Fahnenflucht eines Feldwebels der 7. Grenzbrigade
1. Juni 1968
Einzelinformation Nr. 596/68 über die Fahnenflucht des Feldwebels [Name 1], Kfz-Zugführer der Straßenbaukompanie der 7. Grenzbrigade, am 28. Mai 1968
Feldwebel [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1944, wohnhaft Panzfelde, [Kreis] Hettstedt, Mitglied der SED, NVA seit 31.3.1964 (Berufssoldat), Kfz-Zugführer in der Straßenbaukompanie der 7. Grenzbrigade, befand sich seit 10.4.1968 mit der Straßenbaukompanie zu Grenzsicherungsarbeiten im Bereich des II. Bataillon Elend, Kompanie Sorge. Am 28.5.1968, gegen 6.00 Uhr, verließ er mit seinem Privatkrad das Objekt der GK Sorge, um in Wernigerode seinen Scheidungstermin wahrzunehmen.
Die Scheidungsverhandlung wurde jedoch wegen widersprüchlicher Aussagen beider Ehepartner unterbrochen und der nächste Termin für 14 Tage später anberaumt.
Nach der Gerichtsverhandlung am 28.5.1968 suchte [Name 1] gegen 10.00 Uhr die Leitung des I. Bataillon-Stabes auf und bat um Unterstützung beim nächsten Scheidungstermin, da seine Ehefrau seit einiger Zeit mit Soldaten aus diesem Bereich engere Verbindung unterhielt. Diese Unterstützung wurde ihm zugesagt.
Am 28.5.1968, gegen 20.15 Uhr, bemerkte der am Steinbruch Sorge eingesetzte Grenzposten die Annäherung von zwei Personen in Zivil. (Die Entfernung bis zur Grenze betrug ca. 1000 m.) Während sich Feldwebel [Name 1] bei der Kontrolle als NVA-Angehöriger der Straßenbaukompanie auswies, hatte die zweite Person, [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1936, wohnhaft Panzfelde/Hettstedt, Beruf: Kfz-Meister, keine Dokumente bei sich, die zum Betreten des 5-km-Sperrgebietes berechtigten. [Name 1] führte dazu an, dass [Name 2] ein Urlauber sei, der sich im Heim »Sorgenfrei« in Sorge aufhalte, und seine Berechtigungskarte vergessen hätte. Dabei ließ [Name 1] den [Name 2] nicht zu Wort kommen. Da die Posten bei der Kontrolle einen Seitenschneider (Zange) feststellten, begaben sie sich mit [Name 1] und [Name 2] zur nächsten Sprechstelle des GMN, um die Kompanie zu verständigen. Auf dem Weg dorthin stießen sie kurz vor der Straße Tanne – Braunlage auf ein am Wegrand abgestelltes Krad (Jawa). Feldwebel [Name 1] gab sofort zu verstehen, dass es sich um sein Krad handele, mit dem er vorausfahren wolle. Dies wie auch die weiteren Versuche zur Benutzung des Krades des [Name 1] wurden durch den Postenführer unterbunden. An der Sprechstelle wurde dem Postenführer über das GMN befohlen, beide Personen bis zum Eintreffen der Alarmgruppe der Kompanie abzusichern. Nach Eintreffen der Alarmgruppe, gegen 20.30 Uhr, wurden [Name 1] und [Name 2] aufgefordert, auf den Lkw der Alarmgruppe aufzusteigen.
Während [Name 2] dieser Forderung sofort nachkam, weigerte sich [Name 1] energisch und forderte, mit seinem Motorrad selbstständig zur Dienststelle zu fahren. Der Postenführer der Alarmgruppe, Oberfeldwebel [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1940, NVA seit 1.11.1960 (Berufssoldat), stellv. Zugführer in der Kompanie Sorge, ließ sich auf diese Diskussion ein und gestattete [Name 1], hinter dem Fahrzeug der Alarmgruppe herzufahren. Obwohl die Posten Oberfeldwebel [Name 3] darauf aufmerksam machten, dem [Name 1] wenigstens die Aktentasche abzunehmen, unterließ er dies und gab den auf dem Lkw sitzenden Posten auch keine Verhaltensregeln für den Fall, dass [Name 1] den Abstand zum Fahrzeug vergrößere.
[Name 1] folgte zunächst dem Fahrzeug der Alarmgruppe. Nach Durchfahren der Ortschaft Sorge sahen die Posten aufgrund starker Staubentwicklung den [Name 1] nicht mehr. Sie unternahmen jedoch nichts, weil sie die Abmachungen zwischen [Name 3] und [Name 1] nicht näher kannten.
