Bestrebungen des Leiters der Evangelischen Akademie Westberlin
8. Juli 1968
Einzelinformation Nr. 728/68 über Bestrebungen des Leiters der Evangelischen Akademie in Westberlin, Dr. Müller-Gangloff, zur Sammlung von Opponenten der Bonner Politik in Westberlin/Westdeutschland
Wie dem MfS aus zuverlässiger und interner Quelle bekannt wurde, entwickelt Dr. Müller-Gangloff,1 der zugleich Leiter des »Comenius-Clubs«2 in Westberlin ist, in letzter Zeit große Aktivitäten zur Sammlung oppositioneller Kräfte in Westberlin.
Nach Auffassung Müller-Gangloffs ergebe eine Analyse der gegenwärtigen Lage in Westberlin und Westdeutschland, dass nach Annahme der Notstandsgesetze3 ein allgemeiner Niedergang der Initiative der demokratischen Kräfte (Republikanischer Club,4 DFU,5 linke FDP, linke Gewerkschaft, SDS6 usw.) zu verzeichnen sei. Sie betrachteten sich als »abgeschlagen« und liefen auseinander, weil sie alle nur durch die Gegnerschaft zu den Notstandsgesetzen geeinigt und aktiviert worden wären, aber kaum ein eigenes konkretes politisches Programm besäßen. Es sei an der Zeit, alle diese Kräfte zu sammeln, ihnen ein Programm und Ziel zu geben.
Müller-Gangloff habe deshalb in letzter Zeit eine Reihe von Gesprächen geführt, um festzustellen, ob die Zeit für eine politische Initiative gekommen sei, so z. B. mit dem ehemaligen Regierenden Bürgermeister von Westberlin Albertz,7 der seine Fehler einsehen würde und jetzt u. a. einen Staatsvertrag mit der DDR energisch befürworte. Albertz wollte sich in diesem Sinne in einem »Spiegel«-Interview in der letzten Juniwoche äußern. Albertz und seine Freunde seien bereit, eine Art politische Sammlung zu unterstützen.
Das Bürgerkomitee Westberlins8 (u. a. Günter Grass,9 Behm – FDP –, Rechtsanwalt Dr. Sommer) hätte eine Idee von Müller-Gangloff aufgenommen, die dieser in der Zeitschrift »Kommunität«10 im Januar 1968 unter der Überschrift »Doppelstaatsvertrag – eine Denkaufgabe« geäußert hat. Müller-Gangloff hatte darin einen Gedanken aufgenommen, den er bereits 1965 in seinem Buch »Mit der Teilung leben – eine gemeindeutsche Aufgabe« (List-Verlag München)11 entwickelt hatte. Das Westberliner Bürgerkomitee hätte sich während seines 1. öffentlichen Plenums ausdrücklich zu diesem Gedanken einer Doppelkonföderation Westberlins mit der DDR und der Bundesrepublik bekannt. Müller-Gangloff ist zur Sitzung des Bürgerkomitees am 4.7.1968 eingeladen worden. Er habe den Auftrag erhalten, für das Bürgerkomitee – auf dem 2. öffentlichen Plenum den Gedanken der Doppelkonföderation umfassend zu entwickeln und zu erläutern und – einen Programmentwurf vorzulegen, der zum politischen Manifest des Bürgerkomitees in Westberlin, aber auch in der Bundesrepublik werden könnte. Das Manifest soll so gehalten sein, dass es als Grundlage für die politische Sammlung aller ehemaligen Notstandsgegner geeignet ist.
Müller-Gangloff habe weiter das Präsidium der »Aktion Sühnezeichen«12 dafür gewonnen, dass er namens dieser Organisation in der ersten Juliwoche einen »Aufruf zu einer Konsultation« während der Feierlichkeiten zur 10jährigen Existenz der »Aktion Sühnezeichen« in München und Nürnberg veröffentlichen darf (siehe Anlage).
Darüber hinaus habe er Dr. Nenning,13 Wien, Herausgeber der Zeitschrift »Neues Forvm«,14 Organ der »Paulus-Gesellschaft«15,16 dafür gewonnen, ab 4.7.1968 an einer Tagung der Evangelischen Akademie in Westberlin teilzunehmen. Ergebnis dieser Veranstaltung soll die Gründung einer Westberliner Sektion der »Paulus-Gesellschaft« sein, deren Kreis von Prof. Alexander Schwan17 (Otto-Suhr-Institut Westberlin) und dessen Freundeskreis gebildet werden soll.
Engere Kontakte habe Müller-Gangloff außerdem zum Präsidenten des Verwaltungsgerichts Westberlin, Dr. Külz,18 aufgenommen. Mit ihm wolle Müller-Gangloff ebenfalls eine Akademie-Tagung durchführen. Diese Verbindung sei durch Th. Steltzer19 hergestellt worden. Dr. Külz hatte gegen Schütz,20 Westberlin, die Anti-Vietnamkriegs-Demonstration namens des Verwaltungsgerichts Westberlin genehmigt. Er soll einen großen Freundeskreis besitzen. Müller-Gangloff wie auch der ehemalige Regierende Bürgermeister von Westberlin, Albertz, betrachten Dr. Külz als möglichen Nachfolger des Regierenden Bürgermeisters von Westberlin, wenn Schütz gestürzt wird.
Kontakte bestehen ebenfalls zum Evangelischen Sozialpfarramt (Pfarrer Harald Poelchau)21, zum Freundeskreis des Pfarrers Brickert,22 Westberlin, usw. Gelegentliche Gespräche über diese Projekte führt Müller-Gangloff auch mit dem Vorsitzenden der SED in Westberlin,23 Danelius.24
Pressemäßig soll die Aktion unterstützt werden durch den »Spiegel« (Hamburg), »Die Zeit« (Hamburg – speziell Theo Sommer)25, den Westdeutschen Rundfunk, Studio Westberlin und Köln, Nürnberger Nachrichten (Drechsler).
Weitere Unterstützung würde diese Konzeption und Aktion erhalten durch den sogenannten Comenius-Club Westberlin (Franz von Hammerstein,26 Müller-Gangloff, Volker von Törne27 u. a.), ebenso durch den ehemaligen Leiter der »Treuhandstelle für den Interzonenhandel«,28 Leopold,29 mit dem sich Müller-Gangloff ständig in Kontakt befindet. Nachdem Dr. Klaus Meschkat30 den Vorsitz im Republikanischen Club aufgegeben hat, hat Müller-Gangloff engere Kontakte zu dem neuen Vorsitzenden und zu dem Rechtsanwalt Dr. Kahler aufgenommen.
Ausführlich hat Müller-Gangloff seine politischen Vorstellungen in einem Aufsatz »Frieden 1971 – Plädoyer für eine kühnere Politik« dargelegt (siehe Anlage).
Müller-Gangloff war daran interessiert zu erfahren, auf welche Resonanz eine derartige Konzeption und Aktion in der DDR stoßen werde.
Wenn auch über die Motivation der Aktivität Müller-Gangloffs im Einzelnen noch keine weiteren Hinweise vorliegen, scheint aber sein Bestreben zur Anerkennung der DDR auf die Überzeugung von der Notwendigkeit der Anerkennung der Realitäten in Deutschland zurückzugehen.
Die Information darf im Interesse der Sicherheit der Quelle nicht öffentlich ausgewertet werden.
Anlage 1 zur Information Nr. 728/68
Aufruf zu einer Consultation
Die Aktion Sühnezeichen hat vor einem Jahr auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover31 die Forderung nach »Frieden mit der DDR« erhoben, die in Ostberlin nicht unbeachtet geblieben ist. Im Westen ist das anfänglich sehr starke Interesse allerdings sehr bald abgeklungen, weil dem Losungswort von Hannover keinerlei Aktivität – weder der Politiker noch in der Bevölkerung – gefolgt ist. Das sogenannte Establishment zeigte sich zu einem Umdenken auf neue und zukunftsbezogene politische Zielsetzungen weniger denn je fähig oder auch nur bereit. Und die aufbegehrende junge Generation scheint in unartikulierter Programmlosigkeit stecken zu bleiben und die in der besonderen deutschen Situation vorgegebene Aufgabe eines praktikablen Friedensdenkens zu versäumen.
