Illegales Verlassen der DDR durch einen Offizier der Volkspolizei
29. Oktober 1968
Einzelinformation Nr. 1182/68 über das illegale Verlassen der DDR durch einen Offizier der Volkspolizei
Dem MfS wurde bekannt, dass der Leutnant der VP, [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1926, wohnhaft Neuenhagen, Kreis Strausberg, [Straße, Nr.], Diensthabender des VP-Reviers 255 (Alt-Biesdorf) der VP-Inspektion Lichtenberg, Angehöriger der DVP seit 1948, Mitglied der SED, Gruppenorganisator, mit seiner Verlobten, [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1931, wohnhaft Neuenhagen, [Straße, Nr.], ohne Beschäftigung, während eines Urlaubsaufenthaltes in der VR Bulgarien nach Westdeutschland flüchtig wurde. Die geführten Untersuchungen ergaben Folgendes:
[Name 1] reiste am 13.9.1968 mit der [Name 2] mit eigenem Pkw (Typ Škoda) über die ČSSR, VR Ungarn in die VR Bulgarien aus, ohne ein konkretes Urlaubsziel anzugeben. Mit Brief vom 29.9.1968 an die Eltern der [Name 2] wird der Aufenthalt in der VR Bulgarien noch bestätigt. Am 11.10.1968 teilten der [Name 1] und die [Name 2] aus Heidelberg/Westdeutschland brieflich an die Eltern der [Name 2] mit, dass sich beide entschlossen hätten, nach Westdeutschland zu gehen und um Verständnis bitten, dass sie vorher nichts gesagt haben; aber aus Sicherheitsgründen hätten sie vorher darüber nicht sprechen können, um auch den Eltern keine Nachteile erwachsen zu lassen. Bis jetzt hätten sie sich in Westdeutschland jeglicher Stellungnahme gegen die DDR enthalten, drohten aber mit Veröffentlichungen, falls den Eltern »Nachteile aus ihrer Flucht« erwachsen sollten.
Eine Adresse gaben sie nicht an, da sie noch nicht wissen, wo sie hinkommen.
Wie die Untersuchungen ergaben, unterhält der [Name 1] bereits zehn Jahre das Verlöbnis zur [Name 2]. Die [Name 2] verfügt über umfangreiche Westverbindungen, ist selbst negativ zur gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR eingestellt und übte einen systematischen und nachhaltigen negativen Einfluss auf den [Name 1] aus. Aus politischen Erwägungen kam es bisher auch nicht zu einer Verehelichung, da [Name 1] aufgrund der umfangreichen Westverbindungen und der politischen Haltung der [Name 2] befürchtete, in seiner Entwicklung bei der DVP gehemmt zu werden.
Seit der Zugehörigkeit zur DVP (1948) übte [Name 1] die verschiedensten Funktionen aus. So war er drei Jahre Angehöriger einer VP-Bereitschaft und danach ausschließlich im Dienstbereich der VP-Inspektion Lichtenberg eingesetzt. So u. a. als Telefonposten, Wachleiter, Einsatzleiter, Diensthabender und Zugführer.
In der Dienstdurchführung wird [Name 1] als gewissenhaft und zuverlässig eingeschätzt.
Von den VP-Angehörigen des VP-Reviers 255 wurde [Name 1] deshalb auch wegen seiner korrekten Dienstdurchführung als Diensthabender geachtet. Charakteristisch war jedoch das Ausweichen von persönlichen Entscheidungen bei besonderen Ereignissen. In gleicher Richtung ist auch seine politisch-ideologische Haltung einzuschätzen. Als Parteigruppenorganisator der Parteigruppe trat er kaum mobilisierend in Erscheinung.
Da [Name 1] sein Privatleben vor den Vorgesetzten und den ihm unterstellten VP-Angehörigen »abschirmte«, kam es diesbezüglich auch zu keinen wesentlichen Auseinandersetzungen mit ihm, (z. B. ließ er VP-Angehörige, die ihn aus verschiedenen dienstlichen Anlässen benachrichtigten, nie in die Wohnung).
Die bisherigen Untersuchungsergebnisse lassen die Einschätzung zu, dass der negative Einfluss der [Name 2] ursächlich zu dem illegalen Verlassen der DDR durch [Name 1] geführt hat.1
[Name 1] war Geheimnisträger und ist in der Lage, umfassende Angaben über die Aufgaben, Tätigkeit und Struktur der VP-Inspektion Lichtenberg zu machen, zumal er im Laufe der Jahre in mehreren Dienststellen (VP-Reviere 252, 256, 258) tätig war und zeitweilig den Leiter des VP-Reviers vertrat.
Entgegen bestehender Weisungen des Leiters der VP-Inspektion Lichtenberg wurde durch den Leiter des VP-Reviers 255, Leutnant der VP [Name 3], der Auslandsaufenthalt des [Name 1] genehmigt.
Die Untersuchungen werden fortgesetzt, um weitere Ursachen und Beweggründe, den genauen Fluchtweg sowie den möglichen Verrat des [Name 1] allseitig aufzuklären.