Reaktion der Bevölkerung auf Vorkommnisse in der ČSSR und Polen
15. März 1968
Einzelinformation Nr. 301/68 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR über die Vorkommnisse in der ČSSR und in der VR Polen
In den Bezirken der DDR wird gegenwärtig zu den Vorgängen in Warschau1 und in der ČSSR2 unter allen Bevölkerungsschichten diskutiert. Besonders die Meinungsäußerungen über die Erscheinungen in der ČSSR sind vom Umfang und der Intensität her im Ansteigen begriffen.
Ein großer Teil der Äußerungen beinhaltet eine Verurteilung des Vorgehens »negativer, opportunistischer und liberaler Kräfte« in beiden Ländern und stellt heraus, dass die Urheber und Hintermänner dieser Provokationen ihrer gerechten Strafe zugeführt werden müssten. Als Initiatoren werden mehrfach die USA und Westdeutschland genannt.
Häufig werden Vergleiche zur Situation in der DDR angestellt. Hervorgehoben wird, durch richtige Führung beim Aufbau des Sozialismus in der DDR und sichtbare ökonomische Erfolge seien Vorkommnisse wie in der VR Polen und in der ČSSR bei uns nicht denkbar.
So zeigen sich besonders Studenten, Kulturschaffende und Intellektuelle an weiteren Informationen vor allem auch über Detailfragen interessiert. Mehrfach wird besonders von diesen Bevölkerungsschichten die »Ernsthaftigkeit der ideologischen Auseinandersetzungen« in der ČSSR, deren Tragweite noch nicht überblickt werden könnte, betont, während sie die Ausschreitungen in der VR Polen als »zeitweilige und zum Teil bereits abgeschlossene Entwicklung« betrachten, die seitens der Regierung der VR Polen bereits »unter Kontrolle« sei und keine größeren politischen Auswirkungen auf nationaler und internationaler Ebene nach sich ziehe.
Aus allen Bevölkerungsschichten wird das Argument bekannt, in der DDR sei man von den Ereignissen vollkommen überrascht worden, da über die Entwicklung unserer sozialistischen Nachbarländer bisher nichts in dieser Richtung veröffentlicht worden wäre. Während die Ausschreitungen in der VR Polen damit erklärt werden, sie seien aufgrund dort vorhandener westlicher Einflussmöglichkeiten (Vertrieb von Westpresse u. Ä.) noch eher denkbar, wäre demgegenüber eine Begründung für die Vorgänge in der ČSSR nicht sofort möglich, da ein vollkommen unklares Bild über die dortige Lage vorhanden sei. Fakt wäre jedoch auch für Uneingeweihte, dass die jetzigen Ereignisse in der ČSSR auf eine allmähliche Entwicklung und Zuspitzung zurückzuführen sei. Die »ungenügende Einflussnahme« von Partei und Regierung der ČSSR auf diese Entwicklung sei nicht erklärbar.
Einen größeren Umfang in der Reaktion der Bevölkerung der DDR nehmen »Feststellungen« über eine angeblich ungenügende Informierung seitens der DDR-Publikationsorgane ein. Obwohl von vielen Bürgern richtig erkannt wird, dass sich die DDR-Presse auf keine Sensationshascherei im Sinne westlicher Publizistik einlassen kann und über ein befreundetes Land keine Polemik zulässt, nehmen Argumente, in denen Ausführlichkeit verlangt wird, zu. In diesem Zusammenhang wird mehrfach offen zugegeben, westdeutsche Rundfunk- und Fernsehstationen zum Zwecke einer aktuellen und detaillierten Informierung zu empfangen. So ist in einer Vielzahl der verschiedensten Reaktionen auch der Einfluss der Zentren der politisch-ideologischen Diversion klar zu erkennen.
Häufig werden Zweifel am Fortbestehen der Einheit und Geschlossenheit des sozialistischen Lagers geäußert, wobei zwischen Erscheinungen in der VR Rumänien,3 VR Polen und der ČSSR Zusammenhänge gesehen werden. Bei dieser Entwicklung wären weitere Vorkommnisse z. B. in der VR Ungarn und der VR Bulgarien keine Überraschung mehr. Das sei bedauerlich, da es sich bei diesen Ländern um das sozialistische Hinterland der DDR handele und dann die DDR der »einzige Verbündete« mit der SU wäre. Unter dem Eindruck solcher Argumente ist vereinzelt Unsicherheit und Angst festzustellen, die Vorkommnisse könnten sich auf die DDR ausdehnen und Unruhe und Unsicherheit bringen.
