Reaktion der Bevölkerung auf Maßnahmen der Warschauer Paktes (3.)
3. September 1968
Einzelinformation Nr. 978/68 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Maßnahmen der Warschauer Vertragsstaaten und das Kommuniqué über die Verhandlungen UdSSR – ČSSR
Von den Bezirken wird übereinstimmend berichtet, dass das Interesse und Informationsbedürfnis der Bevölkerung der DDR bis zur Veröffentlichung des Moskauer Kommuniqués1 einen großen Umfang angenommen hatte, wobei auch von der Intensität her ein absoluter Höhepunkt in der politischen Argumentation erreicht wurde. Die Verhandlungsergebnisse aus Moskau wurden mit großer Ungeduld erwartet. Das Kommuniqué zu den Ergebnissen der sowjetisch-tschechoslowakischen Verhandlungen steht im Mittelpunkt der politischen Diskussion der Bevölkerung, wobei festgestellt wird, dass breite Teile der Bevölkerung mit dem vollen Wortlaut des Dokuments vertraut sind.
Nach Bekanntwerden von Einzelheiten zeichnet sich in der Diskussion der Bevölkerung der DDR zu den Ereignissen in der ČSSR2 jetzt jedoch eine spürbare rückläufige Tendenz ab.
Nach vorliegenden Reaktionen aus der Bevölkerung der DDR wurde das Kommuniqué mit großer Befriedigung aufgenommen. Die große Mehrheit der Meinungsäußerungen beinhaltet, dass die sowjetisch-tschechoslowakischen Beratungen zur Erhaltung des Friedens und zur Normalisierung der Lage in der ČSSR beitragen. Dabei sind die in den letzten Tagen vielfach geäußerten Befürchtungen hinsichtlich einer eventuellen weiteren Verschärfung der Lage weitgehendst aus der Argumentation der Bevölkerung verschwunden. Unter Betonung, es sei gelungen, die Möglichkeit militärischer Konfrontationen auszuschalten, ist gegenwärtig ein gewisser Beruhigungsprozess festzustellen. In vielen Diskussionen wird die große Geduld und Besonnenheit der militärischen Einheiten der Warschauer Vertragsstaaten bei der Verteidigung der sozialistischen Errungenschaften gewürdigt. Wiederholt wird geäußert, die bisher viel zitierten Klassenauseinandersetzungen und die Gefährlichkeit imperialistischer Kräfte seien bisher nie in dem Umfang und in der Intensität zu erkennen gewesen wie jetzt in der ČSSR. Für viele seien die Vorkommnisse in der ČSSR ein »Lehrbeispiel« zur Erkennung der wahren Absichten z. B. der Bonner Politiker gewesen.
Als gegenwärtig erkennbare Erfolge der Moskauer Beratungen werden besonders hervorgehoben:
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die Erhaltung des Friedens,
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die Absage an die Bonner Ostpolitik,
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die Zurückschlagung der offenen Konterrevolution,
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die Absetzung der Debatte über die ČSSR im UNO-Sicherheitsrat als wesentlicher Fakt zur internationalen Stärkung der Warschauer Vertragsstaaten,3
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der Verbleib der Truppen der fünf Bruderländer als wesentliche Hilfe bei der Normalisierung der Lage in der ČSSR,
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die kluge Taktik und Beweglichkeit in der politischen Führung der sozialistischen Länder.
Eine stark rückläufige Tendenz ist seit dem 28.8.1968 in allen Bezirken bei negativen Diskussionen, Spekulationen und in der Gerüchteverbreitung festzustellen.
Gleichzeitig zeichnet sich ab, dass gezielte Zweckmeldungen westlicher Sender in der Argumentation der Bevölkerung der DDR zurückgedrängt werden, obwohl – so wird übereinstimmend eingeschätzt – breite Teile der Bevölkerung weiterhin politische Sendungen westlicher Stationen empfangen. In vielen Diskussionen wird die neue und aktuelle Programmgestaltung des Rundfunks und Fernsehens der DDR anerkannt, wobei von Mitgliedern der SED und von progressiven Kräften betont wird, dass dadurch eine wertvolle Hilfe für die politische Massenarbeit geschaffen wurde.
