Festnahme zweier Personen während der 1. Mai-Demonstration in Berlin
1. Mai 1968
Einzelinformation Nr. 488/68 über die vorläufige Festnahme von zwei Personen während der Demonstration auf dem Marx-Engels-Platz in Berlin
Am 1. Mai 1968, gegen 12.50 Uhr, wurden am Marx-Engels-Platz/Ecke Rathaus-Straße (Höhe Marstall) zwei Personen durch das MfS festgenommen. Sie hatten ein Transparent mit der Aufschrift »Vorbild für alle | ČSSR« im Demonstrationszug über den Marx-Engels-Platz getragen. Das Transparent aus blauem Tuch hatte die Größe von 2,50 m×1,20 m. Die Buchstabenhöhe (Buchstaben in weißer Farbe) betrug zwischen 20 und 40 cm.
Bei den festgenommenen Personen handelt es sich um Mill, Heinz, geboren [Tag, Monat] 1930 in Berlin, wohnhaft 1034 Berlin, [Straße, Nr.], beschäftigt als Transportarbeiter (Küche) im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain, geschieden, FDGB seit 1965 (Arbeitsschutzobmann 1966–1967), 1964 ein Verfahren wegen Unzucht mit Kindern eingestellt, [und] [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1944 in Sonnenburg, Kreis Ost-Sternberg, wohnhaft 1058 Berlin, [Straße, Nr.], beschäftigt als E-Karren-Fahrer im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain, ledig, war organisiert von 1950 bis 1958 bei den »Jungen Pionieren« und 1959 bis 1960 in der FDJ (keine Funktion). [Name 1] ist mehrmals vorbestraft: 1962 wegen Einbruchsdiebstahl acht Monate Jugendgefängnis, 1963 wegen staatsgefährdender Propaganda und Hetze (faschistische Lieder) drei Monate Gefängnis (bedingt verurteilt), 1964 wegen Einbruchsdiebstahl 30 Monate Gefängnis.
Nach den bisherigen Feststellungen ist der Vater des Mill (Kraftfahrer, zuletzt VP-Angehöriger) 1966 verstorben. Die Mutter (Kürschnerin) wohnt im Bezirk Prenzlauer Berg, [Straße, Nr.]. [Name 1] Mutter ist 1948 verstorben. Der Vater ist nicht bekannt, wobei vermutet wird, dass es sich um einen Spanier handelt.
Wie [Name 1] (bisher) aussagte, haben sich die beiden Täter in der Ackerstraße in einen ihnen fremden Demonstrationsblock aus dem Stadtbezirk Prenzlauer Berg eingereiht. Zu diesem Zeitpunkt trugen sie das Transparent eingerollt. Da auch andere Teilnehmer der Demonstration eingerollte Transparente mit sich führten, war die Absicht der beiden Täter noch nicht zu erkennen. Nach Erreichen des Marx-Engels-Platzes haben sie in der Höhe der Ehrentribüne das Transparent entrollt, wobei sie von den eingesetzten Sicherungskräften entdeckt wurden. Ihre Herauslösung aus dem Marschblock und ihre Zuführung erfolgte ohne Zwischenfälle und Komplikationen.
Das Transparent wurde von [Name 1] in den Abendstunden des 30.4.1968 in seiner Wohnung angefertigt. Zu diesem Zeitpunkt befand sich seine Freundin [Vorname Name 2] bei ihm in der Wohnung. [Name 1] bestreitet, dass seine Freundin an der Anfertigung des Transparentes beteiligt war. Das verwendete Tuch will [Name 1] vor längerer Zeit für persönliche Zwecke gekauft haben. Die weiße Farbe erwarb er am 30.4.1968.
[Name 1] machte am 29.4.1968 in seinem Arbeitskollektiv die Bemerkung, er wolle am 1. Mai sein eigenes Transparent mit der Aufschrift »Hoch lebe die ČSSR« mit sich führen. Wie er sich angeblich nur unklar erinnern will, habe irgendein Kollege die Frage aufgeworfen, ob er den Mut dazu besitze. Konkrete Reaktionen seien vonseiten seines Arbeitskollektivs nicht erfolgt. Mill beabsichtigte, dass das von ihm und [Name 1] getragene »Transparent« von den Teilnehmern der Demonstration mit Beifall aufgenommen werden sollte. Das Arbeitskollektiv von Mill hatte von seinen Handlungen keine Kenntnis. [Name 1] und Mill hatten bereits vor einigen Tagen auf Initiative [Name 1] ihr Vorhaben abgesprochen.
