Provokation des SDS an der GÜSt Heinrich-Heine-Straße
13. Juni 1968
Einzelinformation Nr. 641/68 über eine Provokation an der Grenzübergangsstelle Heinrich-Heine-Straße der Hauptstadt der DDR im Zusammenhang mit den neuen Maßnahmen des Ministerrates der DDR
Wie dem MfS bekannt wurde, marschierten am 12.6.1968, gegen 16.30 Uhr, ca. 70 Jugendliche in einer Marschkolonne mit vier roten Fahnen von Westberliner Seite aus auf die Grenzübergangsstelle Heinrich-Heine-Straße zu. Ein Teilnehmer rief über einen Handlautsprecher: »Macht das Tor auf«. Nachdem das Fußgängertor der Grenzübergangsstelle geschlossen worden war, brachten die Demonstranten, die inzwischen das Territorium der DDR betreten hatten und sich vor der Panzermauer aufhielten, über den Handlautsprecher zum Ausdruck, dass sie als Delegation in die Hauptstadt der DDR einreisen und dort einen Brief des »Allgemeinen Studentenausschusses« der »Freien Universität« und der Technischen Universität sowie des »Sozialistischen Deutschen Studentenbundes«1 an das ZK der SED übergeben wollten. (Der »Brief« liegt der Information als Anlage bei.) Für den Fall der Verweigerung ihrer Forderung wollten sie einzeln in die Hauptstadt der DDR einreisen und so die Abgabe des Briefes erzwingen.
Da auf die Forderung der Demonstranten nicht eingegangen wurde, verlangten sie von einem diensthabenden Offizier eine Erklärung, warum ihnen die Einreise verweigert werde. Gegen 17.00 Uhr sperrten die Demonstranten die Durchfahrt, die zur Abwicklung des Ein- und Ausreiseverkehrs von den Kontroll- und Sicherungskräften der DDR inzwischen wieder freigegeben worden war. Der Kommandant der Grenzübergangsstelle machte die Demonstranten auf die Möglichkeit der Einreise entsprechend den gesetzlichen Bestimmungen aufmerksam.
Die Jugendlichen warteten bis 18.00 Uhr vor dem Fußgängertor und erklärten dann sinngemäß, da ihnen eine Verhandlung mit der SED verweigert werde, seien sie nunmehr gezwungen, über die Bundesregierung und den Senat die Resolution einzureichen. Sie würden in die Universität zurückgehen und dort über geeignete Maßnahmen für das weitere Vorgehen diskutieren. Nach einer Abstimmung über diesen Entschluss legten die Demonstranten mehrere Exemplare des Briefes an das ZK der SED, der die Form eines Flugblattes hat, an der Staatsgrenze der DDR ab, verließen das Vorfeld der Grenzübergangsstelle und begaben sich ins westliche Hinterland.
Gegen 19.15 Uhr wurde der stellvertretende Revierleiter des 106. Westberliner Polizeireviers durch den Kommandanten der Grenzübergangsstelle und den Leiter der Passkontrolleinheit in höflicher und sachlicher Form aufgefordert, dem Revierleiter zu übermitteln, er möchte für die Zukunft Handlungen unterbinden, die zu Verhinderungen und Behinderungen des grenzüberschreitenden Verkehrs führen.
Vor und während der Provokation hielten sich vor der Grenzübergangsstelle Reporter des »Sender Freies Berlin« und der westlichen Presse auf, die auch Filmaufnahmen machten. Offiziere und Mannschaften der Westberliner Schutzpolizei und des Westberliner Zolls waren ebenfalls zugegen.
Anlage
Der Brief an das ZK der SED
Wie nachträglich bekannt wurde, sind im Zusammenhang mit dem für den 13.6.1968 um 13.00 Uhr geplanten Protestmarsch von der »Urania« in Richtung Moritzplatz (Nähe der GÜSt Heinrich-Heine-Straße) durch die Westberliner Polizei in den Vormittagsstunden des 13.6.1968 auf dem Platz an der Prinzenstraße gegenüber der GÜSt Leitgitter aufgestellt worden. Sie sollen offensichtlich dem Zweck dienen, den Ein- und Ausreiseverkehr über die GÜSt nicht behindern zu lassen und ein Vordringen der Demonstranten in unmittelbare Nähe der GÜSt zu verhindern.
Anlage zur Information Nr. 641/68
An das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 12. Juni 1968
Mit der neuen Durchführungsbestimmung zum Passgesetz der DDR2 hat der Ministerrat der DDR wieder einmal sozialistische Politik durch bürokratische Bestimmungen ersetzt. Der Landesverband des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und die Studentenvertretungen der Freien Universität Berlin und der Technischen Universität, die seit Jahren den Kampf gegen die Notstandsgesetze3 führen und für die Anerkennung der DDR und der Oder-Neiße-Grenze eintreten, halten diese Maßnahmen für falsch. Sie richten sich in erster Linie gegen die Arbeiter, Angestellten, Studenten und Schüler in der Bundesrepublik und Westberlin, die auch die neuen wirtschaftlichen Belastungen zu tragen haben. Sie richten sich nicht gegen die herrschende Klasse, die Westberlin im Allgemeinen auf dem Luftwege zu besuchen und zu verlassen pflegt.
Eine sozialistische Antwort auf die Verabschiedung der Notstandsgesetze wäre gewesen die Selbstverwaltungsrechte der Arbeiter, Studenten und Schüler in der DDR zu erweitern und die innerparteiliche Demokratie in der SED zu praktizieren, um so eine eindeutige sozialistische Alternative zum westdeutschen Notstandsstaat zu sein. Vielmehr verfällt die SED dem Irrtum, es handele sich bei NS-Gesetzen4 in erster Linie um ein Instrument zur Kriegsvorbereitung, wogegen sie primär ein Mittel zur Unterdrückung des Klassenkampfes in der BRD selbst sind. Man kann der DDR-feindlichen Politik der Bundesregierung und des Berliner Senats und der Anmaßung des Alleinvertretungsanspruchs mit derartigen bürokratischen Schritten nicht begegnen. Sie liefern im Gegenteil dem Westberliner Senat erneut ein Alibi weiterhin eine Deutschlandpolitik gegen das Interesse der Berliner Bevölkerung zu betreiben und von der wirtschaftlichen Krise in Westberlin abzulenken.
Deshalb fordern wir Sie auf, die neuen Durchführungsbestimmungen wieder aufzuheben.
AStA der Freien Universität Berlin
AStA der Technischen Universität
Sozialistischer Deutscher Studentenbund