Aus den Einschätzungen ist zu erkennen, dass jedoch in allen Bevölkerungsschichten neben den zustimmenden Äußerungen noch vielfach Unklarheiten zum Inhalt des Kommuniqués auftreten, die in geringem Umfang mit Spekulationen verknüpft werden. Derartige Diskussionen beinhalten vor allem:
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die personelle Zusammensetzung der ČSSR-Delegation und in diesem Zusammenhang;4
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die Fragen, warum die Sowjetführung mit »Revisionisten« wie Dubček5 und Smrkovský6 verhandele sowie
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warum sie die Beibehaltung der Funktionen durch diese Personen zugelassen habe;
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Unklarheit darüber, ob eine endgültige Zerschlagung der konterrevolutionären Bestrebungen durch diese Personen gewährleistet werden könnte;
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starke Zweifel an der Ehrlichkeit Dubčeks und Smrkovskýs, die trotz Zusagen in Moskau ihre Grundeinstellung nicht geändert hätten;
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Fragen nach den Hintergründen des »Kompromisses«;
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Überlegungen, ob die »militärische Besetzung« der ČSSR überhaupt notwendig gewesen sei, da sich – unter Hinweis darauf, dass in der staatlichen und politischen Führung der ČSSR keine Änderung erfolgt sei – in der Endkonsequenz »nichts verändert« habe.
Vielfach besteht Unverständnis darüber, dass insbesondere Dubček und Smrkovský zu den Verhandlungen in Moskau hinzugezogen wurden, obwohl sie vordem in den Publikationsorganen der DDR als Revisionisten und dergleichen bezeichnet worden waren. In diesem Zusammenhang wird verschiedentlich die Objektivität der Berichterstattung der Publikationsorgane der DDR zur Rolle Dubčeks und anderer führender Funktionäre angezweifelt, wobei anklingt, die DDR habe die stärkste Kritik z. B. an Dubček geübt und müsse sich jetzt in ihrer Haltung »mäßigen«.
Verbreitet bestehen Skepsis und Zweifel, inwieweit die jetzige Führung der KSČ7 in der Lage und gewillt sei, die in Moskau getroffenen Vereinbarungen zu realisieren, wobei sich das Misstrauen besonders auf Dubček und Smrkovský konzentriert. Mehrfach wird die Zustimmung dieser Personen zum Kommuniqué als eine taktische Variante gewertet, um den Abzug der Armeen zu erreichen und Zeit zu gewinnen, die »zwangsläufige zeitweilige Unterbrechung der Entwicklung in der ČSSR« später fortzusetzen. Bei interessierten Personenkreisen ist ein starkes Interesse an dem vollen Wortlaut der Reden von Dubček, Smrkovský u. a. festzustellen, wobei auch westliche Sender gehört werden, die eine Vollständigkeit der Reden gewährleisten würden. In allen Bezirken treten von interessierten Bürgern Äußerungen auf, wonach die Reden erkennen ließen, dass sich die tschechischen Repräsentanten nicht festlegen würden.
Außerdem gibt es Fragen in der Richtung, warum die verbündeten Truppen nicht schärfer gegen die Konterrevolution vorgehen würden; wäre die ČSSR schon mal besetzt, dürfe man der Konterrevolution keinen Spielraum mehr geben.
Vereinzelt, aber in mehreren Bezirken auftretend, wird danach gefragt, warum nichts über das Auftreten der Truppen der NVA in der ČSSR verlautbart wird.8
In allen Bezirken stärker wiederkehrend ist die Einstellung, die Sowjetunion und die Warschauer Vertragsstaaten hätten die Lage in der ČSSR vor Einsatz der Truppen unterschätzt. Spekulativ wird geäußert, die Entwicklung insgesamt und die Verhandlungsdauer in Moskau könnten die Schlussfolgerung zulassen, ursprünglich sei die »Absetzung« der jetzigen Führungsspitze der ČSSR und die Bildung einer neuen Führung vorgesehen gewesen. Während der Verhandlungen in Moskau habe man jedoch infolge der Sympathiebekundungen in der ČSSR für Dubček die ursprünglich festgelegte Taktik ändern und Dubček sowie die übrigen Personen, wie Smrkovský, zu den Beratungen hinzuziehen und eine neue Linie einschlagen müssen. Diese »Variante« rechtfertige die Tatsache vom Ausbleiben entsprechender Informationen während der Verhandlungsdauer, ob und wann Dubček und seine Gruppe zu den Verhandlungen hinzugezogen worden seien.
Interesse besteht ferner an der Veröffentlichung der Namen der Personen, die das Hilfeersuchen an die Sowjetunion gerichtet haben.9 Da bisher noch immer keine Bekanntgabe erfolgt sei, müsse die Echtheit des Ersuchens in Zweifel gestellt werden. Andere Personen vermuten, die Popularität Dubčeks solle zunächst zur Normalisierung der Lage in der ČSSR ausgenutzt werden. Für später könnte vorgesehen sein, Dubček zurückzuziehen und durch positive, linientreue und charakterfeste politische Führer zu ersetzen.
Mehrfach wird Unklarheit über die Perspektive in der ČSSR zum Ausdruck gebracht. Danach sei noch nicht entschieden, ob die Entwicklung der letzten Monate in der ČSSR durch die Anwesenheit der militärischen Einheiten lediglich unterbrochen bzw. verzögert und später weitergeführt oder ob ein ganz neuer Kurs eingeschlagen werde. Dabei wird auf zum Teil aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen politischer Führungskräfte der ČSSR in den letzten Tagen verwiesen.