In diesem Zustand einer absoluten Blockierung aller Zukunftserwartungen meint die Aktion Sühnezeichen nicht schweigen zu dürfen. Die ehemaligen Freiwilligen mahnen und drängen uns, den Weg der politischen Besinnung, der uns in der ersten Etappe nach Hannover geführt hat, weiterzugehen. Im Sinne der vorjährigen Friedensadressen aus West und Ost erscheint es unabweisbar und notwendig, auf einen baldigen Vertragsfrieden mit und zwischen den beiden Deutschland hinzuarbeiten und konkrete Hilfen dafür anzubieten. Es wird statt um die bisherigen Wahnideen um die Formulierung erreichbarer Ziele und um die Anbahnung von Verhandlungen über sie gehen.
Die neue Berlin-Krise32 bestätigt nur das Recht unseres Rufes nach einer Politik des Friedens, die von neuen Konzeptionen ausgeht. Wir werden im demütigenden Nachvollzug von politischen Pressionen bleiben, solange wir nicht im vollen Annehmen der 1945 zu Recht über uns hereingebrochenen Katastrophe eine Politik der Umkehr beginnen, die auf die über zwei Jahrzehnte hinweg mitgeschleppten Wunschvorstellungen verzichtet.
Nachdem der Westen schon vor Jahren seine Essentials formuliert hat, müssen die »Essentialien« des Ostblocks: Atomwaffenverzicht, Oder-Neiße-Grenze und Anerkennung der DDR von unserer Seite entsprechend ernst genommen werden. Es fragt sich, ob und was wir nach einer jahrelangen hinhaltenden Politik noch für sie einhandeln können. Vielleicht für den Atomverzicht eine atomwaffenfreie Zone in Ausweitung des Rapacki-Planes,33 für die Anerkennung der Oder-Neiße diplomatische Beziehungen zu den Ostblockstaaten und – als unvergleichlich wichtigsten Kaufpreis – für die Anerkennung der DDR die völkerrechtliche und wirtschaftliche Sicherung des Status von Westberlin.
In diesem Sinne planen wir im Einvernehmen mit dem Comenius-Club für deutsch-osteuropäische Beziehungen und anderen gleichgerichteten Bestrebungen eine Friedens-Konsultation, die möglichst noch in diesem Jahr, spätestens aber zu Beginn des nächsten, in Berlin stattfinden soll. Sie soll in ihrer ersten Etappe einer verbindlichen Friedensabrede mit der DDR, insgesamt aber der Anbahnung eines Friedensvertrages mit den ehemaligen Siegermächten dienen.
Wir fordern alle zum Mitdenken und zur aktiven Mitwirkung auf, die das Friedenstiften für eine konkrete, noch heute anzupackende Aufgabe halten.
Anlage 2 zur Information Nr. 728/68
Erich Müller-Gangloff
Frieden 1971 | Plädoyer für eine Kühnere Politik
Kann man politische Zukunftsentscheidungen im Stil der Simulationstechnik vorausdenken, vorausentwerfen? Hat es Sinn, politische Situationen in der Weise durchzusimulieren, wie es die Militärs am sprichwörtlich gewordenen Sandkasten generationenlang taten und tun und wie es die Techniker der Datenverarbeitung und der Fluggeräte-Entwicklung mit den »Simulatoren« sowohl der Informatik als auch der Flugzeugführerausbildung in den beiden letzten Jahrzehnten mit überraschenden Erfolgen gelernt haben?
Die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen, dass wir dabei zu einem Simulieren, im andern, älteren und noch immer gebräuchlicheren Sinne des Wortes gelangen, dass eine Simulation des Friedens, wenn sie nicht mit genügend exakten Daten »gefüttert« wird, statt auf ein Durchspielen konkreter Modelle auf eine Abart jener Friedensspinnerei wohlmeinender Weltverbesserer herauskommt, an der wir keinen Mangel haben.
Futurum Historicum
Woher können wir für die Aufgabenstellungen einer politischen Simulation einigermaßen exakte Daten nehmen, die wenigstens in etwa denen der Informatik bzw. der Aeronautik vergleichbar sind? Der Ausdruck Datenverarbeitung, in seiner Anwendung auf die Technik unhistorisch verstanden, lässt es erlaubt erscheinen, an das riesige Datenreservoir menschlicher Geschichte zu denken, wobei es sich von selbst versteht, dass gerade die Geschichtskomponente aller Gegenwarts- wie Zukunftspolitik es verbietet, sich hier irgendwelcher Automatik zu versehen. Es gibt keine Automation zukünftiger Geschichte, wohl aber die einer mündig werdenden Menschheit zuzumutende Aufgabe, das Datenreservoir der Vergangenheit mit differenzierender Rationalität in die politische Gegenwart und insbesondere in konkrete Friedensentwürfe für die Zukunft einzubeziehen.
In diesem Sinne sei es hier unternommen, nicht allein die politische Gegenwart, sondern auch die Geschichte auf Zukunft zu befragen. Wir sehen es bei solchem Fragen nach Zukunft aus der Geschichte als nicht geringe Ermutigung an, dass die Lateiner mit ihrer sehr durchdachten Grammatik das die Vergangenheit einbeziehende Tempus der Zukunft, das sogenannte zweite Futur, als das futurum exactum bezeichnet haben.
Nach einem Dreißigjährigen Krieg
Es soll an dieser Stelle nach den Voraussetzungen eines Friedens gefragt werden, der den latenten Unfriedenszustand, wie er seit dem Ende der bewaffneten Auseinandersetzungen am 8. Mai 1945 in der Mitte Europas besteht, mit einer offenen Optik auf Zukunft beenden kann. Die Notwendigkeit des Friedensschließens in diesem Raum – und zwar in Gestalt eines vertraglichen Friedens, der neue völkerrechtliche Grundlagen schafft – drängt sich immer unabweisbarer auf, wenn Europa nicht in absehbarer Zeit zum Schauplatz von Eskalationen im Stile des Vietnamkrieges werden soll.
Doch muss man mit großer Nüchternheit sehen, dass die Voraussetzungen, insbesondere die Denkvoraussetzungen für einen Vertragsfrieden gerade zur Stunde bis nahezu auf den Nullpunkt geschrumpft sind. Die Meinungsbildung im Westen und Osten, insbesondere im westlichen und östlichen Deutschland, ist weiter denn je vom Gedanken eines vertraglichen Friedens entfernt, der allerdings auch ein paar ungewöhnliche Denkoperationen voraussetzt, wie sie in diesem Aufsatz unternommen werden sollen.
Es wurde daher mit dem Jahr 1971 ein in einigem Abstand von heute liegendes Datum angezielt, an dem eher zu tadeln wäre, dass es schon zu nahe vor uns liegt, als dass es einen wirklich umfassenden Friedensschluss erwarten lassen könnte. Aber hier hat vielleicht die Ungeduld ein Recht, darauf zu pochen, dass endlich mit dem Nachdenken darüber begonnen werde, wie denn ein Friede in Europa aussehen könnte, der einen Weg in die Zukunft öffnet.
Wenn wir – zugegebenermaßen ein wenig willkürlich – von 1971 sprechen, so ist dabei an das bekannte Wort von Thomas Dehler34 gedacht, dass es langsam an der Zeit sei, unseren Dreißigjährigen Krieg gegen die Sowjetunion zu beenden, wobei Dehler keine Zweifel darüber ließ, dass die Initiative zur Beendigung dieses Kriegs bei uns als bei denen liege, die ihn begonnen und ihren russischen Nachbarn ins Land getragen haben. Die Analogie zu jenem anderen Krieg von dreißig Jahren, der als verwüstende Auseinandersetzung tödlich verfeindeter Glaubenspartnern die Mitte Europas schon einmal geteilt und aufgespalten hat, braucht gar nicht so weit hergeholt zu werden.
Und da unser Religionskrieg gegen die Vormacht des Weltkommunismus ja als Waffen- und Vernichtungskrieg (nach achtjähriger Anlaufzeit seit 1933) erst im Sommer 1941 begonnen hat, könnte sogar ein Quäntchen Hoffnung darin liegen, dass wir bis zur Frist von vollen dreißig Jahren noch ein paar Jahre Spielraum haben. Über den Westfälischen Frieden ist seit 1644 in Münster und Osnabrück auch jahrelang verhandelt worden, ehe es 1648 zu seinem Abschluss kam.
