Reaktion der Bevölkerung der DDR zur weiteren Entwicklung in ČSSR
6. August 1968
Einzelinformation Nr. 840/68 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR zur weiteren Entwicklung in der ČSSR
Zur Reaktion der Bevölkerung der DDR auf die Entwicklung in der ČSSR1 ist insgesamt einzuschätzen, dass das Interesse unter allen Schichten der Bevölkerung anhält.
Während die Diskussionen über Teilprobleme des gemeinsamen Briefes2 an das ZK der KSČ3 gegenwärtig zurückgehen, treten Argumentationen über das Treffen zwischen der KPdSU und der KSČ4 sowie die gemeinsamen Besprechungen in Bratislava5 in den Vordergrund.
Die Reaktion der Bevölkerung der DDR lässt insgesamt erkennen,
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dass große Teile aller Bevölkerungsschichten reges Interesse an der im Zusammenhang mit der ČSSR stehenden politischen Entwicklung zeigen und
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dass die Diskussionen, sowohl von der Vielzahl als auch von der Intensität her, besonders für den Zeitpunkt der Gespräche in Čierna und Bratislava einen Höhepunkt erreicht haben,
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dass ein großer Teil der Argumentationen ein hohes politisches Bewusstsein beweist und
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vielfach Sorge um den weiteren Bestand der Grundlagen des Sozialismus in der ČSSR zum Ausdruck kommt.
Die Tendenz des Überwiegens positiver Beiträge hält an. Häufig wird darin die Verantwortung des sozialistischen Lagers betont und der Erwartung Ausdruck gegeben, in der ČSSR müsste es gelingen, mithilfe der sozialistischen Staaten die führende Rolle der Partei wiederherzustellen und alle Einwirkungen der Konterrevolution unnachsichtig und konsequent zu beseitigen. Besondere Erwartungen werden im Zusammenhang mit den Gesprächen in Čierna und Bratislava auf einen positiven Einfluss seitens der KPdSU gesetzt, wobei mehrfach geäußert wird, dass es außer der KPdSU kaum einer Parteiführung eines anderen sozialistischen Staates gelingen würde, eine Wende in der Entwicklung in der ČSSR herbeizuführen.
Überwiegend besteht Übereinstimmung hinsichtlich der Notwendigkeit und der positiven Ergebnisse der Gespräche in Čierna und Bratislava, wobei die von der KPdSU ausgegangenen Initiativen anerkannt und begrüßt werden.
Zur Entwicklung der allgemeinen politischen Lage in der ČSSR sind in der Argumentation der Bevölkerung der DDR neben den überwiegend positiv zu wertenden Diskussionen weiterhin folgende Fragen und Tendenzen zu erkennen:
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Einschätzung, die Lage in der ČSSR würde sich weiterhin zuspitzen, wobei die KSČ weitere Positionen verliere und Forderungen der Revisionisten kommentarlos zustimme. Starkes Interesse an Details der Entwicklung in der ČSSR, wobei sogenannte Zweckmeldungen westlicher Sender mehrfach als Grundlage genommen werden;
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Forderung nach umfassenderer Information durch die DDR-Publikationsorgane;
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Spekulationen über eine »Zuspitzung der Widersprüche« zwischen der KSČ, der KPdSU und anderen »linientreuen« kommunistischen Parteien, die trotz der Treffen in Čierna und Bratislava voranschreite;
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Vermutungen hinsichtlich des Zustandekommens eines »3. Blocks« bzw. eines »südosteuropäischen Blocks«, wobei Jugoslawien, die ČSSR und Rumänien6 genannt werden, denen eventuell weitere Länder, wie Italien und Frankreich, folgen könnten; (Diskussionen vorwiegend aus Kreisen der Intelligenz)
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Zweifel am Fortbestehen des »gemeinsamen sozialistischen Lagers«, Unterstellung von Beispielen des »Zerfalls« der kommunistischen Weltbewegung mit Hinweis auf China, Jugoslawien, Albanien, Rumänien und angeblich ähnlichen Bestrebungen in Ungarn. Teilweise Zweifel an der Richtigkeit der Politik der kommunistischen Parteien und der Wirtschaftsführung der sozialistischen Länder. Dabei wird auf eine angeblich stärkere Orientierung einiger sozialistischer Länder auf eine »Anpassung an den Westen« verwiesen.
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Unterschätzung und Verleumdung der Rolle der KPdSU. Unterstellung, die KPdSU sei um ihre »Vormachtstellung« besorgt und versuche durch Verhandlungen und »gespielte Loyalität« den Kurs der ČSSR aufzuhalten. Spekulationen, es sei damit zu rechnen, dass die KPdSU durch »diplomatische Züge« versuchen würde, die noch verbleibenden »linientreuen Staaten« enger an sich zu binden. (Diskussionen werden besonders von solchen Personenkreisen geführt, von denen bekannt ist, dass sie negativ-feindlich auftreten.)