Erst beim Eintreffen in der Kompanie Sorge, gegen 20.50 Uhr, wurde das Fehlen des [Name 1] festgestellt. [Name 3] übergab [Name 2] in der Kompanie und fuhr anschließend zurück, um [Name 1] zu suchen. Am Straßenrand, ca. 200 m vor dem Ortseingang Sorge, fand die Alarmgruppe die Aktentasche und das Motorrad des [Name 1]. Die sofort eingeleiteten Alarm- und Suchmaßnahmen verliefen ohne Erfolg. Nach den bisherigen Untersuchungen erfolgte die Fahnenflucht an der Bode. Die zur Einleitung der verstärkten Sicherungsmaßnahmen erforderliche Zeit reichte aus, dass [Name 1] diesen Abschnitt – den er durch Pionierarbeiten bereits kannte – erreichen und nach Westdeutschland flüchtig werden konnte.
Als Motiv müssen die zerrütteten ehelichen Verhältnisse des [Name 1] gesehen werden. Bereits im März 1968 stellte seine Ehefrau Strafantrag wegen Körperverletzung. [Name 1] hat seine Frau wiederholt geschlagen, vor allem, wenn er sich in angetrunkenem Zustand befand. Außerdem unterhielt [Name 1] seit längerer Zeit engere Verbindungen zu einer weiblichen Person in Hettstedt. Durch die Kompanie war bereits am 7.5.1968 vorgesehen, vor der Leitung und der Mitgliederversammlung parteierzieherische Maßnahmen gegen [Name 1] einzuleiten. Dies wurde jedoch auf den 30.5.1968 verschoben. [Name 1] hatte von diesem neuen Termin Kenntnis.
Außerdem besteht die Möglichkeit der Beeinflussung durch den [Name 2], zu dem [Name 1] lose Verbindung unterhielt. [Name 2] wurde 1960 nach Westdeutschland flüchtig. 1967 kehrte zunächst seine Frau und später er selbst in die DDR zurück. Diese Ehe ist ebenfalls zerrüttet. In der bisherigen Untersuchung streitet [Name 2] jedoch eine gemeinsame Fluchtabsicht ab. Seine Teilnahme an der gemeinsamen Fahrt mit [Name 1] begründet er damit, dass [Name 1] ihn eingeladen habe, um ihn die Leistung seines Motorrades und die Umgebung seines Dienstbereiches zu zeigen.
Begünstigt wurde die Fahnenflucht besonders durch die ungenügende Leitungstätigkeit und Parteiarbeit innerhalb der Straßenbaukompanie. Der Einsatz der Kräfte erfolgt vorwiegend von morgens 7.00 Uhr bis abends 20.00 Uhr. Teile der Einheiten arbeiten mitunter bis nachts 24.00 Uhr. Aufgrund dieses Einsatzes und einer äußerst mangelhaften Organisierung ist eine parteipolitische Arbeit in den Einheiten nicht gegeben. Ein großer Teil der Einheit erhält wochenlang keine Zeitung. Es finden kaum Schulungen mit dem zusammengefassten Personalbestand statt. Die Kompanieleitung hat sich teilweise vom Personalbestand isoliert. Es gibt keinen Einfluss der Leitung auf die Zugführer und Unteroffiziere; sie sind sich völlig selbst überlassen. Obwohl wiederholt auf diese Mängel hingewiesen wurde, erfolgte keine wirksame Veränderung.
Zur Person
[Name 1] war vor seiner Einberufung beim VEB Kraftverkehr Ballenstedt als Kraftfahrer tätig. Am 4.5.1964 wurde er zum Grenzregiment Zschachenmühle einberufen und später als Gruppenführer ausgebildet. Aufgrund seiner positiven Entwicklung erfolgte bereits im Regiment zeitweilig sein Einsatz als stellvertretender Zugführer. 1967 besuchte er einen Schirrmeisterlehrgang an der Zentralen Pionierwerkstatt. Am 25.10.1967 erfolgte seine Versetzung als Transportzugführer in der Pionierkompanie der 7. Grenzbrigade. Er verrichtete seinen Dienst ordnungsgemäß und wurde mehrfach belobigt. Im Personalbestand war er beliebt, und seine Unterstellten waren von ihm eingenommen. Charakterlich war er offen und aufgeschlossen, jedoch auch leicht zu beeinflussen. In seinem Wesen trat er impulsiv und jähzornig in Erscheinung.
Weitere Untersuchungen über die näheren Ursachen und Zusammenhänge der Fahnenflucht sowie des Aufenthaltes des [Name 2] im Grenzgebiet werden durch das MfS geführt.