Wir können sogar von kleinen Hoffnungsakzenten sprechen, die die in diesem Aufsatz darzulegende Simulation eines Friedens von der (West-)Berliner Mitte her in kleinen Schritten anzubahnen schienen. Wir denken an das Passierscheinabkommen von 1963/64, das Egon Bahrs35 Tutzinger Parole »Wandel durch Annäherung«36 realisierte; an das der evangelischen Vertriebenen-Denkschrift von 196537 folgende Projekt eines Redneraustausches, das 1966 eine – leider nur vorübergehende – interdeutsche Klimaveränderung bewirkt hat,38 und nicht zuletzt an das sogenannte Glienicker Papier der Berliner SPD39 von 1967, das allerdings – hoffentlich nur vorläufig – in den Schubladen verschwunden ist.
Es könnte zur Resignation stimmen, dass alle diese Anläufe über ein halbes Jahrzehnt hinweg erst einmal gescheitert scheinen. Aber wie der Krieg vieler Anläufe bedurfte, ehe er im Jahre 1941 seinen fürchterlichen Abschlusslauf begann, könnte es auch bei dem viel schwereren Geschäft des Friedens sein, mit dessen Simulation zum mindesten begonnen werden sollte.
Hundertjähriger Krieg um Europa
Es geht allerdings nicht allein um Frieden mit dem Osten, so vordringlich dieser eben heute erscheint, da in dieser Richtung von uns noch die meisten Nachleistungen zu erbringen sind. Das große Umdenken und Aufräumen muss auch in Richtung auf Europa erfolgen, wo wir es uns zwei Jahrzehnte lang unter antikommunistischen Vorzeichen mit Kleineuropa-Ideologie und nordatlantischem Way-of-Life-Denken zweifellos zu leicht gemacht haben. Hier gilt es einen noch längeren, einen hundertjährigen Krieg zu liquidieren bzw. zu einem friedenstiftenden Ende zu führen, der mit der Machtergreifung Bismarcks40 1862 begann und mit der Berliner Mauer von 1961 bereits praktisch an sein Ende gelangt ist.
Auch zu diesem Hundertjahrekrieg (den noch niemand so genannt hat) gibt es ein historisches Analogon, das allerdings in der Geschichte Europas über ein Halbjahrtausend zurückweist: der Hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich (1339–1453), der am Ausgang des feudalen Mittelalters eine wichtige Etappe bei der Entstehung des europäischen Nationalismus markiert und zurzeit in der Auseinandersetzung zwischen England und dem Frankreich de Gaulles ein gespenstisches Nachspiel erlebt.
Als das bis ins vergangene Jahrhundert im politischen Feudalismus verharrende Preußen-Deutschland den Nationalismus der anderen mit mehreren Jahrhunderten Verspätung nachzuholen unternahm, geschah dies zwischen 1864 und 1871 mit einer Folge von Kriegen,41 die im Endergebnis auf eine entscheidende Verlagerung des europäischen Mächtegleichgewichts hinauslief. Dieses Ungleichgewicht, das aus dem Wachstum Preußens als kleinster Großmacht Europas zu Bismarck-Deutschland als der nunmehr größten resultierte, hat 1914 und 1939 zu den beiden Kriegen Deutschlands mit dem übrigen Europa mit ihrem jeweils katastrophalen Ende für die Deutschen geführt, deren unaufgearbeitetem Rest wir in der heutigen Spaltungssituation unseres Landes wie des Kontinents konfrontiert sind.
Nicht allein für Europa, sondern auch für die Deutschen selber war der späte Sieg des deutschen Nationalismus ein historisches Verhängnis. Der gegen Österreich geführte zweite der drei sogenannten Einigungskriege hat 1866 nach der Schlacht von Königgrätz42 zu einer ersten deutschen Teilung geführt,43 bei der mit den österreichischen Kronländern nicht weniger als ein Drittel des historischen Ländergebiets – bis dahin unter dem kaum reflektierten Namen Deutschland verstanden – verloren ging. Wenn damals die großdeutsch Gesonnenen voraussagten, auf diese erste werde wie bei den Polen eine zweite und dritte Teilung Deutschlands folgen, so sollten sie nach den beiden verlorenen Weltkriegen 1918 und 1945 auf nicht eben erhebende Weise recht behalten. Und nachdem mit der Spaltung Berlins im Jahre 1961 sogar noch so etwas wie eine vierte Teilung gefolgt ist, sollte es an der Zeit sein, auch aus diesem Ende einer Hundertjahresphase unserer Geschichte die gedanklichen Konsequenzen zu ziehen.
Vakuum nach dem Untergang
Die Spaltung des vormals einheitlichen Deutschlands geht nunmehr ins zwanzigste Jahr. Es scheint nicht unwichtig daran zu erinnern, dass erst 1948 jene irreversiblen Akte erfolgten, die die beinahe absolute Geteiltheit von heute zur Konsequenz hatten – mit dem Währungseinschnitt vom 20. Juni 194844 als der wohl entscheidenden Weichenstellung.
Die Siegermächte von 1945 hatten eine Teilung Deutschlands offenbar noch nicht im Sinn, Frankreich vielleicht ausgenommen, das aber erst nach Jalta und Potsdam in den Kreis der Sieger trat. Auf den beiden Konferenzen des Jahres 1945 – Jalta im Februar, Potsdam im Juli/August – war das ungeteilte Deutschland noch eine für selbstverständlich genommene Voraussetzung. Andernfalls wäre es ja auch ein unverantwortlicher politischer Wahnsinn gewesen, Berlin einen Hauptstadt-Status mit eigener Sektorenaufteilung zu geben, noch dazu als einer vom Territorium einer Besatzungszone umgrenzten Stadt.
Allerdings muss sogleich hinzugesagt werden, dass die seit 1948 gefallenen Entscheidungen dem Jahr 1945 eine sehr viel tiefere historische Relevanz und Bedeutung gegeben haben, als zunächst sichtbar war. In dem Maße, in dem die Teilung sich von Jahr zu Jahr vertiefte und verfestigte, hat sich das Ereignis des Jahres 1945 als ein Untergang herausgestellt: als Untergang jenes »Reiches«, das von Bismarck bis Hitler als Versuch eines deutschen Nationalstaates ein knappes Dreivierteljahrhundert lang existiert hatte.
Flucht vor dem Frieden
Die Spanne zwischen 1945 und 1948 hatte vor den folgenden beiden Jahrzehnten bei den meisten Deutschen immerhin die Einsicht voraus, dass wir einen weltumgreifenden Krieg verloren hatten, den wir nicht nur mit hohen Menschenverlusten und den Trümmern unserer Städte, sondern auch politisch würden bezahlen müssen. Damals zweifelte niemand daran, dass der eines Tages auf vertraglicher Basis fällige Friedensschluss eine unerhört harte, das Versailles von 1919/20 völlig in den Schatten stellende Sache würde, für die durch die am 8. Mai 1945 vollzogene bedingungslose Kapitulation deutlich genug die Richtung vorgezeichnet war.
Nach 1948 haben wir dies alles dann Sukzessive vergessen. Wir haben uns auf eine Flucht nach vorn begeben, die das erschreckende, zu Besinnung und Umkehr rufende Gestern immer unerheblicher erscheinen ließ.
Das Phänomen dieser Flucht lässt sich vielfach beschreiben. Es war vor allem Flucht vor der eigenen Vergangenheit, die wir gar zu gern ungeschehen gemacht hätten. Aber auch Flucht in das Wohlergehen, das wir uns nach den Jahren der Entbehrung mit unserer Tüchtigkeit ehrlich erkauft zu haben glaubten. Und nicht zuletzt Flucht in neue, kleineuropäische und nordatlantische politische Vorstellungen, die das Bewusstsein der Geteiltheit zeitweise völlig in den Hintergrund drängten.
Das mit Abstand wichtigste Fluchtphänomen aber war unsere Flucht vor dem Frieden, ein insofern schlechthin rätselhaftes Phänomen, als der verlorene Krieg und seine Konsequenzen ja in Gestalt der sich ständig vertiefenden deutschen Teilung deutlich genug vor Augen standen. Für den Durchschnittsdeutschen, einschließlich seiner politischen Führung gab es das Problem eines vertraglichen Friedens gar nicht mehr. Er meinte, vor ihm elegant echappiert zu sein und wird wahrscheinlich noch geraume Zeit brauchen zu begreifen, dass man so billigen Kaufes nicht davonkommt, wenn man die Welt vor einem knappen Menschenalter in einen selbstmörderischen Krieg und in verbrecherische Vernichtungsorgien hineingeführt hat.
