Vorstellungen entsprechend organisiert worden. M. reiste daher bereits am 3.5. ohne Angabe von Gründen vorzeitig in die ČSSR zurück.
Über den Aufenthalt des Machovec in der DDR wurde im Einzelnen bisher Folgendes bekannt:
M. traf am 30.4.1968 am späten Nachmittag mit dem Zug in Berlin ein und suchte den evangelischen Pfarrer Leuchtenberger,19 Berlin-Friedrichshain, Friedensstraße 1, auf. Von dort wurde er vom katholischen Studentenpfarrer Müller20/Berlin abgeholt, in dessen Wohnung er auch übernachtete.
Am 1.5.1968, 9.30 Uhr, erschien Machovec zum sogenannten Ost-West-Treffen zwischen evangelischen Pfarrern aus der DDR und Westdeutschland im Evangelischen Gemeindezentrum Berlin-Johannisthal, Sterndamm 90–96, das von Pfarrer Theuerkauf21 veranstaltet wurde.
An diesem Treffen nahmen ca. 80 Personen aus der DDR teil, bei denen es sich im Wesentlichen um Geistliche und aktive Gemeindemitglieder der Landeskirche Berlin-Brandenburg handelte. Aus Westdeutschland war [Vorname Name], wohnhaft Buchholz/Nordheide, [Straße, Nr.], Laienvorsitzender im Sozialpfarramt Hamburg, mit ca. 20 Personen anwesend. Vor diesem Personenkreis hielt Machovec einen Vortrag über »Atheismus und Christentum – wechselseitige Herausforderung als Aufgabe«. M. hielt sich bei seinen Ausführungen im Wesentlichen an ein von ihm erarbeitetes Manuskript, brachte jedoch auch einige improvisierte Zwischenbemerkungen. Unter anderem führte er aus: »Wenn es Marxisten gibt, die sich nicht für den Dialog mit den Christen interessieren, verstehen sie sich selbst und ihre eigene Aufgabe nicht. Doch ist der Dialog in den letzten Jahren zu einer Mode geworden, wobei deutlich wird, dass für den echten Dialog nicht so sehr seine Gegner als seine unaufrichtigen Anhänger gefährlich sind. Der Dialog wird dabei zur Show, wie z. B. die Tagung der »Paulus-Gesellschaft« in Marienbad. In gewissen Situationen ist die Forderung nach Dialog irreal, wie heute in Vietnam oder in der vorrevolutionären Epoche des Marxismus.« M. führte weiter aus, er selbst habe der kommunistischen Bewegung Treue gehalten, nicht aber der »kommunistischen Erstarrung«. Dem Marxismus fehle ein Modell zur Beantwortung solcher Fragen wie Tod, Schuld und Krankheit, Sinn des Lebens usw. Diese Fragen würden gerade von den jungen Menschen in der ČSSR gestellt werden. Für Marx sei es leicht gewesen, Hungernde zu begeistern. Werde seine Lehre aber auch die Satten in der Gegenwart begeistern können?
Zur Zusammenarbeit zwischen Marxisten und Christen meinte er, sie sei erst möglich, wenn man sich zuvor in wichtigen Grundfragen im Einklang befinde. Früher sei es bei den Funktionären üblich gewesen zu erklären: Bevor das Christentum abstirbt, könne der Pfarrer wenigstens noch etwas für den Frieden tun. Solche Haltung der Marxisten sei jedoch unmöglich, weil sie für den Christen keine Perspektive enthalte. Man müsse erst Raum haben für alle Gespräche, dann erst werde man frei zu gemeinsamer Zusammenarbeit.
Zum Schluss seines Vortrages stellte Machovec die Frage nach dem »Primat des Marxismus«. Als »Züge des sich selbst reflektierenden Marxismus« nannte er
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die radikale Negation des Bestehenden,
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die prophetische Dimension der Zukunftssuche (im Gegensatz zu einer Zufriedenheit mit dem gegenwärtig Erreichten, einen »Gulaschkommunismus«22),
- 3.
die sozialökonomische Dimension (die in der ČSSR vielleicht gegenwärtig überbetont würde, da man alle Hoffnungen auf die Wirtschaftsexperten setze),
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die politische Lehre und Aufgaben (was bei Verabsolutierung zu bloßer Machtpolitik führen müsse),
- 5.
das Bemühen, geistiger Ausdruck der Gegenwart zu sein.
