Evangelische und katholische Kirchenvertreter über den Volksentscheid
30. März 1968
Einzelinformation Nr. 357/68 über Stellungnahmen führender Kreise der evangelischen und katholischen Kirche der DDR zum Verfassungsentwurf und Volksentscheid
Dem MfS wurde zuverlässig bekannt, dass am 28.3.1968 in Berlin in der Kirchenkanzlei der »Evangelischen Kirche der Union« eine Beratung zu Problemen der modernen Theologie stattgefunden hat, an der u. a. Bischof Fränkel1/Görlitz, Kirchenpräsident Hildebrandt2/Berlin und Oberkirchenrat Timm3/Schwerin teilnahmen.
Einziger Tagungsordnungspunkt waren die Ausführungen Bischof Fränkels zum Thema »Kirche in der Welt«. In diesem Zusammenhang hat er auch zum überarbeiteten Verfassungsentwurf der DDR4 Stellung genommen. Er legte dabei noch einmal den bekannten Standpunkt der evangelischen Bischöfe dar, wie er bereits in ihrer Eingabe an die Regierung der DDR zum Ausdruck gekommen ist.5
In der anschließenden Aussprache zu diesem Problem wurde besonders die Initiative und Haltung der katholischen Bischöfe gegen den Verfassungsentwurf6 hervorgehoben. In diesem Zusammenhang wurde bedauert, dass der Vorsitzende der Bischofskonferenz der evangelischen Bischöfe der DDR, Bischof Krummacher7/Greifswald, das geschlossene Handeln der evangelischen Bischöfe der DDR durch seine eigenmächtige positive Stellungnahme zum Verfassungsentwurf, die in der Presse veröffentlicht wurde, unmöglich gemacht habe.8
Aus diesem Grunde plädierte Bischof Fränkel/Görlitz sehr massiv für die Einberufung einer neuen Bischofskonferenz der evangelischen Bischöfe der DDR noch vor dem Volksentscheid.
Auf Initiative von Bischof Fränkel und Kirchenpräsident Hildebrandt wurde telefonisch der Versuch unternommen, Bischof Krummacher in seiner Eigenschaft als Vorsitzender der Bischofskonferenz zu beeinflussen, für den 29.3.1968 eine Bischofskonferenz nach Berlin einzuberufen. Das Gespräch mit Krummacher führte Oberkonsistorialrat Jungklaus9/Berlin, leitender Mitarbeiter der Kirchenkanzlei der EKU.
Über den Verlauf dieses Gesprächs wurde bekannt, dass Krummacher eine nochmalige Konferenz der Bischöfe der DDR zu diesen Fragen abgelehnt hat. Als Begründung für seine ablehnende Haltung wurde von ihm angeführt, mit der bereits bekannten schriftlichen Eingabe der evangelischen Bischöfe der DDR an den Staatsratsvorsitzenden Genossen Walter Ulbricht10 sei von der evangelischen Kirche ein klarer Standpunkt zum Verfassungsentwurf bezogen worden. Eine nochmalige Beratung dieses Problems sei deshalb nicht notwendig. Außerdem wäre er durch die gegenwärtig in Züssow tagende Frühjahrssynode des Konsistorialbezirks Greifswald voll in Anspruch genommen. (Wie dem MfS zur Haltung von Krummacher weiter bekannt wurde, hat er am 29.3. auf einer internen Beratung mit den Konsistorialräten des evangelischen Konsistorialbezirkes Greifswald zum Ausdruck gebracht, er habe die Absicht, sich am Volksentscheid zu beteiligen. Gleichzeitig empfahl er den Angestellten des Konsistoriums, ebenfalls am Volksentscheid teilzunehmen.)
Am 29.3.1968 fand eine weitere Beratung in der Kirchenkanzlei der EKU in Berlin, Auguststraße, statt. An dieser Beratung nahm neben dem bereits genannten Personenkreis noch zusätzlich Bischof Beste11/Schwerin teil. Auf der Tagesordnung stand die Auswertung eines im Predigerseminar Hermannswerder bei Potsdam durchgeführten Lehrganges mit Pastoren und Katecheten der evangelischen Landeskirchen. Über den neuen Verfassungsentwurf und den Volksentscheid ist nach einer internen Erklärung von Bischof Beste nicht mehr gesprochen worden.
Zur Haltung von Bischof Beste zum neuen Verfassungsentwurf und zum Volksentscheid wurde dem MfS intern bekannt,
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dass er eine nochmalige Stellungnahme der Bischöfe zum neuen Verfassungsentwurf für überflüssig hält,
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dass er seinen Geistlichen die Entscheidung zur Teilnahme am Volksentscheid selbst überlässt, weil es eine politische Frage sei, die jeder vor seinem Gewissen selbst entscheiden muss,
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und dass er in seiner Eigenschaft als Bischof keine Weisungen, Kanzelabkündigungen bzw. Verhaltensrichtlinien an die Oberkirchenräte, Pfarrer und kirchlichen Angestellten seiner Landeskirche geben wird.
