Einige Probleme der Energiewirtschaft
7. August 1968
Einzelinformation Nr. 846/68 über einige Probleme der Energiewirtschaft
Das Ministerium für Grundstoffindustrie und die VVB Energieversorgung wurden in den vergangenen Jahren von Experten der Energiewirtschaft wiederholt darauf hingewiesen, dass die Versorgungssicherheit von Industrie und Bevölkerung mit Elektroenergie sowie die Betriebssicherheit in den Anlagen der Energiewirtschaft ernsthaft gefährdet sind.
Diese Einschätzungen wurden insbesondere in folgenden Dokumenten getroffen:
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»Expertise über Untersuchung der Energiewirtschaft der DDR« vom Dezember 1965,
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»Bericht der zentralen Arbeitsgruppe des Ministeriums für Grundstoffindustrie zur Überprüfung des Störungsgeschehens im Bereich der Elektroenergie- und Gasversorgung« vom Dezember 1967,
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»Information über die Betriebssicherheit im Elektroenergiehöchstspannungsnetz der DDR« vom Juni 1968,
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Untersuchungsberichte über Störungen und Havarien in der Energiewirtschaft (z. B. Störungen im Umspannwerk Wustermark 1967, Transformatorenexplosion in den Kraftwerken Lübbenau und Trattendorf 1967, Havarie im Umspannwerk Wuhlheide 1968).
Obwohl im Ergebnis vorgenannter Untersuchungen laufend Schlussfolgerungen und Maßnahmen zur Erhöhung der Versorgungssicherheit festgelegt wurden, ist ein ständiger Anstieg des Störungs- und Havariegeschehens zu verzeichnen, und es besteht die akute Gefahr, dass Netzzusammenbrüche auftreten können und das Verbundsystem nicht aufrechterhalten werden kann.
Die Ursachen dieses Zustandes resultieren aus ungenügender Realisierung der von Experten gezogenen Schlussfolgerungen bzw. empfohlenen Maßnahmen durch das Ministerium für Grundstoffindustrie.
Die derzeitige Situation der Elektroenergieversorgung ist wie folgt gekennzeichnet: Von entscheidender Bedeutung für die Elektroenergieversorgung der DDR ist das 380-kV-und 220-kV-Höchstspannungs-Verbundsystem, da es der Leistungsabführung der Großkraftwerke und der Übertragung dieser Leistung an alle Abnehmerschwerpunkte der DDR dient und die Verbindung zum vereinigten Energiesystem der sozialistischen Länder herstellt.
In Anbetracht der Bedeutung des Höchstspannungsnetzes der DDR ist das Ansteigen des Störungs- und Havariegeschehens in diesem Bereich untragbar. Gab es im Jahre 1966 56 Störungen in Umspannwerken und 103 Leitungsstörungen mit einem Energieausfall von ca. 1 050 MWh, waren es im Jahre 1967 88 Störungen in Umspannwerken und 107 Leitungsstörungen mit einem Energieausfall von ca. 2 000 MWh.
Auch in der Zeit vom 1.1. bis 29.7.1968 gab es bereits wieder zehn Vorkommnisse in Umspannwerken und zehn Vorkommnisse in Kraftwerken, darunter solche Störungen mit bedeutenden Folgeschäden wie z. B. in den Umspannwerken Graustein, Wuhlheide und Karl-Marx-Stadt sowie im Kraftwerk Trattendorf.
Auch am 3. und 4. August 1968 kam es zu folgenschweren Störungen im Bereich der Elektroenergieversorgung.
Am 3.8.1968 trat an der Phase »S« eines Spannungswandlers im Umspannwerk Marke/Bitterfeld ein explosionsartig verlaufender Windungsschluss ein, der einen Ölbrand zur Folge hatte (Sachschaden ca. 80 000 M). Erste Untersuchungen ergaben, dass die Havarie vermutlich durch einen Wicklungsschaden ausgelöst wurde. (Es handelt sich um einen veralteten Wandler, hergestellt im VEB Transformatorenwerk Oberspree in den 50er Jahren nach einem AEG-Muster.) Da der Schichthabende der Bezirkslastverteilung Halle jedoch die dadurch eingetretene technische Situation nicht beherrschte, kam es zum totalen Leistungsausfall und zum Netzzusammenbruch. (Volle Versorgung war erst nach sechs Stunden wieder gesichert.)
