Haltung in evangelischen Kirchenkreisen der DDR zu den Maßnahmen
27. August 1968
Einzelinformation Nr. 921/68 über die Haltung in evangelischen Kirchenkreisen der DDR zu den Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten
Dem MfS wurde bekannt, dass am 26.8.1968 in Magdeburg eine außerordentliche Sitzung der Kirchenleitung der evangelischen Kirchenprovinz Sachsen unter Vorsitz von Bischof Jänicke1 stattfand. An der Beratung nahmen gleichzeitig leitende Mitarbeiter des Konsistoriums teil.
Die Beratung befasste sich ausschließlich mit den Ereignissen in der ČSSR.2 Ziel der Zusammenkunft war die Erarbeitung einer einheitlichen Stellungnahme innerhalb der Landeskirche zu diesen Ereignissen.
In der Beratung wurde festgelegt, am 1.9.1968 – dem Jahrestag des Überfalls Hitlerdeutschlands auf Polen – eine schriftliche Erklärung herauszugeben. Die Erklärung soll den acht Pröpsten der Kirchenprovinz mit der Bitte um Weitergabe an die Superintendenten, Pfarrer und Gemeinden zugestellt werden. Bischof Jänicke wies in der Beratung darauf hin, dass diese Erklärung lediglich für die Kirchenprovinz Sachsen bestimmt sei. Den anderen Bischöfen bleibe es selbst überlassen, ob sie zu den Ereignissen ebenfalls Stellung beziehen. Die Teilnehmer der Beratung kamen überein, keine Vervielfältigungen dieses Materials zuzulassen, um dem Staat keinen »Vorwand« zu Beanstandungen wegen Missbrauchs der Vervielfältigungsgenehmigung zu geben. Die Erklärung soll mit der Überschrift »An den Staat« versehen werden. Über den endgültigen Wortlaut der Erklärung konnte bei der Beratung keine Einigung erzielt werden. Intern wurde dem MfS bekannt, dass der Text dieser »Erklärung« ausgearbeitet wurde und der Kirchenleitung Sachsen vorliegt. Bisher wurden dem MfS intern mehrere Passagen dieser »Erklärung« im Wortlaut bekannt (eine Abschrift befindet sich in der Anlage).
Am 27.8.1968, um 11.00 Uhr, führte der Vorsitzende des Rates des Bezirkes Magdeburg mit Bischof Jänicke eine Aussprache, um die Weiterleitung der Erklärung an die Superintendenten, Pfarrer und Gemeinden zu verhindern. Bischof Jänicke erklärte während dieser Unterredung, dass er diese Weiterleitung nicht verhindern und auch nicht allein darüber entscheiden könne. Die örtlichen Organe sollen vom Rat des Bezirkes angewiesen werden, mit allen Superintendenten Aussprachen zu führen, damit diese Erklärung am 1.9.1968 nicht von den Kanzeln verlesen wird.
(Nachträglich wurde bekannt, dass am 27.8.1968 die Kirchenleitung der evangelischen Landeskirche Sachsen unter Bischof Jänicke erneut zusammengetreten ist. Aufgrund der Aussprache beim Rat des Bezirkes soll die bereits schon herausgegebene Erklärung zurückgezogen und eine weitere Verbreitung dieser Erklärung an die Superintendenten und Pfarrer unterbunden werden. Diese Entscheidung sei auch im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des Moskauer Kommuniqués3 zu sehen.)4
Zur Durchführung der evangelischen Gottesdienste am 25.8.1968 wurde bekannt, dass in verschiedenen Kirchen in allen Bezirken der DDR auf die Ereignisse in der ČSSR in versteckter, teilweise auch in offener Form eingegangen wurde. Schwerpunkte bildeten die Landeskirchen Berlin-Brandenburg und Sachsen.
Die Gottesdienste in der Hauptstadt Berlin waren relativ gut besucht. Unter den Teilnehmern befanden sich viele Jugendliche. Zum Beispiel nahmen am Gottesdienst in der Marienkirche ca. 250 Personen teil, davon ca. zwei Drittel Jugendliche.
In sogenannten Fürbitten wurde gebetet
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für Wehrdienstverweigerer und unter Waffen Stehende,
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für alle Unterdrückten,
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für alle Studenten, die gegen Unrecht protestieren,
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für alle Revolutionäre, die die Diktatur und Gewalt abschütteln wollen,
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für den Frieden in der ČSSR, in Vietnam, in Afrika und im Nahen Osten.
In der Pfarrkirche in Berlin-Weißensee begrüßte Pfarrer Springer5 zwei Jugenddelegationen aus Stuttgart/WD und aus Dresden. In seiner Predigt äußerte er, dass er vom Rat des Stadtbezirks aufgefordert worden sei, den Weg zum Kommunismus mitzugehen. Dies hätte er abgelehnt, weil die Interessen der Christen nicht denen der Kommunisten entsprächen. Die Christen hätten sich täglich den Aufforderungen zum Eintritt in Parteien und FDJ sowie zur Teilnahme an der Jugendweihe6 zu erwehren. In dem Gebet, das von vier Jugendlichen gesprochen wurde, kam die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich die Verhältnisse in der ČSSR bald normalisieren.
