Probleme im Zentralinstitut für Kernphysik Rossendorf/Dresden
24. April 1968
Einzelinformation Nr. 458/68 über einige wissenschaftlich-technische und andere Entwicklungsprobleme im Zentralinstitut für Kernphysik Rossendorf/Dresden
Seit mehreren Jahren hemmen äußerst kompliziert zu klärende wissenschaftlich-technische und ökonomische Probleme die Entwicklung im Zentralinstitut für Kernphysik (ZfK) Rossendorf1 und beeinträchtigen in zunehmendem Umfang die Arbeitsatmosphäre in diesem Institut.
Vorgenannte Probleme beziehen sich auf die Fragenkomplexe:
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Klärung der weiteren Forschungsrichtung, insbesondere der Grundlagenforschung (u. a. Kernbrennstoffzyklus Schnelle Reaktoren2),
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Klärung der kostenmäßigen Auswirkungen einzelner angenommener Entwicklungsrichtungen,
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Klärung von organisatorischen und leitungsbedingten Problemen im ZfK/Rossendorf.3
Dem MfS sind in diesem Zusammenhang Details bekannt geworden, die in nachfolgenden Abschnitten dargelegt werden sollen, wobei jedoch nicht in jedem Falle Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann.
Bereits seit 1964 werden im ZfK/Rossendorf unter Leitung von Dr. Neumann4 Grundlagenforschungsarbeiten zum Problem »Kernbrennstoffzyklus Schnelle Reaktoren«5 durchgeführt.
Am 21.10.1966 verabschiedete der Forschungsrat der DDR die »Direktive zur Ausarbeitung des Perspektivplanes für die Forschung und Entwicklung auf dem Gebiet der Kernenergetik«. In diese Direktive wurde u. a. mit als Aufgabenstellung eingearbeitet, dass das ZfK/Rossendorf zur Realisierung seiner Vorstellungen ein »Alphatechnikum« und eine »Heiße Mehrzweckeinrichtung« für die Weiterführung der Forschungsaufgaben am Kernbrennstoffzyklus errichtet. Gleichfalls sollte das Institut hierfür eine technisch-ökonomische Zielstellung (TÖZ) erarbeiten. Die technisch-ökonomische Zielstellung sollte dann vor einer namhaften Expertenkommission der Forschungsgemeinschaft der Deutschen Akademie der Wissenschaften verteidigt werden. Es wurde dabei betont, eine Entscheidung über die Errichtung obengenannter Anlagen wäre vom Ergebnis der Verteidigung abhängig.
Eine Entscheidung über den Umfang und den zu erwartenden volkswirtschaftlichen Nutzen der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten an einem Kernbrennstoffzyklus macht nach Auffassung der Beteiligten eine weitestgehende Abstimmung und Zusammenarbeit mit der UdSSR erforderlich.6
Nach den bisherigen Berechnungen und den sich abzeichnenden Problemen würden bis 1975/80 schätzungsweise 800 Mio. bis 1 Mrd. Mark für die Realisierung der Forschungs- und Entwicklungsarbeiten benötigt werden (z. B. Errichtung Schneller Forschungsreaktoren, Heiße Mehrzweckanlage, Zweites Technikum, Natriumlabor). Aus diesem Grunde gab der Vorstand des Forschungsrates am 17.11.1967 der Forschungsgemeinschaft der DAW die Empfehlung, nochmals eine technisch-ökonomische Studie zum Kernbrennstoffzyklus bis zum IV. Quartal 1968 zu erarbeiten.
Am 8.11.1967 übergab das ZfK/Rossendorf der Leitung der Forschungsgemeinschaft der DAW eine technisch-ökonomische Zielstellung zur Errichtung eines Alphatechnikums. Neben der Aufgabenstellung zur Erprobung von Verfahrensteilen des Kernbrennstoffzyklus wurde u. a. auch die Forderung gestellt, in der DDR (Rossendorf) 1 000 kg Uran und 50 kg Plutonium zu lagern (identisch mit 10 kritischen Massen).7
Von zuständiger staatlicher Stelle wurde daraufhin eine Beratung zu vorliegender Konzeption am 21.12.1967 veranlasst, wobei diese Konzeption des ZfK/Rossendorf entsprechend den Empfehlungen des Forschungsrates vom 21.10.1966 diskutiert werden sollte.
An dieser Beratung waren namhafte Wissenschaftlicher, so u. a. Prof. Dr. Klare,8 Prof. Dr. Thiessen,9 Prof. Dr. Frühauf,10 Prof. Dr. Schwabe,11 leitende Mitarbeiter des ZfK/Rossendorf, Experten der Ministerien für Grundstoffindustrie bzw. für Wissenschaft und Technik sowie der VVB Kraftwerksanlagen beteiligt. Prof. Dr. Fuchs,12 der am meisten an der Klärung der Problematik Kernbrennstoffzyklus interessiert ist, erschien nicht zu dieser Beratung. Er begründete seine Abwesenheit u. a. auch damit, dass aufgrund seiner letzten Verhandlungen in der Sowjetunion seine Teilnahme überflüssig gewesen sei.