Gegenüber seinem engeren Mitarbeiterkreis äußerte Bischof Beste, dass er sich am Volksentscheid beteiligen wird.
Eine gleiche Bereitschaft erklärten auch die Mitarbeiter des Konsistoriums der Mecklenburgischen Landeskirche, Kirchenpräsident Dr. Müller12/Schwerin, Oberkirchenrat Gasse13/Schwerin und Superintendent Dr. Steinbrecher14/Wismar.
Weiter wurde bekannt, dass am 2.4.1968 eine turnusmäßige Besprechung mit dem Landessuperintendenten der Mecklenburgischen Landeskirche zu theologischen und innerkirchlichen Fragen stattfindet. An dieser Besprechung will Bischof Beste, entgegen der sonstigen Gepflogenheit, teilnehmen. Dabei will er den oben erwähnten Standpunkt zum Volksentscheid zur sozialistischen Verfassung allen Landessuperintendenten darlegen und damit auch bereits vorliegende Anfragen seitens einiger Landessuperintendenten beantworten.
Zur Haltung der Katholischen Kirche der DDR wurde dem MfS Folgendes bekannt: Kardinal Bengsch15 hat für den 4.4.1968 eine Konferenz der Bischöfe der DDR, die katholische Ordinarienkonferenz, nach Berlin einberufen. Aus diesem Grunde hat er sich am 29.3.1968 mit Bischof Schaffran16/Görlitz und Bischof Aufderbeck17/Erfurt, die er nach Berlin bestellt hat, konsultiert. Beide sollen ihn bei den möglichen Vorschlägen, die er auf der Bischofskonferenz machen wird, unterstützen.
Bengsch hat vorerst angewiesen, am Sonntag, dem 31.3.1968 in den katholischen Kirchen der DDR kein Hirtenwort und keine Predigt, in denen gegen die Volksabstimmung Stellung genommen wird, zu verbreiten. Zur Volksabstimmung soll am 31.3.1968 in keinem Gottesdienst Stellung genommen werden. Da es offensichtlich bei einigen Geistlichen andere Auffassungen gab, hat der Kardinal zum Ausdruck gebracht, dass er in solchen entscheidenden Fragen wie der Verfassungsfrage keine Alleingänge dulde. Über dieses Problem hat er sich mit Schaffran und Aufderbeck ebenfalls konsultiert.
Am 29.3.1968 hat Kardinal Bengsch noch eine Beratung mit einigen Ordinariatsräten durchgeführt, in der die Verfassung und der Volksentscheid behandelt worden sind. An dieser Sitzung nahmen folgende Ordinariatsräte teil:
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Weihbischof Heinrich Theissing,18 Generalvikar, Leiter des Ordinariats;
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Prälat Schmitz, Theodor,19 Referat Priester und Theologen;
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Prälat Dissemond, Paul,20 Referat Seelsorge und Akademiker;
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Prälat Groß, Otto,21 Referat Presse und Publizistik.
In dieser Beratung kam es zu heftigen Auseinandersetzungen, in deren Ergebnis sich jedoch die von Prälat Groß vorgetragene Auffassung durchsetzte. Prälat Groß erklärte, dass in dem neuen Verfassungsentwurf, vor allem in dem Artikel 20,22 dem Grundanliegen der Kirche Rechnung getragen worden ist. Der Staat der DDR muss sehen können, dass die Eingaben der Bischöfe der katholischen Kirche von dem ehrlichen Bemühen um das Grundanliegen der Kirche, der Glaubens- und Gewissensfreiheit, getragen waren. Glaubens- und Gewissensfreiheit sind jetzt in die Verfassung aufgenommen worden, darum muss die Kirche, gleich wie jeder Einzelne zum Sozialismus steht, Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Außerdem würde er jedem empfehlen, den Bericht von Prof. Correns23 zur Verfassungsdiskussion24 ausführlich zu studieren, denn dieser sei einmütig von der Volkskammer angenommen worden. In diesem Bericht könne man lesen, dass die ungehinderte Ausübung der Seelsorge und der gemeinnützigen Tätigkeit der Kirche durch die Verfassung garantiert sind. Alles andere sei auf dem Verhandlungswege zu klären, der im Grunde genommen für die katholische Kirche nicht neu ist. Er verwies in diesem Zusammenhang auf bereits durchgeführte Verhandlungen, z. B. mit dem FDGB über die Angestellten der kirchlichen Krankenhäuser, die diesen Institutionen eine rechtliche Grundlage gegeben haben. Groß erklärte weiter, dass man die gesamte Entwicklung in der DDR sehen müsse. Dann könne man feststellen, dass kein Grund zum übergroßen Pessimismus vorhanden sei. Bei allen Schwierigkeiten habe es noch immer einen Weg gegeben, um mit dem Staat sachlich über kirchliche Interessen zusprechen. Er persönlich glaube nicht, dass in nächster Zeit umfassende Änderungen auf diesem Gebiet auch nur geplant sind.