In der ČSSR seien gegenwärtig besonders die Mittelschulen immer noch Bastionen des dogmatischen Marxismus. Bei Diskussionen mit Lehrern falle auf, dass sie immer noch alles »von oben« erwarten – also heute vorfabrizierte Modelle eines demokratischen Sozialismus, statt eigenverantwortlich zu denken. Der Marxismus aber müsse revolutionär geistiger Ausdruck der Gegenwart sein und nicht eine tote Struktur der Begriffe der Vergangenheit. Heute sei zu fragen, was der Marxismus der nachrevolutionären Epoche der »Satten« zu bieten habe, z. B. Antwort auf die Frage individueller Verantwortung und moderner Formen der Entfremdung (z. B. einer Verfallenheit und Hörigkeit gegenüber dem Sport).
Von diesem »Ost-West-Treffen« begab sich Machovec zur Thorner Straße 64, wo um 20.00 Uhr eine Veranstaltung der Katholischen und Evangelischen Studentengemeinden, organisiert vom katholischen Studentenpfarrer Müller, stattfand.23 Anwesend waren 450 Personen der verschiedensten Fakultäten der Hauptstadt und aus den Bezirken der DDR. Die Theologische Fakultät der Humboldt-Universität Berlin war nur schwach vertreten.
Die Veranstaltung wurde durch den Studentenpfarrer Mieth24/Berlin eröffnet und im Wesentlichen durch den Vortrag Machovec’ »Der Sinn des menschlichen Lebens aus der Sicht des Marxisten« bestritten. Machovec führte u. a. Folgendes aus: Der Sinn des Lebens würde erst dann zu beantworten versucht werden, wenn der Mensch am Rande einer Katastrophe stünde. Die Zugehörigkeit zu einer Idee – Kommunismus oder Christentum – könne diese Ausweglosigkeit leichter überbrücken helfen. Um den Sinn des Lebens beantworten zu können, müsse man sich folgende Fragen vorlegen:
- 1.
die wissenschaftlich-ontologische Dimension (wer ist die Menschheit, worin besteht das Phänomen der Menschen?),
- 2.
die anthropologische-ethische Dimension (was dürfen wir glauben, was bedroht den Menschen und wie ist sein Verhältnis zur Technik?),
- 3.
die geschichtlich-philosophische Dimension (welche Antworten gab es auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, warum sind wir in dieser Beziehung immer am Anfang, obwohl es alte Weisheiten darüber gibt?),
- 4.
die individuell-existentielle Dimension (was bedeutet das menschliche Ich, was bedeutet mein Glück, meine Schande etc.),
Ein Marxist lebt und würde nicht die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen. Über dieses Problem habe er 1957 ein Buch25 herausgegeben und sei daraufhin von einem Marxisten als Revisionist bezeichnet worden. 1962 habe er erneut ein Buch zu diesem Thema geschrieben und sei daraufhin als Romantiker bezeichnet worden.26
Durch den Marxismus sei eine neue Massenbewegung entstanden, die auf atheistischer Grundlage basiere. Die Frage nach dem Sinn des Lebens müsse in Zukunft die Kernfrage des Marxismus werden. Der Atheist habe noch Schwierigkeiten bei der Beantwortung dieser Frage. Die Gesetzmäßigkeiten der Schöpfung würden z. B. dem Christen eine genauere Beantwortung dieser Frage als dem Atheisten geben. Es wäre einseitig zu meinen, dass die religiöse Epoche in der Suche nach dem Sinn des Lebens unnötig wäre. Der kritische Atheist sollte wissen, dass Religion das Geheimnis des Menschen entdeckte. Durch die Kategorie Gott hat die Menschheit eine bedeutende Kunst erhalten, alles zu erklären. Der Mensch würde einen existentiellen Sinn des Lebens benötigen. Der Christ würde diesen durch die Existenz Gottes haben. Der Atheist müsse sich einen Erdgott schaffen in Form einer Partei, eines Staates oder sogar eines Staatsmannes. Der Marxismus oder Kommunismus sei nicht ein neuer Staat. Man könne sagen, was im Kommunismus nicht sein wird, aber was sein wird, könne nicht gesagt werden. Der Dialog zwischen Marxisten und Christen dürfe darauf nicht beschränkt bleiben, sondern müsse alle Bereiche des Lebens erfassen.
Machovec betonte während seiner Ausführungen mehrmals, dass er Marxist sei und in der ČSSR der »fortschrittlichen Reformbewegung« angehöre.
Die Ausführungen Machovec’ erhielten sehr starken Beifall. In der anschließenden Diskussion wurden von den Studenten keine gegen die DDR gerichteten provokatorischen Fragen gestellt. Die Diskussion behandelte Themen wie:
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Was ist Humanisierung des Menschen?
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Was ist der Maßstab für menschlich?
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Welche Vorbilder müsse man sich nehmen und welche Vorbilder würde Machovec besitzen?
