Explosion im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck
20. Dezember 1968
Einzelinformation Nr. 1383/68 über eine Explosion im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck (Elbe) am 14. Dezember 1968 und ihre vermutliche Ursache
Am 14.12.1968, gegen 7.30 Uhr, ereignete sich im VEB Sprengstoffwerk Schönebeck (Elbe), Betriebsabteilung II, im Patronier- und Verpackungsraum Bau GD 38 eine Explosion. Durch die Explosion wurden nachstehend genannte Betriebsangehörige getötet:
- 1.
Wittnebel, Erich, geboren am 24.3.1918 in Berlin, verheiratet, acht Kinder (27–7/8 Jahre), wohnhaft Schönebeck, [Straße, Nr.], Patronier, im Sprengstoffwerk seit dem 12.4.1950, Mitglied der SED, der DSF und des FDGB;
- 2.
Stock, Brigitte, geboren am 21.7.1933, verwitwet, zwei Kinder (16 und 11 Jahre), wohnhaft Schönebeck, [Straße, Nr.], Packerin, im Sprengstoffwerk seit dem 5.1.1966;
- 3.
Globisch, Victoria, geboren am 9.10.1914, verheiratet, wohnhaft Schönebeck, [Straße, Nr.], Packerin, im Sprengstoffwerk seit dem 20.9.1949;
- 4.
Endert, Liesbeth, geboren am 12.6.1923, verheiratet, wohnhaft Schönebeck, [Straße, Nr.], Patronenabnehmer, im Sprengstoffwerk seit dem 11.9.1950, Mitglied des FDGB, der DSF und des DFD.
Weitere 23 Personen erlitten Verletzungen, von denen elf in ein Krankenhaus eingeliefert werden mussten. Von diesen befinden sich nur noch zwei Personen mit schweren Verletzungen (Schädelbruch, Prellungen) im Krankenhaus. Nach vorläufigen Schätzungen beträgt der Sachschaden ca. 1 Mio. Mark (800 TM Gebäudeschaden und 200 TM Ausrüstungsschäden). Das Produktionsgebäude und die es umgebenden Schutzwälle wurden total zerstört. Am 14.12.1968 musste die Produktion in den Betriebsteilen I und II (d. h. Gesamtbetrieb außer Jagdmunitionsherstellung) eingestellt werden. (Produktionsausfall ca. 143 000 Mark.) Am 16.12.1968 wurde jedoch die Produktion wieder aufgenommen.
Die eingeleiteten Untersuchungen unter Beteiligung der VP und des MfS und Heranziehung einer Expertenkommission zur Aufklärung der Ursachen haben bisher folgendes Ergebnis:
Im Gebäude GD 38, bestehend aus einem Vorbereitungsraum für Kartonage, einem Patronierraum und einem Verpackungsraum, wird der Sprengstoff Delerit 40 zu Platten (8×10×2 cm) konfektioniert, paketiert (ca. 5 kg), in Polyäthylenbeutel eingeschweißt und jeweils fünf dieser Beutel in imprägnierte Holzkisten verpackt. Bei dem Sprengstoff Delerit 40 handelt es sich um einen handhabungssicheren, gelatinösen Ammonsalpetersprengstoff mit einer hohen Brisanzwirkung (hohe Sprengkraft). Er wird für die speziellen Zwecke der Nachzerkleinerung, als Auflegersprengstoff im Bergbau (Trümmerzerkleinerung) und als Unterwassersprengstoff eingesetzt.
Am 14.12.1968 nahm um 5.30 Uhr die Schicht in der Zusammensetzung Wittnebel, Stock, Globisch und Endert ihre Arbeit auf. Etwa drei Minuten vor dem Explosionsunglück suchte der Schichtmeister [Name 1] diese Produktionsstätte auf, etwa 1½ Minuten vorher fuhr der E-Karrenfahrer [Name 2] die Charge 6 an. Zu diesem Zeitpunkt wurden von beiden keine Veränderungen im Verhalten und im Arbeitsablauf der vier getöteten Betriebsangehörigen wahrgenommen. Nach Aufarbeitung der Charge 5 sollte die übliche Frühstückspause eingelegt werden.
Der Produktionsstätte GD 38 wird der zähflüssige Sprengstoff von der Mischerei chargenweise mittels Mischwannen angeliefert. Mischwannen (ca. 60×25×20 cm) bestehen aus Aluminium, werden mit einem Blechdeckel geschlossen und haben zwei Tragegriffe (Fassungsvermögen ca. 25–28 kg). Eine Charge besteht aus zehn Mischwannen (ca. 275 kg).
Bei der Anlieferung des Sprengstoffes sollen jeweils drei Mischwannen in den Patronierraum und die restlichen sieben Mischwannen in einem dem GD 38 vorgelagerten Unterstellraum auf einem Lattenrost abgestellt werden.
