Neue Aktionen der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin
19. April 1968
Einzelinformation Nr. 440/68 über neue Aktionen der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin in Fortsetzung der bisherigen Protestdemonstrationen
Nach internen Angaben führen gegenwärtig Funktionärskreise der Westberliner Studenten in und zwischen den einzelnen Studentenvertretungen und -organisationen Besprechungen durch, auf denen Schlussfolgerungen aus den Aktionen der letzten Tage gezogen und neue Festlegungen für weitere Maßnahmen getroffen werden.
Auf einer gemeinsamen Sitzung des Republikanischen Clubs (RC)1 und des Westberliner Landesvorstandes des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS)2 sei beschlossen worden, die Demonstrationen fortzusetzen und bewusst zuzuspitzen. Es sollen »harte Auseinandersetzungen« mit der Polizei angeregt und die Aktionen gegen den Springer-Konzern3 weiter verschärft werden.
Die Behinderung der Auslieferung von Springer-Erzeugnissen würde fortgesetzt, obwohl der Westberliner SDS-Vorstand über die Erfolgsaussichten dieser Aktionen anderer Meinung als der Bundesvorstand des SDS sei.
Das Ziel der geplanten Aktionen bestehe vor allem im Sturz des Westberliner Regierenden Bürgermeisters und der Einsetzung eines »gemäßigteren Politikers«. Es werde damit gerechnet, dass sich zwar der Westberliner DGB von den Aktionen fernhält, aber die IG Metall und vor allem die Gewerkschaftsjugend entsprechende Unterstützung gewähren. Eine vom SDS angeblich durchgeführte Befragung habe ergeben, dass die derzeitigen Aktionen auch in Kreisen der Arbeiterschaft begrüßt würden.
Nach Angaben einer zuverlässigen Quelle wird in Senatskreisen befürchtet, dass die oppositionellen Kräfte in Westberlin Unterstützung aus der Bundesrepublik erhalten bzw. dass dort größere Unterstützungsaktionen stattfinden. Dann entstände eine kritische Lage.
Mitglieder des SDS und Vertreter arabischer Studentenorganisationen in Westberlin schätzen ein, dass die Studenten und viele junge Arbeiter trotz des brutalen Polizeieinsatzes kampfentschlossener denn je sind. Die Studenten seien »enger zusammengerückt«, auch in ideologischer Hinsicht. Das Bedürfnis nach Aussprachen mit Kommunisten wachse. Über die Richtigkeit der mitgeführten Losungen habe Einhelligkeit der Meinungen bestanden. Der Hass gegen die Staatsgewalt nehme zu.
Nach anderen internen Hinweisen gebe es unter Studenten auch die Meinung, dass die Führung der außerparlamentarischen Opposition noch nicht auf der Höhe der Aufgaben stehe, keine einheitliche Linie verkörpere und vieles zerrede.
Die außerparlamentarische Opposition plant am Sonntag, den 21. April 1968, in der Hasenheide, wo Schütz4 und Papandreou5 auftreten wollen, eine weitere Aktion durchzuführen.
Es wird damit gerechnet, dass die Polizei sich für dieses »Treffen« wieder rüstet. Das Mittel des Kampfes der außerparlamentarischen Opposition wird das gewaltlose »Sit-in« sein.
Am Nachmittag des 21. April 1968 soll eine Griechenland-Demonstration anlässlich des Jahrestages der Machtergreifung der griechischen Militärjunta6 auf dem Wittenbergplatz stattfinden.7
Gegenwärtig wird weiter darauf orientiert, den 1. Mai zu einem Höhepunkt des Kampfes zu gestalten. In der Vorbereitungsperiode auf den 1. Mai misst man dem »Komitee für lokale Basisgruppen«, welches gegründet wurde, große Bedeutung bei.
Lefèvre8 wies darauf hin, dass mit dieser Arbeit überhaupt erst eine Voraussetzung für erfolgreiche Aktionen mit der übrigen Bevölkerung geschaffen wird.
Dieses Komitee hat die Aufgabe, die Stadt in Bezirke nach Konzentrationen von Studenten aufzugliedern, um diese dann zentral gesteuert zur Informierung der Bevölkerung einzusetzen. Besonders will man sich in Betrieben an Lehrlinge und Gewerkschaftsmitglieder wenden.
Die Bevölkerung soll erkennen, dass auf der Maikundgebung der außerparlamentarischen Opposition ihre eigenen Interessen vertreten werden, damit sie die Senatskundgebung boykottieren. Des Weiteren ist geplant, bis zum 1. Mai stärkere Selbstschutzformationen der Studenten aufzustellen und auszubilden, die die Demonstranten gegen Terroraktionen der Polizei absichern. (Diese werden ausgerüstet mit Bauarbeiterhelmen und Stöcken.) Die Öffentlichkeitsarbeit unter der Bevölkerung und an den Universitäten ist bis zum 1. Mai die wesentlichste Aktivität. Als besonders positiv wird eingeschätzt, dass sich alle Strömungen der Opposition in einer gemeinsamen Einheitsfront zusammengeschlossen haben.
