Auffassungen und Pläne einflussreicher revisionistischer Kreise in KSČ
15. Juni 1968
Einzelinformation Nr. 651/68 über die Auffassungen und Pläne einflussreicher revisionistischer Kreise in der KSČ
In dieser Information werden die Auffassungen führender revisionistischer Kreise der KSČ1,2 die entscheidende Funktionen an der Parteihochschule der KSČ3 und an der Militärpolitischen Akademie der ČSSR4 bekleiden, ausführlich und weitgehend wörtlich wiedergegeben. Diese bekannt gewordenen Auffassungen geben – im Vergleich zu anderen bekannten Äußerungen solcher Kräfte – eine gewisse Übersicht über die Haltung, Pläne und Absichten der führenden revisionistischen Kreise der KSČ insgesamt.
Diese Kreise, die sich selbst als Revisionisten betrachten und bezeichnen, sind der Auffassung, dass man Marx und seine Theorien in Ruhe lassen müsse, denn die heutige Gesellschaftstheorie ist mit dem Marxismus nicht zu bewältigen. Sie fordern: Man muss die starre, orthodox marxistische Gesellschaftstheorie durch eine moderne, soziologische und technokratische ersetzen.5 Mit ihren Auffassungen identifizieren sie sich nicht mit den klassischen Marx-Revisionisten, da sie keinen Streit über diese oder jene Marxsche Variante führen, sondern die »Vertreter einer völlig neuen Gesellschaftstheorie« sind.6
Die Entwicklung in der ČSSR halten sie für noch nicht eindeutig abgesichert. Es sei eine Tragik, dass sich die Kräfte der Partei immer mehr zersplittern und »ehemals progressive Kräfte sich zu konservativen Kräften entwickeln«. Das gilt besonders für die slowakische Gruppe. Bei der Ablösung Novotnýs7 »traten sie sehr gut auf, jetzt werden sie immer konservativer«.8 Überhaupt sei kennzeichnend, dass alle Kräfte, die ihre Existenzgrundlage in der Partei haben, sich zum »konservativen Flügel« hin entwickeln. Die erste Welle der Auseinandersetzung führte zur Ablösung einer Reihe von Funktionären, indem ihre aktive Rolle in den »dogmatischen, menschenfeindlichen und verbrecherischen Deformationen des Sozialismus« nachgewiesen wurde. Da aber im Grunde genommen alle Parteifunktionäre daran beteiligt waren, wird das zu einem Faktor, der all diese Kräfte im Kampf um ihre Existenz wieder zusammenschweißt.
Die gleichen Leute, die früher 10 000 und mehr aus hohen Funktionen hinausgeworfen haben und Repressalien aussetzten, sträuben sich jetzt mit allen Mitteln gegen ihre Ablösung. Nur wenige Funktionäre des Parteiapparates seien in der Lage, einen qualifizierten Beruf auszuüben. Das sei im Moment die größte Kraft, die gegen die »neue Gesellschaftstheorie und gegen die Demokratisierung auftritt«, wofür die eindeutige Ursache in der subjektiven Existenzangst liege.
Im Parteiapparat werde jetzt überall die Korruption aufgedeckt. Davon seien auch Mitglieder des ZK betroffen. In diesem Zusammenhang wird behauptet, dass Novotný vor seiner Ablösung 6 Mio. Kronen beiseite gebracht habe. Außerdem habe er einer Reihe von ZK-Mitgliedern in den letzten Monaten vor seiner Ablösung relativ hohe Summen zukommen lassen. Unangenehm sei, dass auch Dubček9 solche Zuwendungen erhalten haben soll.10
Novotnýs Grundhaltung kennzeichne ihn als den hauptmobilisierenden Faktor der »konservativen« Kräfte. Novotný tritt starr und frech auf. Er findet sich in keiner Weise mit dem neuen Kurs ab. Sein persönliches Auftreten »veranlasst viele konservative Kräfte, im Parteiapparat durchzuhalten«. Durch das Verhalten der sowjetischen Führer sei erkennbar geworden, dass Novotný sein Hinterland in Moskau habe. Der Kampf zur Klärung würde sich jetzt in Vorbereitung des Parteitages entscheiden, da sein »Erfolg« von seiner Vorbereitung bestimmt werde.