Weitere Spekulationen werden über die Ursachen der Vorkommnisse angestellt. Während zutreffend für die VR Polen eindeutig die Absetzung des antisowjetischen Theaterstückes4 angeführt wird, werden im Zusammenhang mit der ČSSR genannt:
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dogmatischer Kurs durch Novotný5 und seine Verbündeten;
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völliger Zusammenbruch der Wirtschaftsführung (wobei diese Argumente durch Diskussionen von Touristen und in der DDR aufhältlichen ČSSR-Bürgern noch mit einer Reihe von »Beispielen« bekräftigt werden);
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Uneinheitlichkeit und Cliquenbildung in der Partei- und Staatsführung;
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Verrat und Einmischung ausländischer Geheimdienste;
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Einmischung kirchlicher Führungsspitzen.
In geringem Umfang wird die Meinung vertreten, die Entwicklung in der ČSSR vollziehe sich gegenwärtig unkontrolliert und könne auch durch den neuen Sekretär der KSČ Dubček6 nicht gestoppt werden, da sich bereits große Bevölkerungsteile mit einer Neuprofilierung der Verhältnisse solidarisiert hätten. Dubček stieße auf wenig Sympathien, da er aufgrund seiner Vergangenheit ein starker »SU-Anhänger« sei und stalinistische Methoden durchsetzen wolle, was im Gegensatz zu den »Freiheitsbestrebungen« eines großen Teils der ČSSR-Bevölkerung stehe.
In offensichtlicher Anlehnung an westliche Sender kursieren eine Reihe Gerüchte und Vermutungen, u. a.:
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Novotný habe bereits seinen Rücktritt erklärt; er habe den flüchtigen Šejna7 begünstigt;
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ähnlich wie in China würde der größte Teil führender Funktionäre abgelöst;8
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die Situation in der ČSSR sei der in der DDR im Juni 1953 gleichzusetzen;
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alle politischen Häftlinge würden freigelassen;
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in der ČSSR wäre eine »freie Demokratie« ausgerufen.
Bisher wurden im Gebiet der DDR keine offenen Sympathiebekundungen bestimmter Gruppen zu den Vorkommnissen in der VR Polen und der ČSSR festgestellt.
Negative oder feindliche Äußerungen im Sinne einer Solidarisierung sind nur vereinzelt aufgetreten und haben keine konkreten Forderungen zum Inhalt. In einigen Fällen wurde Unglaube in die in der DDR veröffentlichten Informationen geäußert. Man könne nicht hinter allen Vorkommnissen »westliche Initiative und Einflüsse« sehen; es sollte vielmehr objektiv eingeschätzt werden, wo die »wahren Ursachen« lägen. In geringem Umfang wird die Veröffentlichung in der DDR-Presse betreffs der »Grassamenschiebung«9 durch General Šejna als nicht glaubwürdige Begründung angesehen.
Außerdem wurde in wenigen Fällen provokatorisch die Frage nach einer etwaigen Reaktion der DDR-Organe bei ähnlichen Zwischenfällen wie in der VR Polen und in der ČSSR gestellt. (VEB Klingenthaler Harmonikawerke/Karl-Marx-Stadt; Studenten der Fachrichtung Metallhüttenwerke am Institut für Marxismus-Leninismus der Bergakademie Freiberg/2. Studienjahr, die u. a. die Maßnahmen gegen die Studentenausschreitungen in der VR Polen mit den Notstandsgesetzen in Westdeutschland verglichen.) In ähnlicher Richtung verlief auch eine Diskussion zum Verfassungsentwurf10 im Seminar II/1, Fachrichtung Mathe/Physik, der Berliner Humboldt-Universität am 29.2.1968. Im Wesentlichen ging es um zwei Probleme, deren Klärung und offensive Beantwortung noch ausstehen:
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In der DDR rede man immer soviel wider »die Meinungsfreiheit im Westen«, dabei gäbe es bei uns auch keine solche.
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Unsere Meinungsfreiheit diene nur der Verwirklichung der von der Partei vorgefassten Verfassung, in anderen – auch sozialistischen – Ländern wie z. B. in der ČSSR werde freizügiger gehandelt.
