Probleme der Hochseehandels- und Fischereiflotte der DDR
23. September 1968
Einzelinformation Nr. 1062/68 über einige Probleme der Hochseehandels- und Fischereiflotte der DDR
Die vor der Hochseehandels- und Fischereiflotte der DDR in den nächsten Jahren stehenden komplizierten Aufgaben sind nur durch ein ganzes System von Maßnahmen zu lösen, das neben der Anwendung der neuen Technik und der Vergrößerung der Flottenkapazität eine grundlegende Verbesserung der Leitungstätigkeit – insbesondere der Arbeit mit den Menschen – zum Inhalt haben muss.
Die Notwendigkeit der Durchführung vorgenannter Maßnahmen erscheint umso dringlicher, da sich bereits seit geraumer Zeit in der Hochseehandels- und Fischereiflotte – besonders deutlich jedoch im Bereich der VVB Hochseefischerei – Probleme entwickelt haben, die einer schnellen, zweckmäßigen Lösung bedürfen.
In erster Linie handelt es sich dabei um
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die teilweise Nichterfüllung der Planaufgaben durch die VVB Hochseefischerei und
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die unnormal hohe Fluktuation unter dem seefahrenden Personal in der Hochseehandels- und Fischereiflotte.
Dieser Zustand und die nach Auffassung von Fachkräften nur zögernd unternommenen Anstrengungen der Leitungskollektive der VVB Hochseefischerei sowie der Deutschen Seerederei zu dessen Beseitigung stehen offensichtlich im Widerspruch zu den ständig steigenden Anforderungen und Aufgaben.
Nach Meinung von Fachexperten wird sich dieser Widerspruch in den nächsten Jahren noch ausweiten, falls es nicht gelingt, die Verantwortung der Leitungsorgane der VVB Hochseefischerei und der Deutschen Seerederei zu heben und dadurch einige längst fällige Probleme der Leitungstätigkeit und der Arbeit mit den Menschen zu lösen.
Eine nicht unwesentliche Rolle für die Erfüllung der Aufgaben des Bereiches Hochseehandels- und Fischereiflotte spielt die Fluktuationsrate der in den einzelnen Betrieben beschäftigten Mitarbeiter. So steht dem Anwachsen der Gesamttonnage und der Zahl der Schiffe in den vergangenen und nach Lage der Dinge auch kommenden Jahren eine wachsende Fluktuationsrate gegenüber, wodurch die Zuführung von Arbeitskräften hinter den Anforderungen zurückbleiben musste.
Allein im Zeitraum von 1.1.1966 bis 30.6.1967 standen im VEB Fischkombinat Rostock 1 201 Neueinstellungen 761 Kündigungen gegenüber. Das bedeutet eine Fluktuationsrate von 63,4 %.
Folgende Angehörige des seefahrenden Personals schieden in den Jahren 1965 bis 1967 aus:
[Betriebsteil] | 1965 | 1966 | 1967 |
---|---|---|---|
Deutsche Seereederei | 607 | 1150 | 662 |
Fischkombinat Rostock | 350 | 341 | 586 |
Fischkombinat Saßnitz | 197 | 125 | 183 |
insgesamt | 1 154 | 1 816 | 1 431 |
Eine entscheidende Ursache dafür sehen Fachleute in den hinter der Entwicklung der anderen Bereiche der Volkswirtschaft zurückbleibenden Arbeitsbedingungen sowie lohnpolitischen und sozialen Fragen in den Bereichen der VVB Hochseefischerei und der Deutschen Seereederei.
Eine solche Situation kann in der Perspektive zum empfindlichen Rückgang des Interesses junger Menschen zur Arbeitsaufnahme auf den Hochseehandels- und Fischereifahrzeugen führen.
Aufgrund der geschilderten Situation erscheint es dringlich, dass die zuständigen Ministerien für Verkehrswesen sowie für bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie im Bereich Hochseehandels- und Fischereiflotte die Lösung grundsätzlicher Probleme in Angriff nehmen. Dazu könnten nach Auffassung des MfS insbesondere nachstehend aufgeführte Maßnahmen beitragen:
- 1.
Durch eine Kommission des Ministerrates bzw. ein gemeinsames Gremium des Ministeriums für Verkehrswesen und des Ministeriums für Bezirksgeleitete und Lebensmittelindustrie sollten alle derzeitigen staatlichen und betrieblichen Weisungen über den Einsatz von Kadern in der Hochseehandels- und Fischfangflotte überprüft und entsprechend den neuen Bedingungen überarbeitet werden. Die Einführung einer exakten staatlichen Ordnung (Seemannsordnung), die jeder Seemann vor seinem Einsatz in der Hochseehandels- und Fischereiflotte unterschreibt und bei deren Nichteinhaltung er zur Verantwortung gezogen werden kann, erscheint unbedingt notwendig. Die Überarbeitung bestehender Weisungen und die Einführung einer Seemannsordnung hätten zweifelsohne positiven Einfluss auf die Durchsetzung einer einheitlichen Leitungstätigkeit bzw. die Abstimmung zwischen betrieblichen und gesellschaftlichen Organisationen.