Alle Kräfte seien von der Notwendigkeit der führenden Rolle der Partei überzeugt, jedoch wird ihr ein unterschiedlicher Inhalt gegeben. Die »konservativen Kräfte möchten die führende Rolle nutzen, um die Massen manipulieren und ungehindert die Macht ausüben zu können«. Sie würden die führende Rolle der Partei mit der Ausübung der Macht durch eine privilegierte Gruppe, die »im Namen einer anonymen Masse« herrscht, gleichsetzen. Der absolute Anachronismus dieser Machtausübung sei durch die Entwicklung ihres Landes bewiesen. Die einfachen Menschen seien überhaupt nicht in der Lage, die gesellschaftliche Entwicklung anhand theoretischer Grundsätze, die einen Machtmechanismus in Gang setzen, einzuschätzen. Die noch vorhandenen »konservativen« Kräfte wollen im Grunde genommen diesen Machtmechanismus getarnt als führende Rolle der Partei beibehalten.11
Die »progressiven« Kräfte sind der Auffassung, dass sich nur die bewusste Schicht der Geisteswissenschaft und der technischen Intelligenz nicht manipulieren lässt, weil sie die Grundlagen der Theorie und die Wirkungen des Mechanismus überblicken und beurteilen könnten. Nur der Intellektuelle könne die gesellschaftlich komplizierten Prozesse bestimmen und bestimmte Alternativen der Politik entwickeln.12 Eine wirkliche sozialistische Demokratie könne nur durch die Kontrolle durch alle dazu Befähigten und durch ständige Vorschläge, das Bestmögliche für die Gesellschaft zu tun, erreicht werden. Es zeige sich in der ganzen Welt, dass die Intelligenz bewusst gegen gesellschaftspolitische Deformationen auftritt. Im Grunde genommen werden die Massen überall manipuliert, gelenkt, gesteuert.13
Die »konservative Gruppe« im ZK der KSČ bemüht sich, den Parteitag so vorzubereiten, dass möglichst viele Delegierte aus der Arbeiterklasse kommen. Das würde bedeuten, dass »wiederum eine stupide Masse, die man in jede Richtung lenken kann, im Parteitag sitzt und kaum schöpferische Auseinandersetzungen über die besten Modelle der Entwicklung führen kann«.14
Die »progressiven« Kräfte seien auch für die führende Rolle der Partei, aber nur unter den Bedingungen, dass die besten Kräfte der Intelligenz die Funktionen in der Partei ausüben.15 Der Kampf geht jetzt darum, zu sichern, dass die schöpferischen Kräfte den Parteitag als die Bühne der Auseinandersetzung nutzen. Deshalb sollen nur solche Intellektuelle zum Parteitag delegiert werden, von denen jeder einzelne in der Lage ist, selbstständig aufzutreten.16 Jetzt sieht es noch so aus, dass der Leiter der Abteilung Organisation im ZK der KSČ, Indra,17 und sein Stellvertreter den Parteitag organisatorisch vorzubereiten haben. Beide treten für das Primat der Arbeiterklasse ein. Wenn diese Gruppe sich durchsetzt, »wird Dubček abgelöst und der Slowake Biľak18 wird der Nachfolger«. Auch wenn »progressive« Kräfte auf dem Parteitag siegen, sei nicht sicher, ob Dubček bleibt, weil dann eine »offenere revisionistische Politik notwendig« würde.
