Explosion im Chemiekombinat VEB Leuna-Werke
24. September 1968
Einzelinformation Nr. 1069/68 über eine Explosion im Chemiekombinat VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« am 20. September 1968
Am 20.9.1968, gegen 19.30 Uhr, kam es in der Ammonnitritfabrik1 des Chemiekombinats VEB Leuna-Werke »Walter Ulbricht« zu einer Explosion ohne Brandfolge. Durch die Explosion wurde die alte Freiluftanlage (Bau 143) der Ammonnitritfabrik zerstört bzw. schwer beschädigt. Weiterhin wurden Verbindungsleitungen zur neuen Anlage (Bau 275) beschädigt.
Die Apparatefahrerin Rother, Ilse, geboren am [Tag, Monat] 1911, wohnhaft Halle/Saale, wurde dabei tödlich, der 36-jährige Schichtleiter [Vorname Name] schwer verletzt. Sieben weitere Personen erlitten leichte bis mittlere Verletzungen durch Splitter bzw. Gaseinwirkung. (Von diesen Personen konnten inzwischen sechs nach ambulanter bzw. zeitlicher begrenzter klinischer Behandlung wieder entlassen werden.)
Über den eingetretenen Sachschaden können keine Angaben gemacht werden, da die zerstörte Anlage aus dem Jahre 1935 stammt, wertmäßig abgeschrieben ist und nach Erweiterung der neuen Anlage (Bau 275) zu Beginn des Jahres 1969 außer Betrieb genommen werden sollte.
Durch die Zerstörung der alten Anlage entsteht jedoch Ausfall in der Produktion vom Ammonnitrit, da mit der neuen Anlage zurzeit nur 60 % der geplanten Menge erzeugt werden kann. (Die neue Anlage hat die Produktion nach erfolgter Reparatur wieder aufgenommen.) Die geplante Erweiterung soll aufgrund der Explosion kurzfristig realisiert werden.
Da Ammonnitrit besonders für die Herstellung von Caprolactam (Grundstoff für Dederon) benötigt wird, ergeben sich bis zur Fertigstellung des Erweiterungsbaues Ausfälle, die durch zusätzliche Caprolactamimporte abgedeckt werden sollen.
Die Untersuchungen durch das MfS in Zusammenarbeit mit der Deutschen Volkspolizei erbrachten folgendes Ergebnis:
Zum Zeitpunkt der Explosion waren beide Anlagen (Bau 143 und 275) in Betrieb und wurden von insgesamt fünf Personen unter Leitung des Schichtführers [Name] gefahren. Infolge von Reparaturarbeiten an der Automatik musste die alte Anlage von der Apparatefahrerin Rother manuell bedient werden.
Bei Fahren der Anlage muss hinsichtlich des normalen Ablaufs der chemischen Reaktion beachtet werden, dass die Betriebstemperatur von + 20° C nicht überschritten wird und der pH-Wert (Säuregrad) nicht unter 7,7 absinkt, da sonst ein Selbstzerfall des Produktes in Form einer explosionsartig verlaufenden exothermen Reaktion eintritt.
Die Erforschung der Ursachen ergab, dass am 20.9.1968 eine solche kritische Situation eintrat und schließlich zur Explosion führte.
Wie Zeugenaussagen und Aufzeichnungen der elektrischen Messgeräte beweisen, traten ab 18.00 Uhr Unregelmäßigkeiten in der Anlage auf, die sich durch Schwankungen und allmählichen Abfall des pH-Wertes äußerten. Die Apparatefahrerin hat entsprechend der Technologie versucht, diesen Zustand durch Regulierung der Ammonkarbonatlaugenzuführung zu beseitigen, was jedoch nicht zur endgültigen Stabilisierung des Prozesses führte. Der pH-Wert schwankte weiter und fiel unmittelbar vor Eintritt der Explosion weit unter den kritischen Punkt. Der von der Apparateführerin daraufhin verständigte Schichtleiter ging den möglichen Ursachen nach. Dabei wurde ein plötzlicher Druckabfall am Manometer der Ammonkarbonat-Umwälzpumpe festgestellt. Unmittelbar danach erfolgte die Explosion, die zweifelsfrei auf einen Selbstzerfall des Produktes infolge Absinken des pH-Wertes eintrat.
Diese Reaktion ist die Folge des teilweisen oder gänzlichen Ausfalls der Ammonkarbonatlaugenzufuhr, die entweder auf einen Defekt an der Umwälzpumpe oder unsachgemäße Fahrweise zurückzuführen ist. Zur Klärung dieser Frage erfolgt zzt. eine Untersuchung der betreffenden sichergestellten Anlagenteile durch das KTI Berlin.
Die bisherigen Untersuchungen erbrachten keine Hinweise auf andere als die vorgenannte Ursache bzw. auf eine vorsätzliche Handlung.
Da es bereits am 25.4.1967 in der neuen Anlage (Bau 275) infolge unzulässiger Erhöhung der Betriebstemperatur zu einer explosionsartig verlaufenden Reaktion kam, wäre es seitens der zuständigen staatlichen und wirtschaftsleitenden Organe notwendig, unverzüglich Maßnahmen zur Gewährleistung der Produktionssicherheit bei der Herstellung von Ammonnitrit einzuleiten.