Nach den Aussagen von [Name 1] und Mill nahmen beide die Ereignisse in der ČSSR1 zum Anlass, um Vergleiche mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR anzustellen. Sie kamen zu der Auffassung, dass es den Bürgern der DDR ermöglicht werden müsste, »ungehindert in kapitalistische Länder zu reisen, sich uneingeschränkt allseitig zu informieren und Oppositionsparteien zu gründen«.
[Name 1] glaubte, dass in der ČSSR eine größere politische Aktivität verbunden mit einer uneingeschränkten Meinungsfreiheit für alle Bevölkerungskreise bestünde und gerade diese Verhältnisse für die ihm in seinem eigenen Arbeitsbereich bekannt gewordene Situation vorbildlich seien. Mill wollte mit seiner Handlung zum Ausdruck bringen, dass sich die staatlichen Organe der DDR gegenüber politischen Äußerungen von Bürgern »toleranter« verhalten sollten. Auf der Grundlage dieser Auffassungen wollten beide Täter mit ihrer Handlung andere Bürger der DDR zu gleichartigen Gedanken anregen.
Während [Name 1] sich politisch interessiert zeigt, handelt es sich bei Mill um einen Menschen, der sich nicht tiefgründig mit politischen Problemen beschäftigt und seine zum Ausdruck gebrachten politischen Auffassungen nicht durchdenkt.
[Name 1] war während der Verbüßung seiner früheren Haftstrafe sowie nach seiner Haftentlassung bemüht, sich konkrete Kenntnisse über innen- und außenpolitische Fragen anzueignen. Als ständiger Abonnent des ND unternahm er wiederholt Schritte, sich mit für ihn unklaren Fragen an kompetente Persönlichkeiten und Organisationen zu wenden. [Name 1] stellte z. B. unter anderem eine Anfrage an Genossen Prof. Gerhart Eisler2 zur Haltung der VR Rumänien im Zusammenhang mit der Aggression Israels.3
Angeregt durch Veröffentlichungen über die mit der »Kulturrevolution« in der VR China verbundenen Ausschreitungen suchte [Name 1] seinen Aussagen zufolge im Spätsommer 1967 die Botschaft der VR China in der DDR auf und erbat dort Auskunft über die Ziele der Entwicklung in China. Von einem Mitarbeiter der chinesischen Botschaft wurde ihm erklärt, dass die in der DDR erfolgten Veröffentlichungen über die Ereignisse in der VR China »erlogen« seien. [Name 1] erhielt Propagandamaterial, u. a. die Schriften »Worte des Vorsitzenden Mao4«5 und »Über die richtige Behandlung der Widersprüche im Volk«.6 [Name 1] hat sich besonders mit der zuletzt genannten Schrift mehr befasst.
Mill hat sich seinen Aussagen zufolge noch nicht grundsätzlich mit politischen Fragen beschäftigt. Hinsichtlich der Vorgänge in der ČSSR will er lediglich darüber informiert sein, dass eine neue Regierung gebildet wurde. Über Einzelheiten habe er sich weder durch Publikationsorgane der DDR oder anderer sozialistischer Staaten noch durch westliche Informationsquellen Kenntnisse verschafft. Im Jahre 1966 hat Mill eine 5-Tage-Reise nach Prag, die vom Reisebüro der DDR organisiert worden war, durchgeführt. Wie er erklärte, unterhalte er keine persönlichen Verbindungen in die ČSSR oder nach Westberlin bzw. Westdeutschland.
Die Arbeitsleistungen der beiden Täter werden von ihren Arbeitskollektiven als durchschnittlich bezeichnet.
Nach Durchführung der Befragungen und Untersuchungen wurden beide Täter wieder entlassen.
[Ergänzung zur Information in der Ablage der ZAIG für Paul Verner7]
Zusatz zur Information für Genossen Verner8
Lieber Paul!
Zu Deiner persönlichen Information teile ich Dir noch mit, dass die Täter aussagten, in beiden Arbeitskollektiven im Krankenhaus Berlin-Friedrichshain werde keine systematische politische-ideologische Erziehungsarbeit durchgeführt. Nach Aussage von [Name 1] würden in seiner Brigade keine politischen Diskussionen geführt und seine Kollegen seien politisch desinteressiert.
Diese Aussagen der beiden Täter wurden nicht mit in die Information hineingearbeitet. Ich darf Dich bitten, Genossen zu beauftragen, diese Angaben zu überprüfen.