Machovec beantwortete diese Frage u. a. wie folgt: Um zum Humanismus zu kommen, müssten Kriege, Rassenhass, Hunger und Klassenkampf schon in diesem Jahrhundert antiquiert werden. Alle klassischen Freiheiten des Menschen müssten gewährt sein. Die dialogischen Kontakte müssten die einzigste Form des menschlichen Daseins werden. Man könne nicht erwarten, dass die Demokratisierung in allen Ländern gleichermaßen erfolge. Jedes Land habe seinen eigenen Weg. Der Verdacht gegen die ČSSR, dass sie zurück zum Imperialismus wolle, sei falsch. Eine gute Sache, wie sie sich dort zeige, sei immer bedroht. Das werde auch in anderen sozialistischen Staaten so sein. Man könne z. B. den Weg des großen Russland nicht gleichsetzen mit der Entwicklung der kleinen ČSSR. Ein Marxist habe Vorbilder in allen großen Suchenden. Auch das Beispiel Jesus-Christus würde viel sagen. Es würde nicht nur einen großen Jesus geben, sondern auch Buddha, Goethe, Beethoven usw. können geehrt werden. Der Marxist dürfe sich nicht nur von einer Gestalt beeinflussen lassen. Der Marxismus wolle kein Dogma von der Nichtexistenz Gottes stellen, sondern der Marxismus sei Kritik am Gottesglauben. Entweder es gibt einen Gott, dann wird er den Sozialisten und Kommunisten nicht böse sein und den Unterdrückten helfen. Gibt es keinen Gott, dann ist es die Pflicht des Marxisten, den Humanismus durchzusetzen. Der Marxist brauche Disziplin, aber aus der Partei dürfe kein Abgott gemacht werden.
Am 2.5.1968 traf Machovec am späten Nachmittag mit dem Zug in Naumburg ein, wo er das Katechetische Oberseminar aufsuchte. (Im Oberseminar war seit 1.5.1968 durch Aushang ein Vortrag »Christliche und marxistische Begegnung in der modernen Gesellschaft« für den 2.5. angekündigt worden, ohne dabei den Namen des Referenten zu nennen. Inoffiziell wurde bekannt, dass der geplante Vortrag von Prof. Machovec innerhalb des Lehrkörpers des Katechetischen Oberseminars zu Unstimmigkeiten geführt hatte. Der jetzige Leiter des Oberseminars Dr. von Rabenau27 – die Leitung des Oberseminars liegt abwechselnd in den Händen von Pfarrer Dr. Hamel28 und Dr. von Rabenau – hatte Bedenken in der Richtung geäußert, er wolle es durch das Auftreten des Machovec nicht zu Komplikationen mit dem Staatapparat kommen lassen.)
Machovec wurde von Dr. von Rabenau begrüßt. Im Laufe der Unterhaltung wurde ihm durch von Rabenau zu verstehen gegeben, eine Bezugnahme auf die Ereignisse in der ČSSR sei unerwünscht.
Zur Veranstaltung erschienen ca. 150 Personen (vorwiegend Teilnehmer des Oberseminars, besonders eingeladene Mitglieder verschiedener KSG und ESG sowie Vertreter des Oberseminars Naumburg). Ausgangspunkt der Ausführungen Machovec’ war die Frage nach Gemeinsamkeiten zwischen Christen und Marxisten. Gemeinsamkeiten seien in soziologischer und gesellschaftlicher Hinsicht vorhanden, ebenso was die Erhaltung des Friedens und die Bannung des Hungers beträfe. Es gebe aber auch Differenzen: Beide kennen sich nicht genügend oder sie wollen sich nicht kennen. Das sei vor allem kennzeichnend gewesen für die Periode des Personenkults und der Stalinschen Ära. Hier wäre es zu Unduldsamkeiten gekommen. Das hätte sich vor allem bei der Erreichung der Koexistenz bemerkbar gemacht. So wie der Papst unduldsam gewesen sei gegen moderne Erkenntnisse, so habe es einen unlogischen Kampf von marxistischer Seite während der Zeit des Personenkults gegeben. In dieser Zeit hätten die sogenannten Marxisten die Kirche und ihre Lehre nur benutzt, um sie ihren Zwecken unterzuordnen und um sie dann später beseitigen zu können.
Machovec ging in seinem Vortrag nicht auf die Entwicklung in der ČSSR sowie auf die DDR oder Westdeutschland betreffende Probleme ein. Durch seinen gesamten Vortrag zog sich deutlich die Betonung der friedlichen Koexistenz, die er auf alle gesellschaftlichen Bereiche angewendet wissen wolle. Wiederholt sprach er von »falschen Propheten«, die es sowohl im Christentum als auch im Marxismus geben würde, wobei er »falsche Propheten des Marxismus« als Opportunisten bezeichnete. Die anschließende Diskussion umfasste keine Fragen nach den Ereignissen in der ČSSR, sondern lediglich philosophische Aspekte.