Die größte Ohnmacht der Welt
Man kann dem beschriebenen Vorgang auch einen freundlicheren, auf jeden Fall positiveren Aspekt abgewinnen, der nicht außer Sicht bleiben darf, weil er ganz unmittelbar zum Thema gehört. Wenn man den Prozess der deutschen Teilung nicht von vornherein abwertet und verunglimpft, sondern ihm im Gegenteil einen gewissen Grad historischer Notwendigkeit, ja Zwangsläufigkeit zuspricht, rückt die beinahe zwanzigjährige Geschichte der Bundesrepublik in eine wesentlich andere Optik. Und viel vom Gesichtspunkt nationaler Einheit her negativ Gewertetes kann auf überraschende Weise Zukunftsperspektiven eröffnen.
Es geht um den geschichtlichen Ort der Staatsgründung Konrad Adenauers,45 die von ihm selber vermutlich gar nicht intendiert, aber die historische Konsequenz der von ihm betriebenen Politik war. Im Gesamtzusammenhang betrachtet, kann man wohl schon heute sagen, dass Adenauer als Gründergestalt von Bismarck als Reichsgründer sowohl fort- als auch über ihn hinausgeführt hat. Sogar die Wahl von Bonn als Bundeshauptstadt eines Teildeutschland gewinnt von daher einen positiven Aspekt.
Es wäre schlecht um diese Gründung bestellt, müsste sie als Werk nur eines Mannes angesehen werden. Er hat sich in den Dienst einer Gesamtentwicklung gestellt, wie das ja vor hundert Jahren auch Bismarck bei der Gründung seines großpreußisch-kleindeutschen Staates tat. Insofern hat es einen guten und bejahenswerten geschichtlichen Sinn, dass 1948 kein neues Reich, sondern eine Bundesrepublik gegründet wurde, für deren Bezeichnung zeitweilig der Name »Bund Deutscher Länder« zur Debatte stand. So haben wir heute gottlob keinen Reichs-, sondern einen Bundespräsidenten, einen Bundeskanzler, einen Bundestag, eine Bundesbank und -post und eine Bundeswehr statt Reichskanzler, Reichstag, Reichsbank, Reichspost und Reichswehr. Und wir haben wohl alle Grund, zufrieden mit diesen bescheideneren Namen zu sein – wenn sie auch nur wirklich Ausdruck von Bescheidenheit wären!
Immerhin können sie das insofern sein, als sie eine Absage an jene Großmannssucht darstellen, die hundert Jahre lang mit einem national missverstandenen Reichsdenken verbunden war. Und es könnte die Einsicht darin liegen, dass wir keine Großmacht mehr, sondern trotz unseres Wirtschaftspotenzials politisch allenfalls eine mittlere, wenn nicht sogar eine Kleinmacht sind.
Es war sicher nicht ganz ernst, sondern ironisch gemeint, wenn der wirtschaftsmächtige Bankier Hermann Abs46 die Bundesrepublik kürzlich als die größte Ohnmacht der Welt bezeichnet hat. Aber wir täten gut, die paradoxe Wahrheit dieser Aussage ernster zu nehmen, als sie gedacht war. Denn je eher wir begreifen, dass wir politisch eine Klein- und vielleicht Ohnmacht sind, umso eher werden wir die Mündigkeit für eine Politik gewinnen, die daraus die notwendigen Konsequenzen zieht.
Schon die Gründung der Bundesrepublik hat Konsequenzen gehabt, die nicht allzu schwer vorauszusehen waren. Man könnte überspitzend sagen, dass mit der Bundesrepublik – sicher widerwillig, aber darum nicht minder erfolg- und folgenreich – auch die DDR begründet worden ist. Es ist nun ebenfalls bald zwanzig Jahre her, dass dem Bundesdeutschland von Bonn sozusagen ein »Volksdeutschland« auf der anderen Seite entspricht, das sich zwar nicht wie seine östlichen Nachbarstaaten als Volksdemokratie versteht, aber dessen Volkskammer und Volksarmee den entsprechenden Bundesorganen korrespondieren (mit der Reichsbahn als einem Namensrelikt aus Bismarcks Zeiten). Vielleicht wird sich dieser andere Teil Deutschlands, wie man sich bei uns zu sagen gewöhnt hat – von Kabarettisten in ATD gekürzt – eines Tages als Volksrepublik Deutschland etablieren, um der Bundesrepublik den in ihrem Deutschland-Namen steckenden Anspruch nicht allein zu überlassen.
Das Potenzial von Berlin
Gottlob sind die Namensspiele mit Sprachregelungen wie SBZ und Mitteldeutschland heute uninteressant geworden. Umso ernster ist die Situation selber geworden. Es scheint, mit Ernst Bloch47 zu sprechen, an der Zeit, Schach statt Mühle zu spielen,48 weil ein ganz anderes Verantwortungsbewusstsein als bis dato geboten ist. Der Stil einer gewissen Verspieltheit, der vom sogenannten Establishment bis in oppositionelle Gruppen hinein aufweisbar ist, darf nicht länger das Feld beherrschen.
Wahrscheinlich wäre die deutsche Teilung längst eine ganz unproblematische Sache – wenn Berlin nicht wäre. Das Nebeneinander der beiden Deutschland als vielleicht bedauerliches, aber praktisch unabänderliches Faktum würde niemanden in der Welt mehr erregen, wenn der in Berlin geschürzte Knoten nicht nach wie vor unauflöslich wäre. Vielleicht wäre sogar das Fortwursteln in einem Nichtkriegs-Zustand, wie er zur fast schon angenehmen Gewohnheit geworden ist, denkbar und erlaubt – wenn Berlin nicht wäre.
Um die ungesicherte Position dieser Stadt kann zu jeder Stunde ein Konflikt entbrennen, der sich im Nu zum Weltkonflikt entwickelt, wenn auch nur einer der Partner sich davon einen Effekt verspricht. Daher muss allein schon um der Zukunft von Berlin – exakter gesagt: von Westberlin – willen die Frage eines Friedensvertrages auf den Tisch, zumal sich auch die Siegermächte im Westen nicht auf die Dauer im derzeitigen Zustand der Ambivalenz engagieren können.
Es kommt hinzu, dass Berlin praktisch der einzige politische Aktivposten ist, der in eine westdeutsche Politik weitzielender Friedensstiftung eingebracht werden könnte. Nachdem die Gespräche um Abrüstung und Atomwaffenverzicht fürs erste versandet sind und die Oder-Neiße-Problematik kaum noch politischen Handelswert hat, ist unsere politische Münze sozusagen auf Westberlin geschrumpft. Umso mehr Anlass, mit Berlin nun auch tatsächlich Politik zu machen, eine Politik, die nicht allein zur Friedenswahrung und Sicherung beiträgt, sondern zu einer Friedensordnung von einiger Dauer zu führen verspricht.
Drei Vertragsentwürfe
Wie weit Westberlin hierbei als konkreter Baustein dienen kann, wird noch zu erörtern sein. Auf dem Wege zu einem Friedensvertrag der beiden Deutschland mit den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges dürfte eine Erörterung der Berlinfrage höchstens anbahnenden Charakter haben, obwohl die Stellung Westberlins in einem befriedeten Mitteleuropa sicher auch vertragsmäßig wird geregelt werden müssen.
Was aber das Thema Friedensvertrag angeht, so ist es bisher praktisch nur von östlicher Seite aufgeworfen worden – von einer mehrere Jahre zurückliegenden Initiative Willy Brandts49 abgesehen, die aber damals nicht genauer artikuliert worden ist. Bis an die Details ausgearbeitete Vertragsentwürfe hat bisher nur die Sowjetunion vorgelegt, zuerst in der berühmten Stalin-Note vom 10. März 195250 und dann in dem Vertragstext von insgesamt 48 Artikeln, den Chruschtschow51 am 12. Januar 1959 seinem Berlin-Ultimatum52 vom 27. November 1958 auf dem Fuße folgen ließ. In den Zusammenhang gehört auch – gleichsam als dritter Akt – der Vertragsentwurf der DDR, den Willi Stoph53 seinem Antwortbrief an Kiesinger54 vom 18. September 1967 beigefügt hat,55 bei dem es sich allerdings nicht um einen Friedensvertrag unter Einbezug der Siegermächte, sondern um den Vorschlag eines Vertrages zwischen den beiden Deutschland handelte.
