Bestrebungen des Leiters der Evangelischen Akademie Westberlin
2. August 1968
Einzelinformation Nr. 827/68 über Bestrebungen des Leiters der Evangelischen Akademie in Westberlin, Dr. Müller-Gangloff, zur Sammlung von Opponenten der Bonner Politik
Ergänzend zu unserer Einzelinformation Nr. 728/68 vom 11.7.1968 wurde dem MfS bekannt, dass Dr. Müller-Gangloff1 dem »Bürgerkomitee Westberlin«2 inzwischen eine schriftliche Ausarbeitung für ein »politisches Programm des Berliner Bürgerkomitees« übergeben hat. (Müller-Gangloff war vom Bürgerkomitee aufgefordert worden, einen Programmentwurf vorzulegen, der zum politischen Manifest des Bürgerkomitees in Westberlin, aber auch in der Bundesrepublik werden könnte. Das Manifest sollte so gehalten sein, dass es als Grundlage für die politische Sammlung aller ehemaligen Notstandsgegner geeignet sei.) Eine Abschrift des neu erarbeiteten und überarbeiteten Materials befindet sich in der Anlage (Anlage 1). Müller-Gangloff erklärte, vom Bürgerkomitee sei vorgesehen, das Material als Grundlage einer Pressekonferenz in Westberlin zu verwenden.
Das Vorhaben Müller-Gangloffs, namens der Organisation »Aktion Sühnezeichen«3 einen »Aufruf zu einer Friedenskonsultation in Berlin« zu veröffentlichen, wurde inzwischen verwirklicht und auf öffentlichen Veranstaltungen in München und Nürnberg der Presse übergeben (Anlage 2).
Weiterhin hat Müller-Gangloff die Kontakte zum Präsidenten des Verwaltungsgerichtes Westberlin, Dr. Külz,4 verstärkt und gemeinsam mit ihm am 13.7.1968 in der evangelischen Akademie Westberlin eine Akademie-Tagung unter dem Thema »Was in unserer Stadt gesagt und getan werden könnte« durchgeführt. Der Veranstalter, Dr. Müller-Gangloff, begründete Aufgaben und Zweck der Tagung folgendermaßen: »Nachdem es so lange still um Berlin war, allzu still, wie wir meinen, ist spätestens seit dem 11. Juni offen am Tage, dass die Probleme unserer Stadt nicht durch hinhaltende Unentschiedenheit und schon gar nicht durch ohnmächtige Kraftgesten gelöst werden können. Das Nachdenken darf nicht immer erst dann erfolgen, wenn wieder ein Stückchen Substanz eines gestern noch für selbstverständlich gehaltenen Miteinanders fortgeschwunden ist.«
Dem MfS wurde weiter bekannt, dass die »Aktion Sühnezeichen« plane, ihr Jahrestreffen in der letzten Dezemberwoche 1968 in der Evangelischen Akademie Loccum zum Thema »Die DDR und andere östliche Nachbarn« durchzuführen. Es sei beabsichtigt, dazu prominente Vertreter aus der DDR einzuladen. Prof. Dieter Klein5 (Hauptstadt der DDR Berlin) sei zwar durch seine Kontakte zum SDS-Westberlin abgewertet, er käme aber eventuell trotzdem in Frage. Sehr interessiert zeigte sich Müller-Gangloff an Prof. Dr. Joswig6 (Hauptstadt der DDR Berlin), Akademie der Wissenschaften Berlin, Spezialist für Entwicklungsländer. Joswig sei in Santa Barbara (USA), in Genf zur Konferenz »Pacem in terris« u. a. Veranstaltungen in westlichen Ländern gewesen. Über Joswig habe er erneut von Dr. Nenning7 (Wien, Chefredakteur »Neues Forvm«8) gehört. Nenning habe ihn in St. Barbara kennengelernt und habe ihn auch während des Weltkongresses der UCIP in Westberlin9 besuchen wollen.
Diese Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quelle nicht öffentlich ausgewertet werden.
Anlage 1 zur Information Nr. 827/68
Dessins für ein Programm des Berliner Bürger-Komitees
Grundaufgabe für eine neue westliche Politik – Rückgewinnung der seit 1958 verlorenen Initiative gegenüber dem Osten, insbesondere gegenüber der DDR durch Aufweis einer Alternative zur Adenauer10-Erhard11-Kiesinger12-Linie.
Zweckbestimmung für Bürger-Komitees: Aufbau einer Gegen-Öffentlichkeit zur Veränderung des Meinungs-Klimas und als potenzieller Gesprächspartner für anbahnende Verhandlungen mit der DDR.
Stilvoraussetzung: Im Sprachgebrauch gegenüber dem Osten Verzicht auf beschimpfende Epitheta als eine seelische Ausgleichsgymnastik für praktische Zugeständnisse.
Grundforderungen: 1. Ausdrücklicher Verzicht auf Alleinvertretungsanspruch; 2. Absage aller ohnmächtigen Kraftgesten, die als Provokationen angesehen werden können (Bundestagssitzungen in Westberlin, CDU-Parteitag, Wahl des Bundespräsidenten).
Verhandlungsgegenstand mit der DDR: die drei Essentials des Ostblocks, für deren Annahme Kaufpreise zu finden sind.
Ziel: Vertragsfriede in Gestalt eines Zwei-Staaten-Vertrages auf dem Modell des österreichischen Staatsvertrages von 1955.
Wichtige Verhandlungspunkte: Völkerrechtliche und wirtschaftliche Sicherung von Westberlin als Kaufpreis für Anerkennung der DDR. Slogan: Wandel durch Anerkennung!