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Unterstellung, die DDR verfolge gegenüber der ČSSR den »härtesten Kurs«, wobei versucht wird, diese Behauptung anhand von Veröffentlichungen in der DDR-Presse zu belegen. Die DDR sei an der Zerschlagung der Entwicklung in der ČSSR besonders interessiert, da sie Auswirkungen und eventuell Sympathiesierungsbestrebungen im eigenen Lande befürchte.
Die direkt auf die Verhandlungen in Čierna und das im Anschluss daran veröffentlichte Kommuniqué bezogenen Diskussionen drücken überwiegend Genugtuung aus. Vielfach wird erwähnt, vor der Zusammenkunft sei völlig offen gewesen, ob durch Übereinstimmung grundlegender Standpunkte eine Entspannung erzielt werde oder ob infolge der angespannten Entwicklung zwischen den sozialistischen Ländern und der ČSSR sowie der geführten Polemiken und der Manöver an den Grenzen der ČSSR eine Zuspitzung erfolge. Die Beratungen in Čierna seien jedoch – so heißt es in den Äußerungen weiter – mit Besonnenheit geführt worden, und Befürchtungen, dass es zu militärischen Auseinandersetzungen kommen könnte, seien damit zerstreut worden.
Aus den Bezirken wird übereinstimmend berichtet, dass in Diskussionen im geringen Umfang Tendenzen auftreten, in denen die Bedeutung der Beratungen in Čierna herabgemindert wird. In Übereinstimmung mit »Argumenten« der Zentren der politisch-ideologischen Diversion wird zum Ausdruck gebracht:
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Die »Einigung« zwischen KPdSU und KSČ sei dadurch zustande gekommen, weil die KPdSU aufgrund des einheitlichen Auftretens der KSČ-Führung ihre Forderungen habe zurückschrauben müssen und Zugeständnisse in der Hinsicht gemacht hätte, sodass die ČSSR ihre eigene Linie bewahren könnte.
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Die »Einigung« ließe Schlussfolgerungen zu, dass die Situation in der ČSSR bisher überspitzt dargestellt worden sei. Die Demokratisierung in der ČSSR sei von der SED lediglich als Konterrevolution hochgespielt worden.
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Die Tschechen würden Mut und Selbstständigkeit beweisen und ließen sich von Moskau nicht mehr »unter Druck setzen«.
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Die KSČ habe sich gegenüber dem fast vollzähligen sowjetischen Führungsgremium durchgesetzt, was bisher keiner kommunistischen Partei auf Anhieb gelungen sei. Die KSČ sei geschlossen aufgetreten, niemand sei Dubček in den Rücken gefallen.
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Die »Einschüchterungsversuche« Moskaus durch Manöver hätten auf die KSČ keinen moralischen Druck auszuüben vermocht.
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Die ČSSR würde nunmehr nach den Verhandlungen von Čierna ihren eigenen Sozialismus aufbauen und bringe mit den bereits vorhandenen Plänen die besten Voraussetzungen mit, »Modellfall« für die anderen sozialistischen Staaten zu werden.
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Die Verhandlungen in Čierna hätten bewiesen, dass die KPdSU-Führer besonnener und zurückhaltender wären als die SED-Führung, die in ihrer Polemik am härtesten gegen die KSČ vorgegangen sei.
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Die »schweigende Duldung« der Entwicklung der ČSSR durch die SU käme einem Sieg der Revisionisten und Reformer in der ČSSR gleich.
Im breiten Umfang werden die Veröffentlichungen über die Gespräche als »völlig unzureichend« bezeichnet, wobei von einem großen Teil der Interessierten jedoch eingeschränkt wird, es sei unangebracht, über eventuell vorhanden gewesene Meinungsverschiedenheiten zu polemisieren. Verbreitet sind Spekulationen über den möglichen Inhalt der Gespräche und »Auseinandersetzungen«, die zumeist in einer solchen Feststellung enden, dass mit Gewissheit auch interne Festlegungen getroffen worden seien. Eine dieser Festlegungen sei, dass sich z. B. die KPdSU bereit erklärt habe, die Manöver im Gebiet zur tschechischen Grenze mit sofortiger Wirkung einzustellen und die Truppenbestände der SU in der ČSSR weiter abzubauen.