Im Bezirk Frankfurt/O. traten Pfarrer, deren negative Einstellung bereits früher bekannt war, in Gottesdienst mit offenen Stellungnahmen gegen die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten auf. Tendenzen in ihren Äußerungen waren:
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das Volk der ČSSR habe unter den jetzigen Bedingungen zu leiden;
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die Bevölkerung solle sich nicht zu Unbeherrschtheiten hinreißen lassen;
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die christliche Bevölkerung dürfe nicht dulden, dass Deutsche sich dafür hergeben müssten, einem Volk der Freiheit zu berauben.
In Finsterwalde, [Bezirk] Cottbus, ließ der dort amtierende Superintendent seine Gemeinde dafür beten, dass den in der ČSSR um »Freiheit und Gerechtigkeit Kämpfenden« geholfen werde und die Obrigkeit die Kraft aufbringen sollte, »ihre Macht nicht zur Unterdrückung anderer zu missbrauchen«.
In den Gemeinden Ebersdorf und Liebschütz, [Kreis] Lobenstein, [Bezirk] Gera, wurde in den Schaukästen der Kirche in den letzten Tagen eine verstärkte Sichtagitation festgestellt, die u. a. folgende »Losungen« beinhaltete:
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Wie geht es Deinem Nachbarn
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Christen leben füreinander
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Wo Häuser des Friedens stehn, wird sich das Land selbst befrieden.
In bildlichen Darstellungen wird der Gebrauch von Waffen abgelehnt.
Im hauptamtlichen Apparat der evangelischen Landeskirchen der DDR ist – infolge Fehlens offizieller Stellungnahmen der leitenden Kirchengremien – eine starke Zurückhaltung festzustellen. Gleichzeitig schätzen die Bezirke übereinstimmend ein, dass gegenwärtig Pfarrer und Laienchristen eine größere Aktivität in individuellen Kontakten untereinander entwickeln und dabei reges Interesse an der Lage in der ČSSR zeigen. Eine große Anzahl der bekannt gewordenen Meinungsäußerungen dieses Personenkreises beinhaltet Unverständnis oder Ablehnung der Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten und eine sympathisierende Haltung mit der »Demokratisierung« in der ČSSR. Dabei lassen die Äußerungen auf den Westrundfunk als Informationsquelle schließen.
Diese Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quelle nicht öffentlich ausgewertet werden.
Anlage zur Information Nr. 921/68
»An die Superintendenten, Pfarrer und Gemeinden« | 26. August 1968
An dem Tage, an welchem vor 29 Jahren der Zweite Weltkrieg begann, …
Aufs Neue wollen wir vor dem Herrn und Menschen der Geschichte in der Erkenntnis der Schuld des deutschen Volkes beweisen, das in seiner Vermessenheit unsägliches Unglück den Völkern der Erde gebracht hat. Aufs Neue bitten wir nun, dass wir mit unserem Volk nicht andere Nachbarn … sondern …
Wir bitten unseren Herrn, dass er die Christen aller Völker einige, wo sie den Dienst der persönlichen Bereitschaft und an … im Ergebnis erweisen können. Wir bitten ihn …, dass er den heute mannigfach bedrohten Frieden in der Welt erhalte und den verantwortlichen Regierungen … die Waffen zum Schweigen zu bringen, wo Völker und Länder vom Kriege gezeichnet und heimgesucht werden.
Im Blick auf die Ereignisse der letzten Tage, die die Welt erlebt, in Kultur und Geschichte des deutschen Vaterlandes, sind wir von großer Sorge erfüllt, und in unserem Gewissen gedrängt, nicht zu schweigen. Wir müssen als Christen, die in der DDR durch die Geschehnisse dieser Tage in die größte Auseinandersetzung des Weltkommunismus hineingezogen sind … miteinander tragen, während die Bemühungen um eine Friedenserhaltung in der Welt durch die Aktion der Truppen des Warschauer Paktes in der ČSSR zunichte gemacht werden. Gerade wenn wir im Begriff sind, eine große Chance zur Lösung der deutschen Frage im Zeitalter der technischen und industriellen Revolution zu geben, müssen wir besorgt fragen, wird eine Glaubwürdigkeit in der Welt nicht einen schwer zu heilenden Schlag erleiden, wenn einer Regierung in dieser Weise Gewalt angetan wird. Kann es angesichts der jüngsten Ereignisse noch glaubwürdig erscheinen, die Regierungen des … zum Gewaltverzicht in den außerpolitischen Auseinandersetzungen bereit zu sein, kann es einen … von Gewalt und Furcht wirklich eine neue Gesellschaftsordnung in Freiheit und Menschenwürde gedeihen. Gerade weil es sich um eine bessere, gerechtere, friedlichere Ordnung unter den Menschen … handelt, können wir diese Fragen nicht zum Schweigen bringen, mit denen wir uns … Wir würden uns schuldig machen, wenn wir aus Menschenfurcht dieser Sorge nicht teilhaftig werden können.
In dem Bewusstsein unserer … Ohnmacht angesichts der gegenwärtigen Situation können wir nur beten: Herr hilf ihnen, die Gewalt erleiden, dass sie nicht verzweifeln oder sich zu unbedachten Reaktionen verleiten lassen. Verleihe ihnen Trost und Kraft … die in der NVA aktiv an dem Geschehen beteiligt sind, dass sie deiner Macht und Gnade voll vertrauen! Gibt doch deiner Versöhnung Raum und Glück, Hilf uns, Bote des Friedens zu sein!
Lass’ es aller Verwirrung der Herzen nun genügen, um allen Lügen der Welt seine Wahrheit …«