- 2.
Die Stellung und Verantwortlichkeit der Kapitäne der Hochseehandels- und Fischfangflotte sollten unbedingt erhöht werden. Dabei sollten insbesondere folgende Gesichtspunkte Beachtung finden:
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Für den Kapitän, als höchsten Repräsentanten unseres Staates auf einem Schiff der DDR, sollte ganz klar die staatliche als auch politische Verantwortung bei der Führung eines Schiffes und bei der Erziehung und Leitung eines Kollektivs herausgearbeitet werden.
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Kapitäne sollten in Zukunft nur noch durch eine Kommission unter Leitung des Ministers für Verkehrswesen bzw. des Ministers für Bezirksgeleitete und Lebensmittelindustrie oder eines Stellvertreters benannt bzw. abberufen werden.
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Minister für Verkehrswesen und für Bezirksgeleitete und Lebensmittelindustrie wären für die weitere Qualifizierung der Kapitäne verantwortlich zu machen, wozu konkrete Festlegungen erarbeitet werden sollten.
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Es wären die Möglichkeiten der Einführung einer Ordnung zu prüfen, wonach der Kapitän vor Auslaufen seines Schiffes über die Persönlichkeit der neu aufgemusterten Seeleute durch die Kaderabteilung der Deutschen Seereederei bzw. der jeweiligen Fischkombinate informiert wird.
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- 3.
Um eine systematische und langfristige Werbung von Kadern für die Flotten zu entwickeln, sollten durch die zuständigen Ministerien in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Volksbildung und dem Amt für Berufsausbildung Programme der langfristigen Kaderwerbung als Grundlage für eine zielgerichtete Suche und Gewinnung von Arbeitskräften erarbeitet werden.
- 4.
Zur Erhöhung der Verantwortung der Leitungsorgane der Deutschen Seereederei und der VVB Hochseeschifffahrt, insbesondere zur Gewährleistung einer richtigen Arbeit mit den Menschen, erscheint es notwendig, durchzusetzen, dass die Kaderorgane vorgenannter Einrichtungen letztlich allein über die Aushändigung oder Ablehnung des Seefahrtsbuches für Bewerber entscheiden und diese Entscheidung auch nach außen vertreten.
- 5.
Es wäre zu prüfen, inwieweit durch die zuständigen Ministerien Programme beschlossen werden könnten, wonach die entsprechenden Kader der Hochseehandels- und Fischereiflotte konkret für einen Auslandseinsatz vorbereitet würden. Im Verlauf einer zweckmäßigen Schulung, die gleichzeitig zum Kennenlernen und Überprüfen genutzt werden könnte, sollten die Kader durch erfahrene Mitarbeiter
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mit den gültigen staatlichen und betrieblichen Weisungen,
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mit Arbeits- und Lebensbedingungen an Bord und
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mit den Verhältnissen im kapitalistischen Ausland
vertraut gemacht werden.
Gleichzeitig sollte für den Bereich der Fischfangflotte überprüft werden, ob die Kapazitäten der Lehrwerkstätten in den Fischkombinaten Rostock und Saßnitz erhöht werden können, wobei konkrete Maßnahmen für die Verbesserung der politisch-ideologischen Erziehungsarbeit in den Lehrwerkstätten festzulegen wären. Es erscheint weiter die Erarbeitung klarer Vorstellungen notwendig, bis zu welchem Zeitpunkt das seefahrende Personal der Fischfangflotte nur durch ausgebildete Fachkräfte gestellt werden kann.
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- 6.
Es sollten Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Arbeit gesellschaftlicher Organe der Rechtspflege (Schieds- bzw. Konfliktkommissionen) im Bereich der Hochseehandels- und Fischereiflotte mit dem Ziel eingeleitet werden, die gesellschaftliche und kollektive Auseinandersetzung mit Mängeln der Leitungstätigkeit und negativen Erscheinungen politisch-moralischer und disziplinarischer Art stärker wirksam zu machen. Diese Organe könnten unter den speziellen Bedingungen dieses Bereiches selbstständige Untersuchungen zu politisch-moralischen bzw. disziplinarischen Fragen führen und entsprechende Empfehlungen an die Leitungsorgane geben.
- 7.
Die in einzelnen Bezirken und Kreisen erlassenen »Einstellungsverbote von Facharbeitern verschiedener Berufszweige« sollten für den Bereich Hochseehandels- und Fischereiflotte der DDR zumindest eingeschränkt werden. Entsprechende Vorlagen der beiden zuständigen Ministerien müssten eingebracht werden.
- 8.
Vom Ministerium für Nationale Verteidigung sollte die Möglichkeit geprüft werden, eventuell den Umfang des Personenkreises zu verringern, dem wegen Ableistung des Wehrdienstes in Spezialeinheiten als Geheimnisträger beim anschließenden Überwechseln in die Hochseehandels- und Fischereiflotte die Erneuerung des Sichtvermerkes im Seefahrtsbuch versagt werden muss.