Wenn es zur Ablösung von Dubček kommt, wäre das ohne Zweifel die Schuld der Sowjetunion und vor allem der DDR. Da die DDR Dubček fast nicht honoriert, wird er zu einem immer schwächeren Mann. Wenn sich die »konservativen« Kräfte auf dem Parteitag durchsetzen, werde es wahrscheinlich zur Spaltung und Neugründung einer Partei kommen.19
In diesem Zusammenhang bezeichneten die führenden revisionistischen Kreise der KSČ den Besuch der sowjetischen Militärdelegation unter der Leitung des Verteidigungsministers Gretschko20 als eine »Provokation der Stärke« und erklärten: Die Sowjets haben sich selbst eingeladen und sind weit über den vereinbarten Zeitraum hinaus geblieben.21 Sie haben die Gastfreundschaft bis an die äußersten Grenzen strapaziert.22
Sie sind in vielen Betrieben öffentlich aufgetreten, sie sprachen von der Stärke der Roten Armee und des Internationalismus und betonten bei jeder Gelegenheit die Rolle der Arbeiterklasse. Im Grunde genommen sei es der sowjetischen Delegation darum gegangen, mit ihrem Auftreten klarzumachen, wenn die tschechoslowakische Arbeiterklasse Hilfe benötigt, braucht ihr sie nur zu rufen, und die Rote Armee und die anderen Mitglieder des Warschauer Paktes würden sofort ihre internationalistische Pflicht erfüllen.23
Von führenden tschechoslowakischen Revisionisten werde »eingeschätzt«, dass sich die Armeen des Warschauer Paktes als eine der möglichen Varianten auf das militärische Eingreifen in der ČSSR vorbereiten würden. Das wäre aber todsicher das Ende des sozialistischen Systems in der ČSSR. In der ČSSR werde man nicht mit Bierflaschen auf sowjetische Panzer losgehen, wie es die Ungarn getan haben. Das tschechoslowakische Volk, das über eine weitaus höhere Intelligenzschicht als das ungarische verfügt, werde sich nicht so manipulieren lassen.24 Außerdem seien sie sich einer größeren Anzahl von kommunistischen Parteien sicher. Diese Unterstützung anderer Parteien sei – wie einer der führenden Vertreter der revisionistischen Kreise wörtlich erklärte – »ein gewisser Sicherheitsfaktor gegenüber dem Eingreifen der Sowjets und Walter Ulbrichts«.
In der Außenpolitik würden sich für die ČSSR zwei Varianten anbieten. Die »Südvariante« würde Ungarn, Rumänien25 und Jugoslawien in einer gemeinsamen außenpolitischen Konzeption vereinigen. Sie habe nur ökonomisch eine gewisse Bedeutung. Politisch hat sie effektiv keine Aussicht.26 Jugoslawien will ganze Komplexe des Wohnungsbaues übernehmen. Es sei für die »progressiven« Kräfte eine politisch aktuelle Frage, kurzfristig ca. 20 000 Wohnungen besonders für Intellektuelle zur Verfügung zu stellen, um neue Kräfte aus der Intelligenz zu gewinnen. Der Nachteil, der sich für sie ergeben würde, bestehe darin, dass die ČSSR die Führung übernehmen müsste, um den anderen Ländern politisch und ökonomisch zu helfen. Damit hätten sie aber selbst einen ungeheuren Tempoverlust.