Prälat Schmitz reagierte scharf auf diese Ausführungen von Groß und erklärte, der neue Entwurf, vor allem aber die Formulierung im Artikel 39, Abs. 2,25 dass Näheres durch Verhandlungen mit der Kirche geregelt werden kann, dem Staat doch viele Möglichkeiten der Unterdrückung der Kirche offenließe. Außerdem seien in der Verfassung auch solche Regeln des Völkerrechts, wie z. B. die Freizügigkeit des Wohnsitzes, völlig offengelassen worden.
Daraufhin wurde von Groß erklärt, dass auch solche Artikel, wie das Recht auf einen Arbeitsplatz, in der Verfassung stünden, die seiner Meinung nach für den werktätigen Katholiken wichtiger sind als Fragen der Freizügigkeit des Wohnsitzes.
Dem schloss sich Weihbischof Theissing an, der zum Ausdruck brachte, man dürfe sich jetzt dem Staat gegenüber keine Blöße geben. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die katholische Kirche für Privilegien, z. B. für das Eigentum, gekämpft habe und alles andere nur Gerede gewesen sei. Das Eigentum sei seiner Meinung nach – obwohl nicht in der Verfassung fixiert – trotzdem gesichert. Man müsse sich mit dem Gedanken vertraut machen, es handele sich um eine sozialistische Verfassung und eine Rückkehr zur Weimarer Republik und deren Verfassung sei nicht möglich.
Kardinal Bengsch ließ sich von Groß und Theissing überzeugen. Er erkundigte sich, ob in den Wahllokalen Kabinen vorhanden seien und äußerte, dass – wenn er sich darüber Gewissheit verschafft habe – er bei der Bischofskonferenz den Bischöfen empfehlen werde, am Volksentscheid teilzunehmen. Er selbst würde unter diesen Umständen ebenfalls am Volksentscheid teilnehmen. (Bisher hat der Kardinal an keiner Wahl in der DDR teilgenommen.) Es wurde dann Einmütigkeit darüber erzielt, dass auf der Bischofskonferenz am 4.4.1968 ein Brief an den Staatsratsvorsitzenden Genossen Walter Ulbricht entworfen werden soll, in dem u. a. der Dank der katholischen Bischöfe für die Veränderungen in der Verfassung, vor allem über die aufgenommene Glaubens- und Gewissensfreiheit, zum Ausdruck gebracht werden soll. In diesem Zusammenhang erklärte Prälat Groß, dass er dies für richtig halte, weil es seiner Meinung nach nicht Aufgabe der Kirche sei, die Vergangenheit zu konservieren, sondern ihre Aufgabe sei es, an der Zukunft mitzubauen.
Keine Einmütigkeit wurde darüber erzielt, ob und wie die katholischen Geistlichen, die alle mit der Eingabe der katholischen Bischöfe an den Staatsratsvorsitzenden Genossen Walter Ulbricht vertraut gemacht worden waren, informiert werden, dass mit dem Artikel über die Glaubens- und Gewissensfreiheit dem wichtigsten Grundanliegen der Kirche Rechnung getragen wurde. Zur Klärung dieser Angelegenheit wollen sich Prälat Groß und Prälat Zinke,26 Leiter des deutschen Caritas-Verbandes in Berlin, bei Kardinal Bengsch einzusetzen.
Aus dem Franziskaner-Orden, Niederlassung Halle, wurde bekannt, sofort nach Veröffentlichung des neuen Verfassungsentwurfs wurden alle Ordensmitglieder sehr eingehend mit dem Text vertraut gemacht. Allgemein wurde es als ein Entgegenkommen des Staates betrachtet, dass die Glaubens- und Gewissensfreiheit entsprechend den Vorschlägen der katholischen Kirche in den neuen Entwurf Eingang gefunden hat. Allerdings ließe auch der neue Entwurf die Frage der Erziehung und des Eigentums offen. Bis jetzt sei vorgesehen, dass sich trotzdem alle Franziskaner an dem Volksentscheid beteiligen. Wenn jedoch bekannt wird, dass man nur mit »Ja« stimmen könne, wäre eine Beteiligung nicht möglich. Die meisten Ordensangehörigen würden sowieso mit »Ja« stimmen, ihnen ginge es lediglich um das Gefühl, an einer freien demokratischen Wahl teilzunehmen. (Entsprechend der Ordnung des Franziskaner-Ordens ist anzunehmen, dass diese Regelung für alle Ordensniederlassungen gilt.)
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