Anbahnung: durch Doppel-Konföderation. Slogan: Zweites Bein für Westberlin: Zu dem bundesrepublikanischen Standbein, das nicht verloren werden darf, ein DDR-Bein hinzugewinnen. Erschließung des ehemaligen Hinterlandes von Berlin.
Klammerfunktion von Westberlin zwischen den beiden Deutschland (einschließlich ihrer Nachbarn).
Etappen für doppelte Föderation
- 1.
Verkehrsabkommen für die Zufahrtswege nach Westberlin (Land, Wasser und Luft)
- 2.
Gewaltverzichtabkommen mit Spezifizierung auf Westberlin – DDR
- 3.
Neues Passierscheinabkommen, möglichst auch für Einreise von Westberlinern in die DDR im Austausch für neue Bestimmungen über Travel-Board.
Aktion Sühnezeichen | 1 Berlin 12 | Jebensstraße 1
Aufruf der Aktion Sühnezeichen | zu einer Friedens-Konsultation
Die Aktion Sühnezeichen hat vor einem Jahr auf dem Evangelischen Kirchentag in Hannover die Forderung nach »Frieden mit der DDR« erhoben, die in Ostberlin nicht unbeachtet geblieben ist. Im Westen ist das anfänglich sehr starke Interesse allerdings bald abgeklungen, weil dem Losungswort von Hannover keinerlei Aktivität – weder der Politiker noch in der Bevölkerung – gefolgt ist. Das sogenannte Establishment zeigte sich zu einem Umdenken auf neue und zukunftsbezogene politische Zielsetzungen weniger denn je fähig oder auch nur bereit. Und die aufbegehrende junge Generation scheint in unartikulierter Programmlosigkeit stecken zu bleiben und die in der besonderen deutschen Situation vorgegebene Aufgabe eines praktikablen Friedensdenkens zu versäumen.
In diesem Zustand einer absoluten Blockierung aller Zukunftserwartungen meint die Aktion Sühnezeichen nicht schweigen zu dürfen. Die ehemaligen Freiwilligen mahnen und drängen uns, den Weg der politischen Besinnung, der uns in der ersten Etappe nach Hannover geführt hat, weiterzugehen. Im Sinne der vorjährigen Friedensadressen aus West und Ost erscheint es unabweisbar und notwendig, auf einen baldigen Vertragsfrieden mit und zwischen den beiden Deutschland hinzuarbeiten und konkrete Hilfen dafür anzubieten. Es wird statt um die bisherigen Zwangsideen um die Formulierung erreichbarer Ziele und um die Anbahnung von Verhandlungen über sie gehen.
Die neue Berlinkrise bestätigt nur das Recht unseres Rufes nach einer Politik des Friedens, die von neuen Konzeptionen ausgeht. Wir werden im demütigen Nachvollzug von politischen Pressionen bleiben, solange wir nicht in vollem Annehmen der 1945 zu Recht über uns hereingebrochenen Katastrophe eine Politik der Umkehr beginnen, die auf die über zwei Jahrzehnte hinweg mitgeschleppten Wunschvorstellungen verzichtet.
Nachdem der Westen schon vor Jahren seine Essentials formuliert hat, müssen die »Essentialien« des Ostblocks: Atomwaffenverzicht, Oder-Neiße-Grenze und Anerkennung der DDR von unserer Seite entsprechend ernst genommen werden. Es fragt sich, ob und was nach einer jahrelangen hinhaltenden Politik noch für sie eingehandelt werden kann. Vielleicht für den Atomverzicht eine atomwaffenfreie Zone in Ausweitung des Rapacki-Planes,13 für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze diplomatische Beziehung zu den Ostblockstaaten und – als unvergleichlich wichtigsten Kaufpreis – für die Anerkennung der DDR die völkerrechtliche und wirtschaftliche Sicherung des Status von Westberlin.
In diesem Sinne planen wir im Einvernehmen mit dem Comenius-Club14 für deutsch-osteuropäische Beziehungen und anderen gleichgerichteten Bestrebungen eine Friedens-Konsultation, die möglichst noch in diesem Jahr, spätestens aber zu Beginn des nächsten, in Berlin stattfinden soll. Sie soll in ihrer ersten Etappe einer verbindlichen Friedensabrede mit der DDR, insgesamt aber der Anbahnung eines Friedensvertrages mit den ehemaligen Siegermächten dienen.
Wir fordern alle zum Mitdenken und zur aktiven Mitwirkung auf, die das Friedenstiften für eine konkrete, noch heute anzupackende Aufgabe halten.
1. Juli 1968 | Erich Müller-Gangloff | Volker von Törne15
Anlage 2 zur Information Nr. 827/68
Friedens-Konsultation in Berlin?
Anlässlich einer Kundgebung mit Oberbürgermeister Vogel16 im Großen Saal des Münchener Rathauses veröffentlicht die »Aktion Sühnezeichen« zu ihrem zehnjährigen Bestehen einen Aufruf, in dem sie sich zu ihrer vorjährigen Kirchentags-Adresse »Frieden mit der DDR« bekennt und neue politische Initiativen fordert.
Zusammen mit dem Comenius-Club für deutsch-osteuropäische Beziehungen regt sie eine Friedens-Konsultation an, die einer verbindlichen Friedensabrede mit der DDR und darüber hinaus der Anbahnung eines Friedensvertrages mit den ehemaligen Siegermächten dienen soll.