Am 4.8.1968 kam es an einem Kombi-Wandler im Umspannwerk Wustermark/Kreis Nauen (Verbundnetz Berlin), zu einem Windungsschluss mit Brandfolge in der Phase »T«. (Sachschaden wird auf ca. 40 000 M geschätzt.) Erste Feststellungen ergaben, dass die Havarie vermutlich durch atmosphärische Verunreinigungen des Wandleröls und Zersetzung desselben ausgelöst wurde. (Auch bei diesem Wandler handelt es sich um einen veralteten Typ.)
Für die Versorgungssicherheit der Republik mit Elektroenergie ist die Zuverlässigkeit der Hauptausrüstungen (Großtransformatoren und Hochleistungsgeräte) in den Umspannwerken entscheidend. An den gegenwärtig vorhandenen 87 Großtransformatoren sind seit 1956 insgesamt 36 Havarien eingetreten. Damit havarierten bisher 40 % der Trafos im 220-kV-Netz und 75 % der Trafos im 380-kV-Netz. Dabei ist zu berücksichtigen, dass aufgrund der hohen Grundfondsintensität dieser Geräte (ein Trafo kostet rund 1,5 Mio. Mark, ein Leistungsschalter ca. 350 000 Mark) eine Reservehaltung nur in geringem Umfang betrieben wird. Deshalb und aus Gründen der Versorgungssicherheit wird im internationalen Maßstab mit einer Störquote gerechnet, die ungefähr gleich Null ist, d. h., dass z. B. Transformatoren unter Beachtung vorgeschriebener Wartungsarbeiten praktisch 25 bis 40 Jahre ohne Störungen und nennenswerte Betriebsunterbrechungen betrieben werden können. (Der letzte in der DDR noch vorhandene Reservetrafo musste infolge des Schadensfalls im Umspannwerk Graustein am 5.7.1968 eingesetzt werden.)
Durch die hohe Anzahl der Ausfälle an Trafos sind in einigen für die Volkswirtschaft entscheidenden Netzteilen kritische Situationen entstanden. Das trifft besonders zu für die Leistungsabführung aus den Großkraftwerken Lübbenau und Vetschau sowie für die Versorgungsgebiete Cottbus, Karl-Marx-Stadt und Thüringen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Energieausfälle stets Auswirkungen auf volkswirtschaftlich wichtige Betriebe und andere Objekte, Sendeanlagen, Grenzsicherungsanlagen u. a. zur Folge haben. Wie z. B. Experten einschätzen, ist bei Ausfall lediglich eines Umspanners in den Umspannwerken Ragow, Graustein, Zwönitz, Röhrsdorf, Erfurt-Nord und Remtendorf die Versorgung in vorgenannten Gebieten zeitweilig unterbrochen und nur durch provisorische Schaltmaßnahmen, die geminderte Spannungsverhältnisse nach sich ziehen, wieder herstellbar.
Die Havarien an den 220-kV-Trafos betreffen durchweg Fabrikate des VEB TRO Berlin. Die Havarien an den 380-kV-Trafos sind in neun Fällen an Fabrikaten der französischen Firma Jeumont-Schneider und in drei Fällen an solchen des VEB TRO aufgetreten. Bei den 380-kV-Trafos sowohl eigener als auch ausländischer Produktion liegen die Ursachen der Havarien in unausgereiften Konstruktionen begründet. (Zzt. läuft gegen die Firma Jeumont-Schneider ein Prozess mit dem Ziel der Leistung von Schadensersatz.) Die Ursachen bei den 220-kV-Trafos begründen sich im Wesentlichen in Konstruktionsmängeln, Fertigungsfehlern sowie Vernachlässigung der technischen Überwachung und Wartung.
Auch von den zzt. noch betriebenen 64 220-kV-Trafos sind 50 % wegen vorgenannter Mängel havariegefährdet. Selbst bei Einleitung prophylaktischer Maßnahmen zur Erhöhung der Lebensdauer der gefährdeten Trafos (z. B. Einsatz verbesserter Ölqualitäten, Verbesserung der Ölregenerierung, Einführung moderner Messmethoden zur Betriebsüberwachung) ist lediglich eine Hinauszögerung der Havariewahrscheinlichkeit zu erwarten. Diese Maßnahmen ersetzen nicht die Reparaturerfordernisse an den Trafos, die aber aufgrund fehlender Kapazitäten gegenwärtig nicht zu erfüllen sind. Zum Beispiel sind selbst von den 23 havarierten 220-kV-Trafos gegenwärtig elf Stück noch nicht repariert. (Die am längsten ausstehende Reparatur geht auf das Havariedatum Mai 1964 zurück.) Die durchschnittlichen Stillstandszeiten der zu reparierenden Trafos schwanken zwischen 17 und 35 Monaten. Zurzeit können jährlich nur drei Trafos repariert werden.