Es sei weiter damit zu rechnen, dass die SU »größere Zugeständnisse« in ökonomischer Hinsicht gemacht habe, um die ČSSR enger an das sozialistische Lager zu binden. Mehrfach wird geschlussfolgert, dass auch die DDR im Rahmen des RGW dazu beitragen müsse, die ČSSR »Wieder auf die Beine zu stellen«, wodurch wir eventuell größere finanzielle und materielle Einbuße erleiden können. »Das Kabinettstückchen Dubčeks«7 koste den »linientreuen« sozialistischen Ländern eine Menge Geld und werfe uns nicht nur in politischer, sondern auch in ökonomischer Hinsicht zurück.
Zu den Ergebnissen der Konferenz von Bratislava selbst lassen erste Reaktionen größtenteils Zufriedenheit und Genugtuung über Verlauf und Abschlusserklärung erkennen. Das widerspiegelt sich u. a. in solchen Diskussionen wie:
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Die Zusammenkunft der Bruderparteien in Bratislava ist als großer Fortschritt zu werten;
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eine weitere Zuspitzung der Lage wurde durch die Aussprachen beseitigt;
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die kontinuierliche Zusammenarbeit auf politischem und ökonomischen Gebiet zwischen der ČSSR und den Bruderländern sei gesichert;
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hoch einzuschätzen sei die Betonung in der Erklärung der Parteien, die am Treffen in Bratislava teilgenommen haben, hinsichtlich der Beibehaltung der führenden Rolle der Partei, der ausgehenden Gefahr vom Imperialismus und der Einschätzung der Rolle Westdeutschlands. Die entsprechenden Formulierungen in der Erklärung zeugten davon, dass die KSČ-Führung ihre Einstellung in diesen Fragen revidiert hätte.
In einer Reihe anderer Argumente wird betont, es käme jetzt darauf an, Schlussfolgerungen aus den Ereignissen der ČSSR in der DDR zu ziehen.
Erwähnt werden in diesem Zusammenhang: die Herausstellung der führenden Rolle der SED (Diskussionen vorwiegend von Genossen), die Erhöhung der Wachsamkeit und die weitere Verbesserung der politisch-ideologischen Arbeit. In Betriebsversammlungen wird wiederholt betont, es gelte jetzt, noch größere Anstrengungen im sozialistischen Wettbewerb zur weiteren Stärkung der DDR und des sozialistischen Lagers zu unternehmen.
Eine weitere Tendenz zeichnet sich jedoch auch in einer gewissen Überbewertung der Beratungen in Čierna und Bratislava ab. Seinen Ausdruck findet das in solchen Bemerkungen, der Spannungszustand der letzten Woche habe sich gelegt; es verlaufe alles wieder in geregelten Bahnen; die KSČ habe durch die Beratungen wieder auf den richtigen Weg gefunden, der Konterrevolution in der ČSSR sei der entscheidendste und vernichtende Schlag versetzt worden; es bestehe kein Grund mehr zur Annahme, in der ČSSR sei eine schleichende Konterrevolution im Gange; der westdeutsche Imperialismus sei damit in die Schranken verwiesen und unternehme keine Schritte zur Aufweichung der ČSSR mehr.
Eine Reihe weiterer Argumente befasst sich mit der äußeren Form der Erklärung von Bratislava. Bei überwiegender Zustimmung zum Inhalt werden jedoch mehrfach auch solche Diskussionen geführt, die Erklärung sei nichtssagend – besonders auch hinsichtlich der weiteren inneren Entwicklung der ČSSR –; die angedeutete freundschaftliche Atmosphäre während der Verhandlungen ließe darauf schließen, dass keine wirklich ernsthaften Auseinandersetzungen über die Entwicklung in der ČSSR stattgefunden hätten und die ČSSR den eingeschlagenen Kurs nunmehr fortsetze; die Beratungen hätten nur »Fragen der großen Politik« berührt, während die innere Entwicklung der ČSSR aufgrund des jetzigen Standes hätte gebilligt werden müssen; es seien auch Stellungnahmen zur Politik der KSČ erwartet worden.
Zur Informierung der Bevölkerung der DDR mittels Presse, Rundfunk und Fernsehen wird mehrfach der Standpunkt vertreten, die Veröffentlichungen über die Treffen in Čierna und Bratislava reichten nicht aus und vermittelten nur einen lückenhaften und einseitigen Überblick. Der verstärkte Empfang der Westsender seitens interessierter Bevölkerungsschichten resultiere aus der mangelhaften Information durch die DDR-Publikationsorgane.
In Auswirkung des Empfanges westlicher Rundfunk- und Fernsehstationen im Zusammenhang mit der Beratung in Bratislava – wobei sich diese Argumente zum Teil auch auf die Beratungen in Čierna beziehen – kommt es teilweise zu negierenden und feindlichen Diskussionen, die im Wesentlichen beinhalten:
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Die »linientreuen Parteien« erkennen den »Zerfall des sozialistischen Lagers« und versuchen den Abfall der ČSSR zu verhindern.