Im Verlauf der Diskussion wurde von einem Pfarrer die Frage nach dem Sinn der Gewalt in der Geschichte gestellt, wobei er Lenin zitierte, wonach zu bestimmten Zeiten der Revolution Härten notwendig seien. Prof. Machovec antwortete darauf, früher hätte er auch so gedacht, heute könne er das nicht mehr anhören. Er ging kurz auf den »Stalinismus« ein und meinte, die »Schauprozesse« in der ČSSR29 seien nie entschuldbar.
Eine weitere Frage beinhaltete die Stellung Machovec zur »Prager Christlichen Friedenskonferenz« (PCF).30 M. äußerte, er habe kein Verhältnis zur PCF, er gehöre ihr auch nicht an, habe aber guten Kontakt zu einigen Mitgliedern. (Intern wurde bekannt, dass Machovec nach dieser Veranstaltung ein Telegramm nach Prag aufgab, in dem er seine vorzeitige Rückkehr für den nächsten Tag ankündigte.)
Am 3.5., 11.00 Uhr, widerholte Machovec seinen Vortrag im Oberseminar Naumburg vor ca. 100 Personen (Lehrkörper und Studentenschaft der Einrichtung). Bei Beginn der Veranstaltung erklärte M., er habe im Anschluss an seinen Vortrag nur zehn Minuten Zeit für die Diskussion.
In freier Ergänzung seines Manuskriptes führte Prof. Machovec u. a. aus: Er sei gegen eine Fetischisierung des Staates, gegen eine Überbetonung, wie z. B. in der DDR. Diese hohe Autorität des Staates wäre aber eine typische deutsche Mentalität. In der ČSSR sei das schon immer etwas anders gewesen. In Bezug auf die Erschließung des Kosmos bezeichnete Prof. Machovec den Menschen als noch unvollkommen. Es sei erforderlich, erst das irdische Dasein zu vervollkommnen, ehe man in den Kosmos vordringt. Sollte es dabei tatsächlich gegenwärtig zur Begegnung mit anderen Lebewesen kommen, so müssten die Kosmonauten auf entsprechende Fragen antworten, auf der Erde gebe es noch Krieg, Mord und Totschlag. M. lehnte eine Überbetonung der Arbeit ab. Er sei entschieden gegen Lieder, die die Arbeit verherrlichen. Man solle künftig intensiver auf eine Humanisierung der Arbeit hinwirken. M. sprach sich weiterhin gegen eine Überbetonung des Kollektivs aus. Der Sinn des Lebens sei in der Perfektionierung des einzelnen zu suchen. Die menschlichen wie mitmenschlichen Beziehungen seien bisher zu kurz gekommen. Deshalb seien Rückschläge und Deformierungen zu verzeichnen.
Die Geschichtsschreibung sei eine doktrinäre, sie habe sich vorzugsweise mit der wirtschaftlichen Seite der Entwicklung beschäftigt. Die Rolle und Größe der Personen und Gestalten sei dabei zu wenig beachtet worden. Man habe die Rolle der Persönlichkeit unterschätzt. Der Sinn des Lebens besteht im Dialog von Mensch zu Mensch. Die Einseitigkeit des Marxismus-Leninismus sei darin zu sehen, dass er sich erst mit den Produktionsverhältnissen und Produktivkräften beschäftigt habe. Der Dialog müsse von Freund zu Freund, in der Familie und über die Vergangenheit geführt werden und sich mit dem Problem Tod auseinandersetzen. Nur in diesem Rahmen sei der Dialog sinnvoll.
Dozent Schulz31 vom Oberseminar Naumburg sprach Prof. Machovec den Dank für den Vortrag aus und erklärte, dass die hier versammelten noch niemals so eine gründliche Darstellung des Marxismus durch einen Marxisten erhalten hätten. Aber dies liege am »hiesigen Horizont«. Ein Dialog im o. g. Sinne sei wünschenswert.
Prof. M. ließ sich nach der Veranstaltung mit einem Pkw zur Autobahn (Rennstrecke Dessau) bringen, dort absetzen, ging ein Stück zu Fuß und fuhr dann per Anhalter nach Hohenstein-Ernstthal, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt. Von dort fuhr er mit der Bahn nach Dresden – Prag und verließ 19.23 Uhr über GÜSt Schmilka die DDR.
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