Der eingetretene Zustand der Versorgungssicherheit im 380-kV- und 220-kV-Netz, der hier insbesondere am Zustand der Großtrafos geschildert wurde, trifft in ähnlicher Form auch für einige andere Höchstspannungsausrüstungen (Leistungsschalter, Wandler) zu.
Vorgenannte Situation ist den Verantwortlichen im Ministerium für Grundstoffindustrie seit Jahren bekannt, ohne dass bisher wirksame Veränderungen durchgeführt wurden. Experten schätzen dazu ein, dass die Gründe dafür auf schlechter Leitungstätigkeit, mangelhafter Fonds- und Investitionspolitik sowie fehlerhafter Prognosen und Forschungstätigkeit der zentralen Organe der Energiewirtschaft beruhen.
Darüber hinaus hätten es nach Auffassungen der Experten die bilanzierenden Institutionen wie Ministerium für Elektrotechnik und Elektronik, VVB Hochspannungsgeräte und VEB TRO Berlin offensichtlich nicht verstanden, die notwendigen Aggregate in entsprechender Qualität herzustellen bzw. zu importieren.
Die geschilderte Situation der Versorgungssicherheit der Republik mit Elektroenergie – vor allem verursacht durch die Instabilität der Großtransformatoren und Ausrüstungen – kann zu erheblichen Störungen führen, wobei insbesondere die Umspannwerke zu beachten sind. Wie die Havarien in den Umspannwerken Wustermark und Berlin-Wuhlheide beweisen, können gerade durch Störungen auch in kleineren Umspannwerken durchaus größere Folgeschäden entstehen (z. B. Gefährdung der Flugsicherheit im Bereich Berlin-Schönefeld, zeitweiliger Sendeausfall beim Deutschen Fernsehfunk).
Zu der im Bereich Energiewirtschaft entstandenen Situation, wonach die Versorgungssicherheit von Industrie und Bevölkerung mit Elektroenergie sowie die Betriebssicherheit in den Anlagen der Energiewirtschaft ernsthaft gefährdet sind, wird von Fachleuten eingeschätzt, dass sie in erster Linie
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auf ungenügende Beachtung der von Experten vorgeschlagenen Maßnahmen durch leitende Mitarbeiter des Ministeriums für Grundstoffindustrie,
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auf unwissenschaftliche Leitungstätigkeit durch verantwortliche Mitarbeiter der Energieversorgungsbetriebe sowie
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auf eigenmächtige Handlungsweisen von an sich qualifizierten Fachkadern der Energiewirtschaft
zurückzuführen sei. (Beispielsweise wurde ein Bericht der Inspektion der VVB Energieversorgung, der die ernste Situation im Höchstspannungsnetz der DDR aufzeigte, von verantwortlichen Mitarbeitern des Ministeriums für Grundstoffindustrie nicht mit der notwendigen Konsequenz bearbeitet.)
Weiter ist im Zusammenhang mit aufgetretenen Großhavarien zu bemerken, dass die konkrete Ursachenforschung und Auswertung durch verantwortliche Mitarbeiter aus den Bereichen Energiewirtschaft/Maschinenbau nur ungenügend war und kaum Erkenntnisse für eine zweckmäßige prophylaktische Tätigkeit erbrachte.
Die von Spezialorganen des MfS und MdI untersuchten Havarien (insbesondere die Trafoexplosionen in Lübbenau und Trattendorf sowie die Störung im Umspannwerk Wustermark) erbrachten eine ganze Reihe von Hinweisen, die sich auf Mängel in der Ausrüstung, Sicherheitstechnik sowie Wartung und Bedienung und in bestehenden Vorschriften bezogen jedoch von verantwortlichen Mitarbeitern der Energiewirtschaft nicht genügend beachtet wurden.