Der getötete Wittnebel hatte dann jeweils eine gefüllte Wanne auf einem dem Abpackautomat (40 Stück/Min.) vorgesetzten Holzbock abzusetzen und mit einer Holzschaufel den Sprengstoff aus der Wanne in den Trichter des Abpackautomaten zu füllen. Eine Schicht verarbeitet täglich etwa 12 bis 14 Chargen Sprengstoff.
Den Aussagen und Hinweisen des Schichtmeisters [Name 1] und des E-Karrenfahrers [Name 2] ist zu entnehmen, dass sich bei Ankunft der Charge 6 noch eine gefüllte und eine halbgefüllte Mischwanne der Charge 5 im Patronierraum befanden. Wittnebel hatte bereits früher entgegen den Betriebsvorschriften angeordnet, alle zehn Mischwannen der Chargen im Patronierraum bzw. Vorbereitungsraum für Kartonagen einzustellen. So auch an diesem Morgen, wobei Wittnebel selbst zwei Mischwannen der Charge 6 in den Patronierraum getragen und auf der Mischwannenbank abgestellt hat. Somit befanden sich zum Zeitpunkt der Explosion elf gefüllte Mischwannen im Patronierraum. Dabei wurden fünf Mischwannen übereinander gestellt. Wittnebel begründete diese Maßnahme damit, ein Wasserloch im Unterstellraum habe dazu geführt, dass er zeitweise nicht benutzt werden konnte. Als dann die Frostperiode begann, wäre man von dieser Praxis des Unterstellens im Patronierraum und auch im Vorbereitungsraum für Kartonagen nicht mehr abgegangen.
[Name 2] sagte weiter aus, dass er bei seinem Abfahren vom GD 38 durch die fast offenstehende Tür des Vorbereitungsraumes für Kartonagen noch drei volle Mischwannen der Charge 5 habe stehen sehen. (Nach Einschätzung der Experten muss aufgrund der vorangegangenen Lieferung der Charge 5 und der Ausmaße des Explosionskraters angenommen werden, dass es sogar fünf bis acht gefüllte Mischwannen gewesen sein können.) Die von [Name 2] wahrgenommenen gefüllten Mischwannen standen auf einem Lattenrost, der sich normalerweise im Unterstellraum hätte befinden müssen.
Wittnebel hatte bereits in der Vergangenheit Sprengstoff im Vorbereitungsraum für Kartonagen gelagert und war beim Umtragen der gefüllten Mischwannen beobachtet worden.
Am Explosionsort wurden insgesamt drei von der Explosion hervorgerufene Trichter festgestellt,
- –
im Vorbereitungsraum für Kartonagen ein Trichter von 120 cm Durchmesser und geringer Tiefe;
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zwischen dem Vorbereitungsraum für Kartonagen und dem Patronierraum ein Trichter von 240×260×25 cm (völlig zerstörte Zwischenwand) und
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im Verpackungsraum ein Trichter von 310×260×20 cm Größe.
Aufgrund der bisher geschilderten Umstände müssen nachstehende Versionen über den Hergang und die Ursachen der Explosion angenommen werden:
- 1.
Wittnebel hat eine Mischwanne von dem aufeinandergestellten Mischwannenstapel im Patronierraum abgezogen, sodass sich der am Wannenboden haftengebliebene Sprengstoff an einer der unteren unverschlossenen Mischwannen entzündete und die Explosion auslöste.
- 2.
Wittnebel wollte aus dem Vorbereitungsraum für Kartonagen eine Mischwanne holen. Wegen der räumlichen Überfüllung ist er möglicherweise gestolpert und die Wanne ist niedergefallen und explodiert. Es besteht auch die Möglichkeit, dass ein Tragegriff abriss, was in der Vergangenheit bereits vorgekommen ist.
- 3.
Die Arbeiterin Globisch, verantwortlich für die Vorbereitung der Kartonage zum Abpacken des verarbeiteten Sprengstoffes (Nummerierung der Kartonage), wollte sich die notwendige Arbeitsfreiheit auf dem Tisch im Vorbereitungsraum für Kartonagen schaffen. Aus diesem Grund hat sie eine gefüllte Mischwanne vom Tisch abzustellen versucht. Aufgrund der Schwere der Mischwanne ist diese heruntergefallen und explodiert.
Die Varianten 2 und 3 werden als die wahrscheinlicheren angenommen, da der im Vorbereitungsraum für Kartonagen befindliche Explosionstrichter im Zementfußboden die Größe einer Mischwanne hat.
Es konnten bisher keine Hinweise erarbeitet werden, dass der Abpackautomat als auslösender Faktor der Explosion infrage kommt.
Bei den zeugenschaftlichen Vernehmungen wurde u. a. erarbeitet, dass Wittnebel oftmals missgestimmt zur Arbeit erschien und zwischen ihm und den Frauen ein gewisses Spannungsverhältnis bestanden haben soll. Angeblich habe er seinen Ärger an den Frauen ausgelassen. Auf seine Anordnung hin sind die Mischwannen im Vorbereitungsraum für Kartonage abgestellt worden, wodurch die Arbeitsverhältnisse beengt waren. Der verantwortliche Meister hat diesen Zustand geduldet.