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Wenn die Durchsetzung der Notstandsgesetze11 in Westdeutschland einem Staatsstreich gleichkomme, dann hätten bei uns – siehe Wehrpflichtgesetz – schon viele solcher Staatsstreiche stattgefunden.
Der Student [Vorname Name 1] aus dem 1. Studienjahr der Ingenieurschule für Anlagenbau Glauchau machte gegenüber Klassenkameraden folgende Bemerkungen: »In Glauchau gibt es montags kein Brot zu kaufen; man müsste es wie in Warschau machen, ein Schild malen mit der Aufschrift ›Hunger‹ und damit durch die Stadt gehen.« (Durch Schließtag der Bäcker ist montags mitunter das Brot tatsächlich knapp.)12
An dieser Ingenieurschule wurde ein Protestschreiben mit folgendem Text verfasst: »Wiederholt wurde von der Mehrzahl der Studenten das Gericht Saure Kartoffelstückchen mit Flecke bemängelt. Leider wurde dem bisher kein Gehör geschenkt. Wir bitten die Küchenleitung dieses Gericht nicht mehr in den Speiseplan aufzunehmen.« Unter dem Text standen 94 Namen von Studenten aller drei Studienjahre. Das Protestschreiben war im Schulhaus an der Wandtafel für Mitteilungen angebracht.
Am 11.3.1968 verweigerten 49 Lehrlinge aus dem Lehrlingswohnheim des VEB Holzverarbeitungswerkes Klosterfelde, [Kreis] Bernau, das Essen, nachdem trotz mehrfacher Beschwerden an die BGL wegen mangelhafter Qualität der Verpflegung bzw. schlechter hygienischer Verhältnisse keine Veränderung der Situation erfolgt war. Die Lehrlinge änderten ihr Verhalten erst, nachdem am 12. März 1968 durch die Betriebsleitung entsprechende Auseinandersetzungen geführt wurden. Durch das MfS gemeinsam mit der VP eingeleitete Maßnahmen erbrachten eine Bestätigung der von den Lehrlingen kritisierten Verhältnisse. Mit ihrem Verhalten hätten sie lediglich eine Veränderung der Zustände erreichen wollen. (Verdacht auf feindliche bzw. kriminelle Handlungen liegt nicht vor, die Lehrlinge sind in der Vergangenheit nicht negativ in Erscheinung getreten.)
Entsprechend einer Orientierung der Kreisleitung der FDJ, in der Humboldt-Universität in allen Seminaren Versammlungen zum Verfassungsentwurf durchzuführen und in schriftlichen Stellungnahmen Verpflichtungen zu guten Taten abzugeben, führte die Seminargruppe III/1 der Landwirtschaftlichen-Gärtnerischen Fakultät am 26.2.1968 eine Versammlung durch. Dort wurde aufgrund des konfessionellen Einflusses einiger Studenten eine schriftliche Stellungnahme zur Veränderung des Artikels 38 des Verfassungsentwurfs13 abgefasst, die mit den Unterschriften der Studenten der Seminargruppe dem FDJ-Sekretär der Fakultät übermittelt wurde. Die Änderungsvorschläge beinhalteten u. a. die Anerkennung der Kirche als selbstständige Körperschaft und das Recht auf Gottesdienst und Seelsorge über den kirchlichen Rahmen hinaus in Krankenhäusern, Strafanstalten und öffentlichen Anstalten. (Wortlaut im Anhang)14 Auf einer erneuten Versammlung am 12.3.1968, die von der FDJ-Leitung aufgrund dieser Stellungnahme einberufen worden war, konnte keine Klärung zu diesem Problem erreicht werden. Der Student dieser Seminargruppe [Vorname Name 2] zeigte in der Diskussion das in seinem Besitz befindliche abschriftliche Schreiben des katholischen Bischofs Bengsch15 an den Staatsratsvorsitzenden16 herum und die in den Kirchen verlesene Stellungnahme der Ordinarienkonferenz zur Verfassungsdiskussion.