Als negativ wird die mangelnde Bereitschaft der Gewerkschaft und das starke Engagement der SED-Westberlin9 empfunden. Man befürchtet, dass durch die starken Initiativen der SED-W. der Bewegung mehr geschadet als genützt wird. Es besteht die Meinung, wenn der Anschein entsteht, dass die SED-W. maßgeblich beteiligt ist, diese Situation bei der Bevölkerung und in den eigenen Reihen Unzufriedenheit auslöst, da man sich nicht mit der SED-W. identifiziert sehen will.
Nach Angaben einer zuverlässigen Quelle wurde in einem Gespräch am Abend des 17.4.1968 mit einem Vorstandsmitglied des RC in Westberlin über die Idee der Blockierung der Autobahn im sogenannten Niemandsland Folgendes bekannt: Der Gedanke der Blockierung der Autobahn, der erstmals in der Diskussion am 13.4. im Audimax der Technischen Universität aufgetaucht war, wird von der Führung der außerparlamentarischen Opposition als mögliches Druckmittel in Erwägung gezogen, um vom Senat die Freilassung der Festgenommenen zu erzwingen. Allerdings soll dieses Mittel erst eingesetzt werden, wenn alle anderen Möglichkeiten, sich innerhalb Westberlins gegenüber der Polizei zu behaupten, erfolglos ausgeschöpft wurden.
Der Vorstand des RC ist intern aus der Spitze der Westberliner SPD unterrichtet worden, dass Schütz und Neubauer10 planen, bei nächster Gelegenheit alle Teilnehmer einer Demonstration der außerparlamentarischen Opposition festzunehmen und aburteilen zu lassen. Die Abriegelung der Meinekestraße während der Osterdemonstration war dafür die Generalprobe. Neubauer denkt daran, bei nächster Gelegenheit in gleicher Weise den Kurfürstendamm vollständig abzuriegeln und alle sich im abgeriegelten Abschnitt befindlichen Demonstranten und Passanten erst einmal aufladen und abtransportieren zu lassen. Er meint, damit würde die außerparlamentarische Opposition eine vollständige Niederlage erleiden.
Konkret handelt es sich bei dem Gedanken der Blockierung der Autobahn um Folgendes:
Demonstranten sollen das Stück Niemandsland bei Dreilinden/Zehlendorf (ein Zipfel des DDR-Territoriums, welches dort in Westberliner Gebiet hineinreicht, Autobahnstück, welches von uns betreut wird) durch Sitzaktionen blockieren. Westberliner Polizei darf dieses Gebiet nicht betreten. Das Stück Niemandsland wird durch einen Zaun zur Straße hin abgesichert, dieser Zaun müsste beseitigt werden.
Über eine mögliche praktische Verwirklichung der Blockierung gibt es im Vorstand des RC folgende Überlegungen:
Man kann entweder den Verkehr vollkommen lahmlegen oder nur teilweise. Eine teilweise Blockierung würde sich nur gegen Lkw und Omnibusse richten. Damit soll in erster Linie das Transportwesen der Konzerne getroffen werden, die dann weder Rohstoffe einführen, noch Fertigerzeugnisse ausliefern könnten. Die Pkw würde man eventuell auf dem Feldweg am Kanal durchlassen. Die Blockierung soll durch etwa 300 Fahrzeuge erreicht werden. Dabei sollte man sich auf ein Biwak von ca. drei Tagen einrichten. Je nachdem, wie der Senat reagiert, könnte dies auch länger dauern. Man müsse mit Westberliner Polizeiabsperrung am Kontrollpunkt Dreilinden rechnen, da die Westberliner Polizei sicher die Versorgung der Blockadekräfte zu unterbinden versucht. Ein Abbruch der Blockade sollte erst erfolgen, wenn die Festgenommenen freigelassen wären und auch die 300 Fahrzeuge zur Rückkehr nach Westberlin vom Senat freies Geleit zugesichert erhalten hätten.
Weiterhin gibt es den Plan um den Potsdamer Platz herum, vor allem das Bahnhofsgelände von der DDR11 als Asylgebiet für Westberliner politische Flüchtlinge zu bekommen. Natürlich rechnet man damit, dass der Westberliner Senat dann dort Grenzbefestigungen bauen würde. Das wiederum wäre ein starkes Argument gegen den Westberliner Senat.
In den Kreisen des Informanten wurde gesagt, es wäre eine wirkungsvolle Umkehrung des Begriffs »Politische Flüchtlinge«.