Dr. Naumann berichtete im Zusammenhang mit der Begründung der TÖZ auch über Verhandlungen mit dem Vorsitzenden des sowjetischen Atomkomitees Minister Prof. Petrosjanz13 und anderen leitenden Mitarbeitern. (Dr. Naumann befand sich in der Zeit vom 11. bis 16.12.1967 als Teilnehmer einer Delegation in Obninsk/SU, um an einem Kolloquium über Schnelle Reaktoren teilzunehmen.)
Prof. Dr. Fuchs nahm nach Abschluss seiner Tätigkeit als Experte der Partei- und Regierungsdelegation der DDR (10. und 11.12.1967) ebenfalls an diesem Kolloquium und anschließenden Verhandlungen teil.
Als wesentlichen Inhalt der Verhandlungen stellte Dr. Naumann die Bereitschaft der sowjetischen Seite zu weitgehender Kooperation mit der DDR dar. Außerdem sollen die sowjetischen Verhandlungspartner zugesichert haben, bis Ende Januar 1968 detaillierte Vorschläge für einen Vertragsabschluss an die DDR-Seite zu übergeben. Dr. Naumann erweckte mit seinen Ausführungen bei der Beratung der TÖZ somit im Allgemeinen den Eindruck, die Zusammenarbeit mit der SU auf dem Gebiet »Schnelle Reaktoren« wäre wesentlich weiter gediehen, als dem anwesenden Expertenkreis bekannt war.
Aus diesem Grunde erfolgte am 21.12.1967 trotz intensiver Diskussionen keine Bestätigung der TÖZ »Kernbrennstoffzyklus Schnelle Reaktoren«. (Gegenwärtig existieren keine Hinweise, durch wen Prof. Dr. Fuchs und Dr. Naumann zu so weitgehenden Verhandlungen mit Prof. Petrosjanz beauftragt worden waren.)
Weitere Verhandlungen zum Komplex TÖZ »Alphatechnikum« führten Dr. Weiz,14 Stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates, Prof. Dr. Fuchs und Prof. Dr. Klare am 22.12.1967 in Berlin, wobei festgelegt wurde, dass nur bei Gewährleistung eines sichtbaren ökonomischen Nutzeffektes für die Volkswirtschaft der DDR die wissenschaftlichen Forschungen zum Komplex Kernenergie oder Kernbrennstoffzyklus weitergeführt werden können.
Gegenwärtig liegen keine aussagefähigen Stellungnahmen zur Richtigkeit oder zum wissenschaftlich-technischen Wert der im ZfK/Rossendorf zum Kernbrennstoffzyklus vorhandenen wissenschaftlichen Konzeption vor (Lösungswege, Methoden, Notwendigkeit neuer Forschungsstätten) und es fehlen noch umfassende Hinweise über die volkswirtschaftlichen Nutzungsmöglichkeiten dieses Verfahrens.
Aus diesem Grunde verbreiten Prof. Dr. Fuchs und Dr. Naumann die Meinung – indem sie vorgeben, sich auf die durch den VII. Parteitag15 bestätigte Prognose Kernenergie zu stützen –, dass ihre Kenntnisse und die Ergebnisse der Grundlagenforschung im ZfK, Bereich Kernbrennstoffzyklus, als ein echter Beitrag für eine wissenschaftlich-technische, ökonomisch vertretbare und exportrentable Leistung anzusehen wäre und für die perspektivische Entwicklung der Kernenergie von Bedeutung seien.
Da in den vergangenen Jahren auch die Frage nach einer begründeten und zweckmäßigen Aufgabenstellung für das ZfK/Rossendorf immer aktueller wurde und eine Entscheidung in möglichst kurzer Frist erforderlich macht, wurde die Problematik »Kernbrennstoffzyklus« als zentrale Fragestellung für das gesamte ZfK/Rossendorf von Bedeutung und von dessen Vertretern, Prof. Dr. Fuchs und Dr. Naumann, als »das Problem« des ZfK in den Mittelpunkt aller Überlegungen geschoben.
In den vergangenen Monaten gab es im ZfK/Rossendorf eine Reihe von Auseinandersetzungen zwischen dem Leiter Prof. Dr. Faulstich16 und Prof. Dr. Klare einerseits und der Institutsparteileitung andererseits, wobei aus den inhaltlichen Fragen zu erkennen war, dass offensichtlich subjektive Anschauungen und Interessen im Vordergrund standen. Trotz vieler Aussprachen besteht noch immer keine Klarheit darüber, wie die Hauptaufgabe des ZfK/Rossendorf herausgearbeitet und formuliert werden kann.