Die »mitteleuropäische Variante« würde die ČSSR, Polen, die DDR, Westdeutschland, Frankreich, England u. a. europäische Länder einbeziehen. Voraussetzung dafür ist aber eine »funktionsfähige Deutschlandpolitik«. Gegen diese Variante würde sich nur die SED-Führung sträuben. Wörtlich erklärte dazu einer der führenden Revisionisten: »Für die Situation ist kennzeichnend, dass Walter gegen ganz Europa ist.« Auf keinen Fall könne die ČSSR nach dem Parteitag die Politik »alles oder nichts« (Anerkennung Oder–Neiße, DDR, Westberlin; Münchener Abkommen) weiter unterstützen. Man müsse systematische Wege der kulturellen, ökonomischen und politischen Zusammenarbeit der europäischen Länder finden.27
Die revisionistischen Kreise nahmen auf eine kürzlich im Institut für Internationale Politik und Ökonomie unter Leitung von Prof. Šnejdárek28 stattgefundene wissenschaftliche Tagung Bezug, wo viele »gesellschaftswissenschaftliche Experten« teilnahmen. Dort wurde festgestellt, dass man die politischen Kräfte in Westdeutschland differenzieren müsse, da in der »Politik der SPD alle Anknüpfungspunkte für eine echte Deutschland- und Europapolitik zu finden sind«. Die Ostpolitik der SPD, stufenweise Kontaktaufnahme, Verdichtung der Beziehungen auf allen Ebenen bis zur gegenseitigen Anerkennung, sei die einzige Möglichkeit, eine konstruktive Deutschland- und Europapolitik zu betreiben.29 Es zeigt sich immer mehr, dass die Politik der SED-Führung eindeutig die Politik Willy Brandts30 gegenübersteht. Es gebe für die sozialistischen Kräfte in ganz Europa nur diese beiden Alternativen, wobei nur die von Brandt konstruktive Züge aufweise und die »harte Politik der SED des alles oder nichts mit all ihren Konsequenzen unweigerlich zum stalinistischen System« zurückführe.31
In der ČSSR machen sich viele Gedanken darüber, dass die »alten Grundfehler Stalins und der deutschen Kommunisten« wiederholt werden, nämlich den Hauptfeind nicht ganz rechts, sondern in der Sozialdemokratie zu sehen. Diese SED-Politik sei im Grunde genommen an der Wahlniederlage der SPD in Westdeutschland schuld. Auch sei sie verantwortlich für die rechtsextremistische neonazistische Entwicklung in Westdeutschland, weil sie den Kern der gegenwärtigen Politik, Ostpolitik oder Europapolitik, abgewiesen hat und scheitern ließ. Dadurch sei die SPD in der Koalition diskriminiert, und die Massen wenden sich nach rechts.
Die politischen Bewegungen der Gegenwart in den sozialistischen wie in den kapitalistischen Ländern hätten die gleichen Ursachen. Die junge Generation, die technisch hoch gebildet ist, ist nicht zufrieden mit den politischen Herrschaftsformen, die die »Entwicklung zur Technik und die soziologische Entwicklung zur Gleichheit hin« hemmen würden. Die junge Intelligenz sei überzeugt, dass politische Herrschaftsformen, wie sie jetzt sowohl in den sozialistischen als auch in den kapitalistischen Ländern existieren, die Durchführung der technischen Revolution hemmen.
In der nächsten Zeit würden sich Gesellschaftswissenschaftler der ČSSR mit der Entwicklung in der DDR auseinandersetzen. Für die richtige Ausarbeitung einer Deutschlandpolitik sei die Analyse der Deutschlandpolitik der SED von 1945 an notwendig. Die tschechoslowakischen Gesellschaftswissenschaftler wollen »sehr exakt alle jene Perioden untersuchen, die von Auseinandersetzungen in der Führung gekennzeichnet sind«. Wahrscheinlich werden sie bei exakter Untersuchung feststellen, dass es in der DDR eine Reihe von Versuchen gegeben hat, das Steuer zu einer »konstruktiven Deutschlandpolitik« herumzureißen.32
Von revisionistischen Kreisen sei eine Konzeption ausgearbeitet worden, deren Verwirklichung zur Auflösung der Parteihochschule der KSČ und zur Bildung einer Staatshochschule für politische Wissenschaften führt. Der erste Lehrgang mit etwa 100 Abiturienten beginne im September 1968.33
Ferner wurde von führenden Revisionisten erklärt, der Minister des Innern34 habe kürzlich berichtet, dass es für ihn sehr schwer sei, die Fäden im Sicherheitsapparat35 in die Hand zu bekommen.
Es sei deutlich geworden, dass es dem Sicherheitsapparat gelungen ist, die wichtigsten Unterlagen über »Methoden der Deformierungsperiode«36 zu beseitigen. Es sei kein Material über die sowjetische Beratertätigkeit gefunden worden. In Kreisen der Revisionisten sei man davon überzeugt, dass Teile des Sicherheitsapparates in der Lage und bereit seien, »politische Morde« zu begehen, um sie den »progressiven« Kräften in die Schuhe schieben zu können.37
Diese Information ist nur zur persönlichen Kenntnisnahme bestimmt, da äußerste Quellengefährdung besteht.