In zunehmendem Maße wird von Bürgern aller Bevölkerungsschichten Unverständnis über die Haltung Rumäniens10 und Jugoslawiens zum Ausdruck gebracht.
Weitgehend besteht Unklarheit darüber – und das trifft auch für Mitglieder der SED zu –, wie unter den gegenwärtigen Bedingungen die bisher stets betonte Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers eingeschätzt werden müsse. Unklare Vorstellungen über die weitere Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers werden gleichzeitig mit der Frage in Zusammenhang gebracht, inwieweit der Termin der Konferenz der kommunistischen und Arbeiterparteien im November 1968 überhaupt noch real sei.11 Die gegenteiligen Ansichten der kommunistischen Parteien allein zur ČSSR-Problematik würden von vornherein die Gefahr in sich bergen, dass es in entscheidenden Fragen zu keinen übereinstimmenden Beschlüssen kommen könnte.
Unter interessierten Personenkreisen wird darüber diskutiert, dass durch die ČSSR-Ereignisse und infolge der Auslegungen in westlichen Ländern rechte Kräfte einen starken Auftrieb erhalten hätten, während die kommunistischen Parteien in die Defensive gedrängt worden seien.
Neben diesen sehr differenzierten Meinungsäußerungen positiver oder politisch unklarer Bürger zeichnet sich aber auch ab, dass negative Elemente die Verhandlungsergebnisse in Moskau zum Anlass nehmen, erneut gegen die Politik der sozialistischen Staaten zu argumentieren. Diese Diskussionen haben im Verhältnis zu den vorher genannten Meinungsäußerungen nur einen geringen Umfang. Deutlich ist der Einfluss der Zentren der politisch-ideologischen Diversion zu erkennen.
In diesen »Argumentationen« sind folgende Richtungen zu erkennen:
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Das Kommuniqué beweise, dass sich die Sowjetunion dem »Druck« der Bevölkerung der ČSSR und der Weltöffentlichkeit habe beugen müssen. Das jetzige Ergebnis bedeute eine Niederlage für die Sowjetunion und einen Erfolg für die Reformer in der ČSSR.
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Das Kommuniqué beweise eindeutig, dass die aktuelle Information in der DDR unvollständig und nicht wahrheitsgetreu erfolge.
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Dubček und seine Anhänger seien in Moskau diktatorisch »unter Druck gesetzt« worden. Die Verhandlungen seien der ČSSR-Delegation aufgezwungen worden.
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Dubček und seine Anhänger könnten gegenwärtig in der ČSSR ihre wahre Meinung unter dem Druck der Besatzungstruppen nicht offenbaren.
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Die Vorkommnisse in der ČSSR würden die »Vorherrschaft der Sowjetunion« und den »Druck«, der seitens kommunistischer Länder ausgeübt werde, beweisen.
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Auch die Sowjetunion sei trotz allen »Drucks« nicht voll zum Zuge gekommen. Sie hätte im Interesse des sozialistischen Lagers Kompromisse eingehen müssen und sei gezwungen, ihre Politik gegenüber anderen sozialistischen Ländern einer Revision zu unterziehen.
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Im sozialistischen Lager zeichne sich eine »Krise« ab. So wie in Jugoslawien und Rumänien gäbe es auch in der Sowjetunion tolerante Kräfte, und es bestehe die Möglichkeit, dass es auf dem nächsten Parteitag der KPdSU zu Änderungen in der Führung käme.
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Die »Intervention« der Sowjetunion sei ein »Rückfall in die Stalin-Ära«. Einige führende Persönlichkeiten aus sozialistischen Ländern werden – in offensichtlicher Auslegung der Feindpropaganda – als besondere »Scharfmacher« bezeichnet.
Andere Stimmen fordern
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eine sofortige terminliche Festlegung hinsichtlich des Abzuges der Militärtruppen und den sofortigen Beginn des Rückzuges dieser Truppen;
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die Verurteilung solcher Personen, die Dubček in den Rücken gefallen seien und das Hilfeersuchen unterschrieben hätten (Biľak,12 Indra13);
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eine Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der ČSSR durch die Sowjetunion und behaupten, entgegen allen anderen Verlautbarungen sei eine Einmischung vorhanden;
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Von bekannten negativ-feindlichen Elementen wird Bedauern über die Zerschlagung der Konterrevolution und die Hoffnung zum Ausdruck gebracht, dass sich die Liberalisierungsbestrebungen wieder durchsetzen mögen.
In fast allen Bezirken der DDR traten Gerüchte auf, wonach es in Großstädten der DDR zu Demonstrationen und Unruhen gekommen sei.