Die Motive für das verschiedenartige Herangehen und die Reaktion der Beteiligten sind vermutlich auf die unterschiedlichen Standpunkte über die Kernforschung in der DDR auf dem Gebiet Kernbrennstoffzyklus und Herstellung von KBZ-Anlagen zurückzuführen.
Von den Vertretern des ZfK/Rossendorf werden zur Begründung ihrer Vorstellungen über die Entwicklung auf dem Gebiet Kernbrennstoffzyklus folgende Gesichtspunkte angeführt:
- 1.
Auf dem Gebiet des Kernbrennstoffzyklus gäbe es in der Sowjetunion im Bereich Kernphysik nur wenige wissenschaftliche Veröffentlichungen. Aus dieser Tatsache wird die Schlussfolgerung gezogen, die UdSSR habe in dieser Forschungsrichtung keine führende Position inne und würde möglicherweise nur eine geringe Forschungskapazität dafür einsetzen.
- 2.
Die DDR verfüge über ein ausreichendes Potenzial im Chemieanlagenbau, dessen Erfahrungen und Fertigungseinrichtungen für die Herstellung von KBZ-Anlagen geeignet erscheinen.
- 3.
Im ZfK/Rossendorf wäre seit Jahren Grundlagenforschung betrieben worden, deren Ergebnisse eine gute Grundlage bilden können, auf der ein konzentrierter Einsatz aller Forschungs- und Entwicklungskapazitäten zur Herstellung von KBZ-Anlagen vorzusehen wären.
- 4.
Mit der Herstellung von KBZ-Anlagen würde man gegenüber der SU vollendete Tatsachen schaffen und erwarte dann, dass die Sowjetunion ihre Kernkraftwerke mit KBZ-Anlagen aus der DDR komplettieren werde.
Seit Mitte April laufen im ZfK/Rossendorf Untersuchungen zur Überprüfung der vorliegenden Problematik und eine entsprechend beauftragte Arbeitsgruppe versucht eine vorbereitende Klärung der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Probleme herbeizuführen.
Ausgelöst wurden diese Untersuchungen u. a. dadurch, dass
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der Direktor des ZfK/Rossendorf, Prof. Dr. Faulstich, dem Sekretär für Wirtschaft der Bezirksleitung der SED Dresden brieflich den Vorschlag unterbreitete, ihn über die Situation auf dem Gebiet der Kernenergetik im Institut zu informieren;
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sich Prof. Dr. Faulstich in gleicher Absicht am 12.3.1968 an den Leiter der Abteilung Wissenschaften im ZK der SED wandte;
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sich Prof. Dr. Schwabe, Leiter des Bereichs Radiochemie im ZfK/Rossendorf, im gleichlautenden Schreiben an den Stellvertretenden Vorsitzenden des Ministerrats, Dr. Weiz, und an den Vorsitzenden der Forschungsgemeinschaft der DAW, Prof. Dr. Klare, mit der Bitte wandte, ihn nach zehnjähriger ehrenamtlicher Mitarbeit von der Funktion als Bereichsleiter im ZfK/Rossendorf zu entbinden. Als Begründung führte er an, Prof. Dr. Fuchs habe erklärt, seine Mitwirkung für die wissenschaftliche Arbeit des ZfK sei völlig unwichtig;
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Prof. Dr. Klare eine Aussprache mit dem 1. Sekretär der Institutsparteileitung im ZfK/Rossendorf, Schrut, führte, die auf Empfehlung des stellv. Vorsitzenden des Ministerrates, Dr. Weiz, zustande kam. In dieser Aussprache trug Prof. Dr. Klare die Bitte vor, sich persönlich um die Minderung der gegenwärtig doch vorhandenen Spannungen zu bemühen und zu garantieren, dass für die Entwicklung des ZfK/Rossendorf eine exakte Reihenfolge der nächsten zu lösenden Aufgaben geschaffen wird und die Bestimmung der Aufgaben nur in Abhängigkeit von Verhandlungen mit der Sowjetunion vorgenommen werden sollte. Erst dann sollten Strukturfragen des Instituts, Aufgabenstellung und Kaderfragen gelöst werden.
Aus den geschilderten Umständen ist zu entnehmen, dass durch die zuständigen staatlichen Organe seit längerer Zeit Maßnahmen eingeleitet wurden, um dieses äußerst komplizierte wissenschaftlich-technische und ökonomische Problem einer Klärung zuzuführen. Offensichtlich wurde aber auch, dass die mit der Lösung dieser Probleme bisher beauftragten Personen (hochqualifizierte Wissenschaftler) nicht in der Lage waren, durch eine zielgerichtete Führungs- und Leitungstätigkeit eine effektive und den Erfordernissen entsprechende Orientierung zu erreichen.
Aus dieser Tatsache ergibt sich die Notwendigkeit einer außerordentlich verantwortungsbewussten und konstruktiven Klärung und Entscheidung durch die zuständigen staatlichen Organe zum gegenwärtigen Zeitpunkt im Interesse der zukünftigen Entwicklung der Volkswirtschaft.