Alle diese Entwürfe hatten eines gemeinsam: dass sie auf westlicher Seite praktisch antwortlos, zum Teil sogar echolos geblieben sind. Die Stalin-Note wurde trotz erstaunlicher Zugeständnisse, die bis zur Wiedervereinigung und einer begrenzten Wiederbewaffnung gingen, als ein unseriöses Lockmittel gegen die vorgesehene Westintegration gar nicht erst diskutiert, der ungleich härtere Chruschtschow-Text als ein Über-Versailles abgelehnt, und der Stoph-Entwurf ist im Antwortbrief des Bundeskanzlers nicht einmal der Erwähnung wert befunden worden.
Das mag seine Gründe in der jeweiligen politischen – nicht zuletzt auch der innenpolitischen – Situation gehabt haben, bietet aber auf die Länge keine gute Optik. Wer Vorschläge gar nicht erst verhandelt, aber auch keine Gegenentwürfe anzubieten hat, macht entweder den Eindruck der Hilflosigkeit oder lässt den Vorwurf wirksam werden, dass er im Grunde gar keinen Frieden will, zumindest keinen Friedensschluss in vertraglich bindender Gestalt.
Wolfgang Schütz56 antwortet Willi Stoph
Aus diesem Ungenügen heraus ist der Vorstoß von Wilhelm Wolfgang Schütz zu erklären, mit dem er die Deutschland-Diskussion aus der Eingefahrenheit einer leergelaufenen gesamtdeutschen Rhetorik herauszuholen versucht hat. Seine Denkschrift »Was ist Deutschland?«57 ist ein interessanter, wenn auch letztlich wirkungsloser Versuch, dem Ministerpräsidenten der DDR anstelle des schweigenden Bundeskanzlers zu antworten.
Schütz hat nicht ungeschickt an die schwache Stelle des Stoph-Briefes angeknüpft, die in dessen freigebigem Gebrauch des Wortes Nation liegt, und er benutzt Stophs Vertragsentwurf als Sprungbrett, um der DDR eine Existenz als »Gliedstaat des von uns als fortbestehend angesehenen Deutschen Reiches« zu suggerieren. Mit diesem Vorschlag aber kommt er wie mit den meisten seiner Gedanken, vor allem mit der von ihm sehr akzentuierten Unterscheidung zwischen staatsrechtlichen und völkerrechtlichen Beziehungen, um einige Jahre zu spät. So kann man seine Vorschläge zwar als einen wichtigen Beitrag zur Meinungs-und Bewusstseinsbildung in Westdeutschland begrüßen, muss aber zugleich wissen, dass sie ohne konkrete Chance sind, je praktiziert zu werden.
Schützens Beispiel erscheint typisch für ein gewisses deutsches Normalverhalten, das dauernd einen längst fälligen Nachholbedarf konsumiert. Man läuft, im Bilde gesprochen, Fellen nach, die fortgeschwommen sind und vermutet Züge in den Bahnhöfen der großen Politik, die längst abgefahren sind.
Es kommt daher, wie wir glauben, entscheidend auf ganz etwas anderes an: auf ein Denken, das nicht irgend etwas noch zu retten versucht, das schon im Dahinschwinden ist, sondern das den Ereignissen vorauszulaufen versucht, selbst auf die Gefahr hin, einige Jahre zu früh zu formulieren, was erst im Nachhinein vollziehbar sein mag. Ein solcher Versuch soll hier im vollen Bewusstsein des möglichen Misslingens an einem historischen Modell unternommen werden, das sich immerhin aus sehr naher zeitgeschichtlicher Nachbarschaft anbietet.
Frieden durch Staatsvertrag?
Da wir noch nicht ernsthaft über die Notwendigkeit eines vertraglichen Friedensschlusses mit den Siegermächten von 1945 nachgedacht haben, sahen wir uns bisher auch nicht vor die Frage gestellt, wer denn einen solchen Frieden schließen soll. Zwar würde es auf beiden deutschen Seiten ganz sicherlich nicht an Bereitschaft fehlen, es je für die andere Seite mitzutun, und man könnte es fast als Argument für den Alleinvertretungsanspruch der Bundesrepublik gelten lassen, dass damit immerhin ein Nachfolgestaat des Bismarckreiches vorhanden wäre, der sich für verhandlungs- und für unterschriftsbefugt betrachtet.
Aber abgesehen davon, dass der Bonner Staat, der sich selbst als Provisorium versteht, bislang keinerlei Anstalten in dieser Richtung gemacht hat, wird ja gerade die Alleinvertretung vom »anderen Teil Deutschlands« aufs Leidenschaftlichste bestritten. Und einem Fortdauer-Anspruch von der Geschichte her, auf den die Alleinvertretung im Wesentlichen herauskommt, würde von dort höchstens im Blick auf die Hitlervergangenheit eine – ironisch verstandene – Berechtigung zugestanden, ganz gewiss aber nicht das kleinste Recht auf einen stellvertretenden Vertragsabschluss.
So müsste ein Friedensvertrag mit dem Nachhitlerdeutschland also ganz simpel an der Tatsache scheitern, dass es keinen befugten Nachfolger dieses Unstaats gibt. Und die Deutschen hätten etwas noch nie Dagewesenes fertig gebracht: sie hätten sich, indem sie sich teilten, gleichsam aus der Geschichte gestohlen und sich auf jeden Fall für eine Friedensordnung der Zukunft ungreifbar gemacht.
Eben dies aber wird auf die Länge nicht möglich sein, und aus solcher Einsicht rechtzeitig die politischen Konsequenzen zu ziehen, scheint uns die zur Stunde wichtigste Aufgabe, die sich heute bis in konkrete Einzelheiten hinein der Simulation anbietet.
Es erweist sich hier als ein sehr hilfreicher Denkanstoß, den Weg unseres österreichischen Nachbarlandes aus der Untergangssituation von 1918 bis zum Staatsvertrag von 195558 zu verfolgen. Dabei ist es kein vordringlicher Gesichtspunkt, dass Österreich bis vor rund hundert Jahren selber zu einem größeren »Deutschland« gehörte, das sich ja erst mit Bismarck auf ein preußisches Kleindeutschland verengte.
Es geht um das Rest-Österreich von 1918, das als einsames Trümmerstück ohne klare Zweckbestimmung und Aufgabe das Ende der großösterreichischen Monarchie überlebt hatte und damit für mehrere Jahrzehnte zum Spielball seiner Nachbarmächte und der anderen Großmächte Europas und zugleich zu einem Herd innenpolitischer Konvulsionen wurde. Trotz Saint Germain59 befand sich Österreich seit 1918 in einem praktisch friedlosen, weil ungesicherten Übergangszustand. Es pendelte zwischen Anschlussdenken und Arrangement mit den Nachbarn, insbesondere mit Italien, ziemlich hoffnungslos hin und her, und als 1938 mit der »Wiedervereinigung« durch Hitler eine Lösung erreicht schien, folgte im Jahr darauf der Zweite Weltkrieg, der dem Lande eine mindestens ebenso harte, eher sogar noch härtere Aufteilung unter die Siegermächte wie dem damaligen Restbestand von Kleindeutschland brachte.
Dass es den Österreichern mit ihrem Staatsvertrag vom 15.5.1955 gelang, aus dem Circulus vitiosus eines mehr als dreißigjähren Unfriedens auszubrechen, war umso erstaunlicher, als fast zur gleichen Zeit, nämlich am 5.5.1955, der Bundesrepublik von den westlichen Siegermächten der Souveränitätsstatus zugesprochen wurde und der Abschluss des Warschauer Paktes am 14.5.1955 die Konsolidierung des Ostblocks vollendete. Österreich hatte es fertig gebracht, genau in dem historischen Augenblick, in dem der Kalte Krieg Europa auch institutionell in zwei feindselige Heerlager teilte, bei den Lagern einen Friedensstatus abzuringen, der dem vielgeplagten Land einen neuen und verheißungsvollen Anfang brachte.
