Interview Havemann mit Korrespondent von »Il Giorno«
17. Oktober 1968
Einzelinformation Nr. 1140/68 über ein Interview Havemanns mit dem Deutschland-Korrespondenten der italienischen Zeitung »Il Giorno«, Scardocchia, am 9. Oktober 1968
Zu dem am 13. Oktober 1968 in der italienischen Zeitung »Il Giorno« veröffentlichten Interview1 Havemanns2 wurde dem MfS Folgendes bekannt:
Am 9.10.1968 reiste der Scardocchia, Gaetano,3 geboren [Tag, Monat] 1937, wohnhaft zzt. Hamburg, [Straße, Nr.], beschäftigt bei der italienischen Zeitung »Il Giorno«4 als Deutschland-Korrespondent, in die Hauptstadt der DDR ein. Er suchte am Nachmittag des gleichen Tages Havemann in dessen Wohnung auf und bat um die Beantwortung einiger Fragen. Er motivierte sein Anliegen damit, dass er seit einigen Tagen in Westberlin sei und gegenwärtig an einigen Themen arbeite, die sich insbesondere auf »die DDR nach den tschechoslowakischen Ereignissen« beziehen würden.
Über das zwischen Scardocchia und Havemann geführte Gespräch wurde dem MfS intern Folgendes bekannt: Der Scardocchia gab zu Beginn des Gespräches mit Havemann zu verstehen, dass er über dessen bereits in anderen westlichen Zeitungen erschienene Interviews unterrichtet sei. (Über frühere Interviews des H. wurde in den Informationen 481/68, 491/68 und 552/68 berichtet.)
Der von Scardocchia dem Havemann im Verlaufe der Unterredung in mündlicher Form vorgetragene Fragenkomplex beinhaltete im Wesentlichen solche Fragen wie,
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ob Havemann an die Möglichkeit glaube, dass die tschechoslowakischen Kommunisten ihren eigenen Weg noch finden,
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ob etwaige Veränderungen, die bisher in der DDR möglich schienen, seit den Ereignissen in der ČSSR5 unmöglich geworden seien,
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wie Havemann die Reaktion der zwei größten kommunistischen Parteien Europas6 auf die Ereignisse in der ČSSR einschätzt und ob man diese Reaktion in gewissem Sinne als beginnenden Bruch zwischen den kommunistischen Parteien werten könne und
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ob die Ereignisse in der ČSSR ein Diskussionsthema für die Bevölkerung der DDR gewesen seien.
Vorgenannter Fragenkomplex wurde von Havemann wie folgt beantwortet: Die Entwicklung in der ČSSR7 hätte die Möglichkeit geboten, einen »demokratischen Weg« zur Realisierung des Sozialismus zu gehen. Andererseits habe man jedoch – eben aufgrund dieser Entwicklung – mit einem Einmarsch der Armeen anderer sozialistischer Länder in die ČSSR rechnen müssen, obgleich er gehofft hätte, dass dies nicht geschehe. Die Truppen der sozialistischen Staaten würden die ČSSR vorerst an der Realisierung ihres »demokratischen Weges« hindern.
Trotzdem sei er Optimist und glaube, die ČSSR werde ihren Weg schon gehen. Der Einmarsch sozialistischer Truppen in die ČSSR hätte zwar in der ČSSR einiges geändert, aber »politisch« sei damit faktisch gar nichts erreicht worden. Schließlich könne man keine konterrevolutionären Kräfte niederschlagen, wenn sie gar nicht vorhanden seien. Außer, man betrachte das gesamte tschechische Volk als Konterrevolutionäre gegen die »Eindringlinge«. Die Gefahr einer Konterrevolution bestände nur dann, wenn »man die Führung der tschechoslowakischen Partei einsperre und deren Positionen mit irgendwelchen Dummköpfen besetze«.
Nach Ansicht Havemanns sei der historische Prozess der Entwicklung der kommunistischen Bewegung mit einem Schlage enorm gestört worden. In allen sozialistischen Ländern vollziehe sich ein Differenzierungsprozess, der sich insbesondere im veränderten politischen Bewusstsein bemerkbar mache. Dieser Prozess gehe auch an der DDR nicht vorbei. Zweifellos sei dabei die Lage in der DDR viel komplizierter als in allen anderen sozialistischen Staaten, weil es eine ganze Reihe Faktoren gäbe, die »einer großen Entwicklung ähnlich der der ČSSR entgegenwirken«. Nach seiner Auffassung sei es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die »Regierung der DDR durch die Bewegung gezwungen werde, an diesem Prozess teilzunehmen, ob ihr das nun gefalle oder nicht«.
In diesem Zusammenhang sprach H. davon, dass die politischen Verhältnisse in der DDR von der Entwicklung her »zu sehr ein Teil von einem größeren seien, worauf man sehr wenig Einfluss nehmen könne«.
Auf einen eventuellen Bruch zwischen den kommunistischen Parteien Europas eingehend äußerte Havemann, dass man neben einem Bruch zwischen den europäischen kommunistischen Parteien auch einen Bruch innerhalb des sozialistischen Lagers in Betracht ziehen müsse. Letzteres mache sich insofern bemerkbar, dass die kommunistischen Parteien Jugoslawiens und Rumäniens8 versuchten, die Sowjetunion und die anderen sozialistischen Länder zu bewegen, »zu sich zu kommen, weil die eingeschlagene Politik falsch sei«.
Z. B. halte auch die italienische KP die Politik der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Länder für falsch; sie wolle jedoch keinen Bruch im sozialistischen Lager.
Weiter erklärte Havemann, dass – abgesehen von den verschiedensten Parteien, die aus Gründen der Disziplin und der Kritik, die sie befürchten, eine entsprechende Haltung beziehen – die »meisten Kommunisten diese Politik der Sowjetunion für falsch halten«, eben weil die Mehrheit der Kommunisten der ganzen Welt erkannt hätte, dass diese Politik die Einheit der kommunistischen Weltbewegung, die sowieso schon nicht mehr so gefestigt sei, zerstören könne.
Havemann berichtete dem Scardocchia weiter über die Inhaftierung seiner beiden Söhne,9 die nach seiner Meinung angeblich nur deshalb erfolgt sei, weil seine Söhne Bewunderung für den 1. Sekretär einer Bruderpartei10 geäußert hätten. Seine Söhne würden lediglich die gleiche politische Meinung vertreten wie die überwiegende Mehrheit der kommunistischen Parteien.
Havemann bat den Scardocchia zum Schluss der Unterredung, »sehr vorsichtig mit seinen Veröffentlichungen zu sein, damit ihm keine Schwierigkeiten daraus erwachsen«.
Ich bitte um Entscheidung, ob dem Scardocchia künftig die Einreise in die Hauptstadt der DDR nicht mehr gestattet werden soll.