Im Zusammenhang mit den Untersuchungen wurden einige Hinweise über ständige Verstöße gegen die Sicherheitsvorschriften erarbeitet, die von den verantwortlichen Kräften »übersehen« wurden oder für die sie nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Es liegen Hinweise vor, dass im Bereich der Salpeteraufbereitung die Mahl- und Siebanlage nicht einwandfrei arbeite. Dadurch würde der auf die Erde fallende Anteil von Salpeter ca. 50 % betragen. Aus diesem Grund sei der Anteil gesiebten Salpeters für eine kontinuierliche Belieferung der Mischanlage zu gering. Deshalb führe man auch den grobkörnigen, verunreinigten Salpeter, der von der Erde aufgeschippt würde, ebenfalls dem Mischprozess zu. Die Gefahr besteht darin, dass Eisenteile in die Mischanlage mitgelangen, Funken reißen und eine Explosion auslösen können. (Durch den Leiter für Sicherheit, [Name 3], wurde ein Ansteigen von Fremdkörperfunden im November 1968 bestätigt.)
Die Materialfahrer der Mischanlage würden fünf bis sechs Mischungen auf Vorrat fahren, obwohl nur drei Mischungen bevorratet werden sollen. Teilweise kippen die Mischmaterialfahrer auch noch selbstständig das Material in die Mischanlage ein. Außerdem tragen sie oftmals schon Material in das Gebäude der Mischanlage, obwohl noch fertiggestelltes Pulver dem Mischer entnommen wird, teilweise sogar zu einem solchen Zeitpunkt, an dem der Mischung hochexplosives Sprengöl beigegeben wird.
Die Abfahrer mussten nach dem Vorkommnis am 19.8.1968 (vier Tote, sieben Verletzte) eine Anweisung schriftlich bestätigen, »nicht mehr als sechs Fässer im Schritt-Tempo zu transportieren«. Beobachtet werden kann immer wieder, dass bis neun Fässer im scharfen Tempo abtransportiert werden und niemand gegen derartige Verstöße einschreitet.
Anfang September 1968 wurden je Schicht zehn bis zwölf Chargen gemischt. Die Bereichsleitung schlug eine Erhöhung der Schichtleistung vor und Ing[enieur] [Name 4] errechnete eine theoretische Schichtleistung von 14 bis 15 Chargen. Ein Teil der Arbeiter lehnte die Erhöhung ab, während der andere Teil sich für die Erhöhung aussprach. In der Zeit vom 9.9. bis 30.9.1968 wurden dann auch täglich 14 bis 15 Chargen Sprengmittel erzeugt, wofür zusätzliche Prämien in Höhe von 150 Mark je Beschäftigten ausgezahlt wurden. Die Arbeiter vertraten die Meinung, die neue Norm wäre nur durch die Nichteinhaltung der Sicherheitsvorschriften erreichbar. Viele Mischer änderten daraufhin die Mischzeiten, um zusätzliche Zeit durch vorzeitiges Lösen der Sicherheitsknöpfe bzw. Öffnen der Sicherheitsschranke zu gewinnen. Andere Mischer durchkrochen die Sicherheitsschranke, um in die noch laufende Maschine vorzeitig Sprengöl zu gießen. Da die Nichteinhaltung der Mischzeit am Diagrammschreiber sichtbar wurde, wurden Manipulationen vorgenommen, die den Diagrammschreiber zeitweise außer Betrieb setzten.
Aufgrund der Gefährlichkeit beim Eingießen von Sprengöl soll sich bei diesem Vorgang nur eine Person im Mischraum aufhalten. Wie schon erwähnt, betreten aber auch häufig Materialfahrer bei diesem technologischen Vorgang den Mischraum.
Am 12.12. und 13.12.1968 wurden leere Fässer über eine »Rollbahn« vor den Mischtrog eines Mischers gerollt, um später das Mischprodukt einfüllen zu können. Bei diesem Vorgang wären zweimal eine Stichflamme und ein Knall entstanden. Der von diesem Vorkommnis informierte Ing[enieur] [Name 4] habe die Meldung der Arbeiter ignoriert und in Zweifel gestellt. Wäre zu diesem Zeitpunkt ein Produkt im Mischtrog vorhanden gewesen, dann hätte eine akute Explosionsgefahr bestanden.
Aufgrund der geschilderten Umstände erscheint es notwendig, dass die zuständigen staatlichen und betrieblichen Organe beauftragt werden, zukünftig wesentlich strengere Maßstäbe zur Gewährleistung und Aufrechterhaltung von Ordnung und Sicherheit anzulegen. Darüber hinaus müssten die übergeordneten staatlichen Organe durch entsprechende Festlegungen verpflichtet werden, ihre Aufsichtspflicht kontinuierlicher und zielgerichteter wahrzunehmen.