Es scheint nicht ohne historischen Hintersinn, dass die Teilung Deutschlands (wie Europas) in eine Warschauer-Pakt- und eine NATO-Hälfte in so unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft vollzogen wurde. Aber viel wichtiger will uns der positive Aspekt des damaligen Geschehens scheinen, den wir mit dem Motto »Frieden durch Staatsvertrag« bezeichnen können. Wenn es Österreich 37 Jahre nach dem Untergang des halbtausendjährigen Habsburgerreiches gelungen ist, einen Neubeginn zu setzen, müsste Entsprechendes doch wohl auch nach dem 1945 geschehenen und mit dem Mauerbau von 1961 besiegelten Untergang des nicht einmal hundert Jahre alt gewordenen Bismarckstaates möglich sein.
Es liegt sogar fast etwas wie ein Trost darin, dass die Österreicher mehr als ein Menschenalter gebraucht haben, ehe sie nach dem Untergang des Alten den Atem für etwas ganz Neues fanden. Vielleich muss jeweils erst eine neue Generation herangewachsen sein, ehe die Trennung vom verjährten Alten überhaupt möglich ist.
Exkurs nach Belgien
Ehe wir uns dem Konkretissimum dieser Untersuchung, der Frage nach den Bausteinen einer Friedenspolitik in der Mitte Europas zuwenden, seien im Stil des futurum historicum noch zwei Exkursionen in die Vergangenheit erlaubt, die uns eine genauere »Datenverarbeitung« für die Gegenwart zu ermöglichen scheinen.
Wenn die österreichische Situation nach dem Untergang des Habsburgerreiches, wie hier unterstellt, als historisches Vergleichsphänomen zur Situation der beiden Deutschland nach dem Ende des Bismarck- und Hitlerreiches verstanden werden kann, liegt es nahe, andere Vergleichserscheinungen, wenn es ohne Strapazierung der Historie möglich ist, auf ihre Vergleichbarkeit hin anzuziehen. Wobei unser Augenmerk vor allem dem Neubeginn nach untergangsartigen Geschichtsereignissen zugewandt sei, weil es uns ja nach 1945 auch vor anderem um ein Neubeginnen gehen muss.
Hier bietet sich neben Österreichs Weg von 1918 bis 1955 als besonders einprägsam das belgische Beispiel an, bei dem ebenfalls in einem Zeitraum von gut dreißig Jahren auf das Ende einer jahrhundertealten historischen Überlieferung der Anfang einer neuen Staatlichkeit gefolgt ist. Die spanischen und hernach österreichischen Niederlande haben bis 1795 als Rest des ehedem viel größeren burgundischen Reiches existiert, das sich in diesem nordburgundischen Teil als ein Kontinuum über mehr als vier Jahrhunderte hinweg erwies.
Dieser Rest von Burgund fand in den Jahren zwischen 1794 und 1797 (Campo Formio)60 in den Stürmen der Französischen Revolution seinen Untergang, nachdem sich bereits in den letzten habsburgischen Jahren die Anfänge eines neuen national-belgischen Bewusstseins geregt und auch politisch artikuliert hatten. Es hat aber dann über die Annektion durch Frankreich und die Einverleibung in das Königsreich der Großniederlande durch den Wiener Kongress des zeitlichen Abstandes eines ganzen Menschenalters bedurft, ehe es nach der Revolution von 183061 zur Konstituierung des Königsreiches Belgien als eines neuen und trotz vieler Probleme stabilen Staates auf der Landkarte Europas kam.
Was sich damals mit Belgien ereignete, kann das gegenwärtige Interesse dadurch noch zusätzlich beanspruchen, dass es sich hier wie in der heutigen Situation zwischen Bundesrepublik und DDR um einen Teilungsvorgang handelt, der im Ganzen der gesamtniederländischen Geschichte gesehen werden muss. Denn die Vereinigung von 1815 bis 1830 war kein singulärer Vorgang, eher ein abschließendes Geschehen, das sich auf einige Jahrhundert vorangegangener gemeinsamer burgundischer wie niederländischer Geschichte bezog. Die gemeinsame Vergangenheit hat sich – darin der siebenjährigen Zugehörigkeit Österreichs zu Hitlers Großdeutschem Reich vergleichbar – als minder mächtig als die zentrifugale Tendenz auf Teilung erwiesen.
Krakau – Freistadt auf Zeit
Das andere hier anzuziehende Beispiel betrifft unser östliches Nachbarvolk, dessen Teilungsschicksal heute oft in etwas kurzschlüssiger Weise als historische Analogie verwendet wird. Dass die Polen ein bis anderthalb Jahrhunderte der Teilung überstanden haben, dient vielfach zu einer – wie wir glauben falschen Ermutigung, entsprechende Hoffnungen mit der deutschen Teilung zu verbinden. Wobei übersehen wird, dass Polen seine verlorene Einheit vor einem halben Jahrhundert auf der Woge eines allgemein-europäischen Nationalismus wiedergefunden hat, der heute – trotz oder gerade wegen de Gaulle62 – zu einem Atavismus geworden ist.
Unser Augenmerk gilt hier nicht so sehr den drei großen, quasi klassischen Teilungen Polens zwischen 1772 und 1795, sondern jenem weniger beachteten vierten Teilungsvorgang von 1815, der in mancher Hinsicht an die vierte deutsche Teilung 1961 erinnert. Der Wiener Kongress, in dessen Verlauf Preußen zeitweise bereit war, den Russen gegen die Überlassung von Sachsen eine Grenze an der Oder zuzugestehen, hat weitgehend die alten Teilungsgrenzen wiederhergestellt – mit einer sehr merkwürdigen Neuerung: da man sich über Polens alte Hauptstadt Krakau nicht einig wurde, machte man sie zu einem Freistaat unter Dreimächtestatus, dessen Senat trotz zeitweiliger Besetzung durch die drei Teilungsmächte eine gewisse Souveränität besaß.
Es lag nahe, dass Krakau, ungefähr an der Nahtstelle der Teilungsmächte gelegen und durch seine Vergangenheit als Haupt- und Krönungsstadt der polnischen Könige zur Hochburg der Vereinigungsbestrebungen des geteilten Volkes wurde. Es ist fast ein Wunder, dass die Freie Stadt diese Rolle über ein ganzes Menschenalter hinweg hat spielen können. Und es verwundert kaum, dass diese Rolle eines Tages zu Ende gespielt war: infolge von revolutionären Unruhen, die eine russische Intervention veranlassten, wurde der Status des Freistaats 1846 aufgehoben und Krakau nach gut dreißigjähriger Lebensdauer trotz schärfster Proteste von englischer und französischer Seite dem österreichischen Galizien einverleibt.
Hauptstadt der Unruhe
Unsere Exkursion führt uns trotz scheinbaren Umwegs mitten in den Kern der Problematik, die uns nun ausschließlich beschäftigen soll. Es bedarf keiner gedanklichen Akrobatik, um vom Schicksal von Krakau mit einem Salto von knapp hundert Jahren auf das von Berlin zu schließen. Wie Polens ehemalige Hauptstadt im Laufe einer Menschengeneration historisch überflüssig und ausschaltbar wurde, weil ihr keine gültige Aufgabe zugesprochen werden konnte, so könnte es auch der ehemaligen Hauptstadt Deutschlands ergehen, wenn sie sich nur von gestern her und nicht auf morgen hin versteht.
Wenn wir Berlin als ein bis dato ungenutzte politisches Potenzial, ja darüber hinaus als einzigen wesentlichen Aktivposten einer deutschen Zukunfts-und Friedenspolitik bezeichnen, so gilt es für eine derart ungewöhnliche Behauptung nunmehr den Beweis anzutreten bzw. die Argumente beizubringen. Denn zunächst muss zugegeben werden, dass dieses Berlin gerade zurzeit eine ziemlich jämmerliche Figur macht.
Die Stadt ist fast unversehens zur Hauptstadt einer deutschen Unruhe geworden, von der noch niemand sagen kann, wohin sie dieses noch kaum vom Hitlerwahnsinn genesene Volk im Endergebnis führen wird. Berlin ist in Konvulsionen geraten, die denen im übrigen Deutschland vorauszulaufen scheinen.