Von einer vertrauenswürdigen Quelle aus Kreisen des Bundesministeriums für »gesamtdeutsche Fragen« wird bekannt, dass der Sonderbeauftragte des Bundeskanzlers in Westberlin, Lemmer,12 zum 1. Mai 1968 Maßnahmen gegen die außerparlamentarische Opposition getroffen hat.
Nach Angaben der Quelle würden vor allem aus den Jugendorganisationen der CDU/CSU, der SPD und aus der Gewerkschaftsjugend (u. a. die IG Bau, Steine, Erden) Schlägertrupps geworben. Darüber hinaus soll die Freiwillige Polizeireserve in Zivil eingesetzt und in Schlägertrupps eingeteilt werden.
Diese Trupps sollen von Lemmer gesteuert und nach folgendem Plan eingesetzt werden: Da vermutet wird, dass sich die Mitglieder des SDS in vielen kleinen Gruppen auf der Maikundgebung verteilen werden, sehe der Plan angeblich vor, zunächst Funktionäre des SDS auf der Rednertribüne sprechen zu lassen (aus Pressemeldungen ist bekannt geworden, dass ein Auftreten dieser Kräfte abgelehnt wurde), um so die Verteilung der SDS-Gruppen besser überschauen zu können. Danach sollen alle vorgesehenen und vorbereiteten Schlägertrupps die SDS-Gruppen und andere Anhänger der außerparlamentarischen Opposition mundtot machen und der Polizei ein offizielles Eingreifen ermöglichen.
An die Schlägertrupps sollen Tränengassprayflaschen und Schlagstöcke ausgegeben werden. In den Baracken des Reichstagsgeländes sollen ebenfalls Schlägertrupps stationiert werden, die die Aufgabe hätten, ein Vordringen der Studenten vom Reichstagsgelände her zu verhindern. Schlagstöcke seien bereits eingelagert worden.
Die Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quellen publizistisch nicht ausgewertet werden.
Eine entsprechende Lancierung des Inhaltes der Information über die Absichten Lemmers in die Kreise der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin erfolgt durch das Ministerium für Staatssicherheit selbst.
In mehreren vorliegenden Informationen wird von Kräften der außerparlamentarischen Opposition angefragt, wie sich die Regierung der DDR im Falle der Blockierung der Autobahn verhalten wird.
Die Führung der außerparlamentarischen Opposition möchte »unter der Hand« die Meinung der DDR-Regierung und auch Botschafter Abrassimows13 zu diesem Gedanken in Erfahrung bringen, denn sie möchte vermeiden, dass unter Umständen Grenztruppen der DDR oder sowjetische Soldaten das Niemandsland räumen und die Blockadekräfte nach Westberlin zurückdrängen. Das käme ebenfalls einer Niederlage der außerparlamentarischen Opposition gleich, die von der Springer-Presse und dem Senat natürlich entsprechend ausgeschlachtet werden würde. Die außerparlamentarische Opposition will sowohl in ihrem eigenen als auch im Interesse der DDR eine gegenseitige Konfrontation verhindern. Deshalb gehen die Vorstellungen über eine Blockierung des Niemandslandes auch dahin, auf jeden Fall die alliierten Fahrzeuge durchzulassen, um den Westmächten keine Handhabe zum Eingreifen zu geben. Weiter sei zu berücksichtigen, dass das Niemandsland rechtlich zum Gebiet der DDR gehört, also eine Blockierung nur mit Duldung der DDR denkbar ist.
Für den Fall, die Führung der außerparlamentarischen Opposition bekommt einen Wink, dass die DDR eine Blockierung des Autobahnabschnittes zwischen Drewitz und Dreilinden als für sie ohne Belang bzw. mit stillschweigender Duldung hinnehmen würde, würde die außerparlamentarische Opposition diese Möglichkeit ernsthaft als Kampfmittel in Erwägung ziehen. Vorher denke niemand ernsthaft daran, etwas Derartiges zu unternehmen. Von der DDR erwarte man, dass sie bei einer Blockierung überhaupt nichts unternimmt und von sich aus den ganzen Verkehr völlig normal abwickelt, den Fahrern höchstens den Hinweis gibt, dass man nicht weiß, ob sie nach Westberlin hereingelassen werden und die wahrscheinlich nicht vermeidlichen Fahrzeugschlangen auf der Autobahn in Kauf nimmt. Günstigenfalls rechnet man damit, dass die Blockadekräfte nachts von der DDR aus auf entsprechendes Hilfeersuchen mit Wasser und Lebensmitteln versorgt werden, wenn die Westberliner Polizei ihnen die Versorgungsmöglichkeiten nimmt.
Da die Führung der außerparlamentarischen Opposition hofft, bis zum 1. Mai die Meinung der DDR zu dem Blockierungsgedanken in Erfahrung bringen zu können, zieht man die Blockierungsmöglichkeit frühestens nach dem 1. Mai in Erwägung.