Am 7.3.1968 fand in Karl-Marx-Stadt ein durch den Kulturbund organisierter Farblichtbildvortrag über Picasso17 statt, an dem ca. 220 Personen – meist Jugendliche – teilnahmen. Der Redner, Dr. Diether Schmidt18 aus Dresden, erklärte im Verlaufe seines Vortrages u. a. sinngemäß, in der DDR müsse man schon heute alles »historisch« sehen, erst später würde sich herausstellen, ob wir nach 1945 alles richtig gemacht hätten. Das Errichten vieler Denkmäler sei nicht gut, das Stalindenkmal19 sei auch über Nacht wieder verschwunden. Er vertrat weiter die Meinung, die Kunst solle von Künstlern und die Politik von Politikern gemacht werden, ansonsten entständen viele Fehler.
Im VEB Ermafa, Betriebsteil Borna, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt, wurde in der Toilette des Verwaltungsgebäudes die Losung geschmiert: »In Polen ging es schon los, auch wir sind bald wieder da!« Am 13.3.1968 wurde in der Toilette im 1. Stock des Verwaltungsgebäudes der Charité eine von unbekannten Tätern geschmierte Losung »Die ČSSR geht voran« entdeckt. (Die Losung wurde sofort entfernt und erst danach die Sicherheitsorgane benachrichtigt.)
Im Postamt bzw. verschiedenen Straßen von Aschersleben, [Bezirk] Halle, wurden am 11. und 13.3.1968 insgesamt acht mit Schreibmaschine gefertigte Hetzzettel ausgelegt (10×12 bzw. 10,5×10 cm). Der Text lautet: »Polens Studenten kämpfen in Warschau, Gomułka20 im Kreml, Ulbrichts21 Freund Novotný von Dubček kaltgestellt, wo und wer sind Ulbrichts Freunde ›Information die Brücke‹ – unterzeichnet mit W. Gr. – Tod + Teufel.« (Auf der Rückseite steht »Lesen und wegwerfen!«)
Am 17.3.1968 wurden an der Autobahnbrücke Lübben (Autobahn Berlin – Dresden, am km 35) drei von unbekannten Tätern angeschmierte Hetzlosungen »Es lebe der 17. Juni« festgestellt. Die Hetzlosungen wurden mit weißer Ölfarbe angeschmiert und sind 7 m lang (Buchstabenhöhe 70 cm). Je eine Hetzlosung befindet sich an der Brückenseite in Richtung Dresden, in Richtung Berlin und an der Innenfläche der Brücke.
Am 15.3.1968 wurden erstmalig Flugblätter »Frischer Wind« (Herausgeber: Bundeswehr) per Post in die DDR eingeschleust, die an die Situation in der ČSSR anknüpfen und in diesem Zusammenhang Hetze gegen die Verhältnisse in der DDR und seine führenden Funktionäre beinhalten.
Die notwendigen Maßnahmen zur Aufklärung dieser Vorkommnisse wurden vom MfS eingeleitet.
Anlage zur Information Nr. 301/68
[Stellungnahme der Seminargruppe III/1 der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität zum Artikel 38 des Verfassungsentwurfs]
Berlin, 12. März 1968
In der am 26.2.1968 durchgeführten Diskussion zum Entwurf der Verfassung der DDR erörterten wir Fragen, die die Stellung der Kirche im gesellschaftlichen System und die Stipendienregelung betreffen. Als Ergebnis der Diskussion kam die Seminargruppe III/1 der Landwirtschaftlichen-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, Fachrichtung Landwirtschaft, zu folgender einheitlicher Auffassung:
Kirche und Staat sind getrennt; die für staatliche Institutionen geltenden Rechte können nicht automatisch von der Kirche in Anspruch genommen werden. Deshalb besteht die Notwendigkeit, die besonderen Rechte der Kirche, soweit diese über den Rahmen der allgemein gültigen Norm (Artikel 6/5, 19/1, 24 und 25) hinausgehen, gesondert zu formulieren und zusätzlich in den Artikel 38 aufzunehmen.
Die Kirche ist eine selbstständige Körperschaft.
Das Recht auf Gottesdienst und Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten und öffentlichen Anstalten ist gewährleistet.
Wir glauben, dass diese Abschnitte in den schon erwähnten Artikeln nicht in dieser Form enthalten sind, dass sie aber aufgenommen werden müssen, um der Kirche die Verwirklichung ihres humanistischen Anliegens materiell und ideell zu ermöglichen. Wir glauben nicht, dass diese Ergänzungen im Sinne antihumanistischer und reaktionärer Kreise innerhalb und außerhalb der Kirche ausgelegt und missbraucht werden können.