Dies ist die einzige ihm noch verbliebene Hauptstadtfunktion, mit der es sich aber auf ein sehr gewagtes Spiel eingelassen hat. Denn es hatte in der jüngsten Vergangenheit zeitweise den Anschein, als werde das Potenzial dieser Stadt, das im Wesentlichen ein Potenzial der Mitte ist, zwischen den Amokläufern von links und von rechts verschließen und verbraucht: auf der einen Seite eine gefährlich erinnerungslose Jugend, die aber vor dem von ihr verachteten Establishment das wachere Gewissen voraus hat; auf der anderen eine eher noch gefährlichere erinnerungsübersättigte ältere und mittlere Generation, die derart von Ängsten bestimmt ist, dass viele und nicht die Schlechtesten bereits eine neue Phase der Verfinsterung am deutschen Horizonte aufziehen sehen.
Berliner Konföderation
Was immer es damit auf sich haben mag und auf die Gefahr hin, dass wir mit dem Berliner Potenzial auch von einem Felle handelnd, das bereits im Davonschwimmen ist, scheint es uns gerade von der Situation einer ziel- und ratlosen Generation her nur umso notwendiger, zu einer möglichst klaren politischen Ortsbestimmung für heute und Zielansprache auf morgen zu kommen. Das Aufbegehren der jungen Menschen gegen eine unglaubwürdig gewordene Führung dürfte entscheidend von diesem Fehlen jeglicher Ortsbestimmung und Zielansprache herzuschreiben sein.
Nachdem wir auf die Aufgabe einer Ortsbestimmung des nachfaschistisch-nachtotalitären Teilungsdeutschland von heute bereits einige Mühe verwendet haben, soll uns nunmehr die noch wichtigere Aufgabe der Zielansprache beschäftigen. Hier sei zunächst die Aufgabe einer doppelten Konföderation genannt, die schon eine Weile im Gespräch, leider aber immer neuen Missverständnisse ausgesetzt ist. Die Doppelkonföderation hat sich als eine zu schwierige Vokabel erwiesen und wurde meist als bloße Varianten des zeitweilig von der DDR propagierten Konföderationsgedankens verstanden, bei dem es um eine Art nachgeholten Deutschen Bund zwischen der bundesrepublikanischen und der deutsch-demokratischen Republik geht.
Dieser Gedanke war nie konkret. Man dürfte Walter Ulbricht kaum Unrecht mit der Vermutung tun, dass er die Vorstellung einer deutschen Konföderation nur als ein Lockmittel gebraucht hat, solange er sicher sein konnte, dass kein bundesdeutscher Politiker von dem hohen Thron des offiziell vertretenen Anschlussdenkens herabzusteigen bereit war.
Was hier unter Doppelkonföderation verstanden wird, hat eindeutig und unvertauschbar mit der Position Berlins zu tun. Man sollte daher vielleicht klüger von einer Berliner Konföderation sprechen, was auch durch die Analogie von Krakau ein wenig nahegelegt wird. Unter den vielen Konföderationen, die in der Geschichte Polens eine Rolle gespielt haben, war die Krakauer Konföderation von 176863 – kurz vor der ersten polnischen Teilung – eine der bedeutendsten.
Wir verstehen unter Doppel-Konföderation – mit einigen Freunden, die diesen Gedanken in die politische Literatur eingebracht haben – eine interdeutsche Struktur, in der der Position Westberlins eine Verklammerungsfunktion zwischen den beiden immer weiter auseinandergetretenen Deutschland zugedacht ist. Das ist, in einem etwas groben Bilde ausgedrückt, dahin beschrieben worden, Westberlin müsse, schon um seiner eigenen Fortexistenz, aber auch um der besagten Klammerfunktion willen, zu dem bundesrepublikanischen Bein, das es nicht einbüßen dürfe, ein DDR-Bein hinzugewinnen. Das gilt vor allem für die wirtschaftliche Situation der Stadt, die es dringender denn je nötig erscheinen lässt, endlich einigermaßen normal auf zwei Beinen stehen zu lernen.
Schlachtung der Heiligen Kühe
Die Klammerfunktion muss aber auch politisch artikuliert werden. Dazu bedarf es vorab einiger Einsichten in die deutsche Gesamtsituation, die dem Normaldenken noch reichlich fern sind. Es handelt sich quasi um heilige Kühe der öffentlichen Meinung, deren Opferung von der Gegenseite aber so kategorisch zur Voraussetzung jeden weiteren Gesprächs gemacht worden ist, dass es hoch an der Zeit scheint, hier endlich ein großes Aufräumen zu besorgen.
Man könnte in Analogie zu den drei Grundforderungen Kennedys64 in Bezug auf Berlin von den drei Essentials65 der Moskauer Politik sprechen, die in allen Verlautbarungen des Ostblocks fast gleichlautend wiederkehren, also offenbar so unabdingbar wie die Essentials des amerikanischen Präsidenten gemeint sind. Es handelt sich um den Verzicht der Bundesrepublik auf jeden Anteil an der atomaren Rüstung, um den erklärten Verzicht auf die Oder-Neiße-Gebiete und um die Anerkennung der DDR.
Merkwürdigerweise werden diese beinahe selbstverständlichen Essentialien einer Politik west-östlicher Koexistenz in der bundesdeutschen Durchschnittsmeinung unter dem Begriff Vorleistung behandelt, während es doch ganz eindeutig Nachleistungen, sei es des Hitlerkrieges (Oder-Neiße), sei es der westorientierten Adenauer-Politik (DDR) sind – von einer deutschen Atombewaffnung zu schweigen, die von vornherein nur als wahnhafte Denkverirrung begriffen werden konnte.
Man sollte sich nicht darüber täuschen, dass es bei diesen Vor-Nachleistungen zunächst des Denkens und sodann auch der politischen Praxis in einem unausweichlichen Sinne auch wieder um Berlin geht. Denn je später die Bonner Politik die Einsicht realisiert, dass die heiligen Kühe nicht zu retten sind, mit umso schlechterer Ausrüstung gehen wir in die nächste Auseinandersetzung um Berlin, die wir gut und gerne auch verlieren können.
Berlin zählt nicht zu den heiligen Kühen, obwohl es im bundesdeutschen Denken vielfach die Rolle einer solchen spielt: politische Unsinnsleistungen wie die Bundestagssitzungen in Westberlin und viele nichtssagend-auftrumpfenden Bonner Reden gehören in diese Kategorie.
Gerade darum muss mit großem Ernst der Möglichkeit ins Auge gesehen werden, dass die Berliner Position eines nicht allzu fernen Tages verspielt werden kann: wie Hitler die deutschen Ostgebiete aufs Spiel gesetzt und dem Zugriff der Ostnachbarn preisgegeben hat, und wie Adenauers Westintegration die deutsche Teilung sanktionierte, so könnte ein intransigentes Beharren auf verlorenen Anspruchspositionen diese Stadt einmal tödlich gefährden. Und wenn man jene Geschehnisse mit emotionalen Vokabeln als Verrat an Deutschland bzw. an seiner Wiedervereinigung begreifen kann, so geschähe im Falle Berlins ein wirklicher Verrat – Verrat nämlich an einem Frieden, der gerade hier gestiftet werden kann und muss.
Etappen eines Vertragsfriedens
Erst wenn die heiligen Kühe geschlachtet und die Nachleistungen der Meinungsbildung erbracht sind, wenn zweimal zwei in unserem politischen Einmaleins wieder vier ist, können weitere Etappen eines konkreten Friedensdenkens, auf die es entscheidend ankommen wird, ins Auge gefasst werden. Denn das bloße Akzeptieren von Grundforderungen der Gegenseite bedeutet ja noch nicht Politik, es schafft lediglich die Voraussetzungen für weiterzielendes politisches Handeln.
Eine wichtige Etappe auf dem sehr hart gepflasterten Wege zum Vertragsfrieden könnte – im Kontext einer Doppelkonföderation – ein internationales Abkommen über die Verkehrswege nach Berlin sein. Bekanntlich war ein solches Abkommen bereits zu Kennedys Zeiten bis zur Unterschriftsreife ausgearbeitet, ist aber damals am Bonner Widerstand gegen die damit notwendigerweise verbundene Teilanerkennung der DDR gescheitert.
