Brief des Westberliner Regionalausschusses der an Ulbricht
28. August 1968
Einzelinformation Nr. 927/68 über einen Brief des Regionalausschusses der Prager Christlichen Friedenskonferenz (PCF) in Westberlin an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED, Genossen Walter Ulbricht
Dem MfS wurde bekannt, dass der Regionalausschuss der Prager Christlichen Friedenskonferenz1 in Westberlin beabsichtigt, einen Protestbrief (datiert vom 25.8.1968) an den Vorsitzenden des Staatsrates der DDR und Ersten Sekretär des Zentralkomitees der SED, Genossen Walter Ulbricht,2 zu senden.
In diesem Brief wird der Genosse Walter Ulbricht aufgefordert, die Maßnahmen im Zusammenhang mit den Ereignissen in der ČSSR rückgängig zu machen. In dem Brief heißt es u. a.: »… innerhalb der Regierungen des Warschauer Paktes, die am 21.8.1968 die Tschechei besetzt haben, dafür einzutreten, dass der Wille des weitaus überwiegenden Teils der Bevölkerung der ČSSR, die Kommunistische Partei und die legitimierte Regierung respektiert wird, die Truppen abziehen und das in Bratislava bekundete Vertrauen zu dem tschechoslowakischen Brudervolk wiederhergestellt wird«.
Zum Vorstand des Regionalausschusses der Prager Christlichen Friedenskonferenz in Westberlin gehören:
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Prof. Dr. Heinrich Vogel,3 Westberlin
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Prof. Dr. Dietrich Goldschmidt,4 Westberlin,
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Pfarrer Joachim Kanitz,5 Westberlin,
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Pastorin der Niederländischen Gemeinde in Westberlin Be-Ruys,6
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Student der Mathematik [Name], Westberlin.
Ob der geplante Protestbrief an den Genossen Walter Ulbricht bereits abgesandt wurde, ist nicht bekannt. Er soll aber am 29.8.1968 allen Mitgliedern des Westberliner Regionalausschusses der Prager Christlichen Friedenskonferenz zugestellt werden.
Der Wortlaut des Briefes wird als Anlage beigefügt.
1 Anlage
Anlage zur Information Nr. 927/68
Offener Brief
Westberliner Ausschuss der | Christlichen Friedenskonferenz | Pfarrer Kanitz | 1 Berlin 37, den 22.8.1968 | [Straße, Nr.]
Offener Brief | an den | Vorsitzenden des Staatsrats | der Deutschen Demokratischen Republik | Herrn Walter Ulbricht | Berlin
Sehr geehrter Herr Staatsratsvorsitzender!
Namens des Ausschusses der Christlichen Friedenskonferenz in West-Berlin wenden wir uns an Sie mit der dringenden Bitte, innerhalb der Regierungen der Staaten des Warschauer Paktes, die am 21.8. die Tschechoslowakei besetzt haben, dafür einzutreten, dass der Wille des weitaus überwiegenden Teils der Bevölkerung der ČSSR, der KSČ7 und der legitimen Regierungsorgane respektiert wird, die Truppen abziehen und das in Bratislava bekundete Vertrauen zu dem sozialistischen Brudervolk wiederhergestellt wird.
»Wir halten es für nötig, auf die Gefahr der Monopolisierung der Macht auf der internationalen und nationalen Ebene in Ost und West, Nord und Süd aufmerksam zu machen. Die Christen sollten sich überall in der Welt gegen Missbrauch der Macht und für ihre demokratische Kontrolle mit allem Risiko einsetzen«. Diese Sätze stehen in der Botschaft, die die III. Allchristliche Friedensversammlung auf ihrer Tagung in Prag Anfang April dieses Jahres beschlossen hat. Sie sind von der Versammlung mit großer Mehrheit angenommen worden. Ein tschechischer Delegierter hatte sie formuliert; er ließ ebenso wie auch alle anderen Tschechen und Slowaken auf der Konferenz keinen Zweifel daran aufkommen, dass es ihm bei der Demokratisierung in seinem Lande um nichts anderes als um Erweiterung und Verbesserung der sozialistischen Lebensform und Gesellschaft ging.
Als Mitglied der sich über alle Kontinente erstreckenden Christlichen Friedenskonferenz und als Bürger West-Berlins sind wir seit Jahren mit aller Entschiedenheit gegen den westlichen, vor allem amerikanischen Missbrauch der Macht, der sich in dem Interventionskrieg in Vietnam in seiner Brutalität enthüllt hat, aufgetreten. Mit derselben Intensität haben wir uns – gegen die Politik der Regierungen in Bonn und West-Berlin – für reale Schritte auf dem Wege zur europäischen Sicherheit und zur friedlichen Koexistenz beider deutscher Staaten unter Berücksichtigung des besonderen Status von West-Berlin eingesetzt. Was unter Ihrer Mitverantwortung am 21. August in der ČSSR geschehen ist, gefährdet die bisher vorhandene Einmütigkeit zwischen der überwiegenden Bevölkerung in Ihrem Staat und uns, nicht nur in dem gemeinsamen Kampf gegen die amerikanische Gewaltpolitik, sondern auch in dem gemeinsamen Ringen um ein friedliches Neben- und Miteinander aller europäischen Staaten.
Im Namen des Vorstands | gez. Kanitz