Eine weitere Etappe könnte, wiederum, von Berlin aus entworfen, ein gestaffeltes Gewaltverzichtsabkommen sein. Ein bloßer gegenseitiger Gewaltverzicht wäre, selbst auf BRD und DDR ausgeweitet, eine allzu simple und eigentlich einfallslose Sache. Er hätte wahrscheinlich bei beiden Partnern, solange sie sich gegenseitig das Schlimmste zutrauen, ähnlich den Nichtangriffspakten Hitlers fast nur papierenen Wert. Anders ein Verzicht auf Gewalt in jenen Bezügen, wo wirkliche Bedrohung und Beängstigung im Spiel ist, also im Verhältnis von Westberlin zur DDR und von der DDR zur Bundesrepublik. Und eine Staffelung dieser Art könnte wahrscheinlich sogar weiterentwickelt werden zu einem Gewaltverzicht des Warschauer Paktes gegenüber Bonn sowie der NATO gegenüber dem Warschauer Pakt.
Was die überaus frustrierte Frage des Verzichtes auf die Oder-Neiße-Gebiete angeht, so bietet sich hier fürs erste die von Außenminister Brandt auf dem Nürnberger Parteitag der SPD vorgeschlagene Formulierung an; der Gedanke einer Bonner Anerkennung der Oder-Neiße-Linie »bis zum Friedensvertrag« – was selbst den Vertriebenenverbänden zumutbar sein müsste, weil es ja gerade ihre These ist, erst in einem vertraglichen Frieden könnte über die Zukunft der Ostgebiete entschieden werden.
Die schwierigste aller Friedensetappen, die allerdings zugleich die entscheidende ist, wird durch die Frage nach der Anerkennung der DDR angesprochen, weil hier die Fronten am verhärtesten sind, gegenseitiges Verständnis am schwersten zu erwirken ist. In dieser Frage ist auch der Prozess der Meinungsbildung in der Bundesrepublik bislang am weitesten zurückgeblieben. Auch bei sonst denkfähigen Menschen stößt man in dieser Hinsicht auf eine weitgehende und aufs Ganze gesehen gefährliche Fehleinschätzung.
Nachdem man sich solange gegen die bloße Vokabel Anerkennung gewahrt hat und sich mit juristischen Tricks wie Anerkennung de facto und de jure beschäftigte, war es schon ein Schock, als Wilhelm Wolfgang Schütz im vergangenen Jahr von staatlicher bzw. staatsrechtlicher Anerkennung zu sprechen wagte, was zu dieser Stunde allerdings auch wieder auf einen für den Partner uninteressanten Trick herauskam. Denn die DDR fordert seit November 1966 konstant und unüberhörbar die völkerrechtliche Anerkennung, nicht mehr und nicht weniger. Sie hat aus der Weltentspannung, die seit Johnsons66 Rede vom 7. Oktober 1966 – trotz Vietnam – im Gange ist, die naheliegende und ihr kaum zu verwehrende Konsequenz gezogen, in dieser für ihre Existenz entscheidenden Frage aufs Ganze zu gehen, und wir werden nicht umhin können, daraus früher oder später unsererseits Konsequenzen abzuleiten.
Es sei damit an dieser Stelle keineswegs der simplen Kapitulation das Wort geredet. Es wird, wenn es einmal zum Schwören kommt, hart verhandelt werden müssen, wobei es notwendigerweise wieder nicht wenig um Westberlin – zum Teil sogar um die kümmerlichen Reste von »Gesamtberlin« – gehen wird. Die immer noch vorhandenen Reste des einstigen Viermächtestatus – insofern die letzten Reste des untergegangenen Gesamtdeutschland – werden bei den Unterhandlungen wahrscheinlich sogar eine wichtige Rolle spielen.
Entscheidend aber dürfte sein, ob wir bis dahin begriffen haben, dass die völkerrechtliche Anerkennung eines Tages vollzogen werden muss und es also darauf ankommt, rechtzeitig über einen Kaufpreis nachzudenken, den es dafür zu erhandeln gälte. Es gibt, wie wir meinen, nur einen, der den Handel lohnte: die völkerrechtliche Sicherung – einschließlich der wirtschaftlichen und politischen – von Westberlin.
Zwei-Staaten-Vertrag
Die skizzierten Etappen können das Konzept nicht ersetzen, mit dem, wenn die Situation gereift ist, einmal in die Unterhandlungen für einen Friedensvertrag eingetreten werden muss. Er dürfte, wie schon ausgeführt, nur in der Gestalt eines Zwei-Deutschland bzw. Zwei-Staaten-Vertrages möglich sein, der die völkerrechtlichen Grundlagen, die bei normalen Friedensverträgen vorausgesetzt werden, erst selber schaffen muss. Das war beim österreichischen Staatsvertrag von 1955, weil es ja bereits in der Zwischenkriegszeit ein Österreich gegeben hat, nur zum Teil der Fall. Insofern bietet das belgische Beispiel, bei dem es sich ja auch um ein Teilungsgeschehen handelt, eine näherliegende Analogie.
Es wird zu dem damit angesprochenen Ziel ein weiter und möglicherweise sehr kurvenreicher Weg gegangen werden müssen, aber wir meinen, nur so könne die bloße Verwaltung eines inner- und außenpolitischen Status quo, auf die sich heute die mit Politik bezeichneten Geschäfte beschränken, wieder in eine Politik ausmünden, die diesen Namen verdient.
Offenes Commonwealth
Auch die Zielansprache auf Doppelkonföderation und Zwei-Staaten-Vertrag hin könne eine gefährliche Engführung sein, wenn sie auf etwas differenziertere Weise doch nur die Zusammenführung der Deutschen bewirkte, sozusagen eine Wiedervereinigung durch die Hintertür, die die Welt in West und Ost sicher auch in dieser Form nicht zu akzeptieren bereit wäre. Es sollte sich nicht so sehr um eine Zusammen- als um eine Zueinanderführung der Deutschen aus den beiden feindseligen Heerlagern der Welt von heute handeln. Weil zwischen ihnen der Abgrund am tiefsten, die gegenseitige Feindseligkeit am härtesten und schärfsten ist, muss der Wetteifer um den Frieden, der morgen in der ganzen Welt wichtiger als kalte oder heiße Kriege sein wird, gerade zwischen den Deutschen der beiden Weltlager beginnen.
Es geht um eine Umfunktionierung nicht nur Berlin, sondern beider Deutschland auf eine Friedens- statt der bisherigen Kalten-Kriegs-Potenz. Daher kann eine Föderation der Deutschen, auch in der umrisshaft beschriebenen Gestalt einer Doppel-Konföderation, nur eine Durchgangsphase sein, ganz gewiss zeitweise hilfreich auf dem schwierigen Wege zu einem Doppel-Staatsvertrag, dessen wichtigste Aufgabe darüber hinaus die Schaffung neuer Grundlagen für das Zusammenleben und – Wirken mit den Nachbarn beider Deutschland, nicht zuletzt auch mit den Nachbarn im Osten wäre.
Wir sind das nachbarreichste Land Europas und möglicherweise sogar der Welt. Daher kann und darf eine Föderation der Deutschen im Endergebnis nicht ohne ihre Nachbarn geschehen. Und hier kann Berlin noch einmal eine Zukunfts- und Friedensfunktion gewinnen. Durch seine geographische Nähe zu den östlichen Ländern einschließlich der Sowjetunion hätte es schon heute die Möglichkeit, aufgrund nachbarlicher Kontakte Friedens- und Freundschaftsbeziehungen anzubahnen. Es geschieht gottlob schon heute in dieser Hinsicht wesentlich mehr, als der breiteren Öffentlichkeit bekannt ist.
Vielleicht ist es verfrüht, das politische Friedensdenken bereits heute, wo Doppelkonföderation und Doppelstaatsvertrag nur als relativ ferne Ziele anvisiert werden können, auf eine noch weiterführende Zielansprache zu lenken. Gleichwohl sollte nichts unterlassen werden, was den Verdacht eines engen Zweckdenkens bereinigen und überwinden kann, wie er etwa das Kleineuropa der Sechs so rasch einem Vergiftungsprozess ausgesetzt hat. Warum sollte nicht heute bereits der Gedanke eines offenen Commonwealth gedacht werden dürfen, das von einer befriedeten Mitte Europas her, wenn dieser Erdteil erst in West und Ost um den Frieden wetteifern gelernt hat, den gewonnenen Frieden auch in andere Weltbereiche weitertragen könnte?