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Nachdem bereits Albanien, Jugoslawien und teilweise Rumänien eigene Linien durchsetzen, soll die ČSSR für eine weiterhin enge Zusammenarbeit mit dem »kommunistischen Block« gezwungen werden.
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Zusammenkünfte in Čierna und Bratislava seien ursprünglich festgesetzt, um die KSČ von ihrem Kurs abzubringen. Vertreter der KSČ wären jedoch »standhaft« geblieben, sodass die Ergebnisse der Konferenzen nicht den von den Bruderparteien gesetzten Zielen nahekommen würden.
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Die Zusammenkünfte seien der KSČ aufgezwungen worden und stellten eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der ČSSR dar.
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Ergebnis der Beratungen sei ein Kompromiss – es gäbe weder Sieger noch Besiegte.
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Das »nichtssagende Kommuniqué« stehe in einem krassen Gegensatz zu Zähigkeit und Dauer der Gespräche. Vereinzelt wird dabei von negativ eingestellten Personen der Wahrheitsgehalt der nach den Verhandlungen verabschiedeten Dokumente angezweifelt. Dabei wird behauptet, auch in der Vergangenheit habe man in ähnlichen Dokumenten stets von einer »herzlichen Atmosphäre« gesprochen, nach geraumer Zeit zeige sich jedoch oftmals, dass es nur nichtssagende Formulierungen gewesen seien.
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Die Deklaration von Bratislava gestehe jeder Partei das Recht zu, bei der weiteren sozialistischen Entwicklung nationalen Besonderheiten stärker Rechnung zu tragen.
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Der Ton der Erklärung von Bratislava lasse die Schlussfolgerung zu, dass am gemeinsamen Brief aus Warschau »Abstriche« vorgenommen würden bzw. eine vollständige Revidierung dieses Briefes erfolgen sollte.
Aus allen Bezirken wird berichtet, dass gegenwärtig das Augenmerk eines großen Teils der interessierten Bürger der DR auf eventuelle weitere Schritte der ČSSR gelenkt ist. Dabei wird häufig geäußert, die Ernsthaftigkeit und die Ergebnisse der Verhandlungen von Čierna und Bratislava seien weniger an den veröffentlichten Erklärungen, sondern lediglich an der tatsächlichen weiteren politischen Entwicklung in der ČSSR zu messen. Verbreitet ist in allen Bezirken eine solche Auffassung anzutreffen, wonach die Unterschriften der KSČ-Führung unter die Erklärung von Bratislava als »Lippenbekenntnis« eingeschätzt werden, durch das in der ČSSR Zeit und Ruhe erwirkt worden sein könnte, die bisher verfolgten Ziele weiterzuverfolgen.
Zu konkreten Feindhandlungen auf dem Territorium der DDR im Zusammenhang mit den Ereignissen in der ČSSR kam es nur vereinzelt:
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Am 31.7.1968 wurde in Storkow, Bezirk Frankfurt, eine an eine Hauswand angeschmierte Losung »DDR – Freiheit – ČSSR« festgestellt. Die Losung war mit schwarzer Ölfarbe angebracht. Größe: 30 cm hoch je Buchstabe, Länge der gesamten Losung – zwei Meter. (Bearbeitung durch MfS)
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Am 26.7.1968 wurden in der HOG »Elysium« Bernau/Bezirk Frankfurt[/O.] drei Angehörige der Sowjetarmee durch fünf Bauarbeiter mit lauten Bemerkungen provoziert, wie »Russen raus aus Deutschland«, »auch aus der Tschechei werden die Russen rausgejagt, macht, dass ihr hier auch rauskommt«.
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In drei Fällen wurde bekannt, dass durch zurzeit noch unbekannte Täter Fernsprechkabel der am Manöver beteiligten sowjetischen Truppen vorsätzlich zerschnitten wurden (am 29.7.1968 in Greiz, Nähe F 92; am 31.7.1968 in der Nähe von Zeulenroda, Bezirk Gera). In einem Falle stellte das Kabel die direkte Verbindung zum Stab her. (In allen Fällen erfolgt eine Bearbeitung durch das MfS.)8
Wie dem MfS ferner bekannt wurde, beabsichtigt die evangelische Kirche in der DDR im Rahmen einer Aktion »Osthilfe« ČSSR-Bürger stärker zu unterstützen. (Die Osthilfe wird realisiert durch Versenden von Büchern und durch Einladungen von Pfarrern und aktiven Laien zum kostenlosen zeitweiligen Aufenthalt in der DDR.) Die stärkere Orientierung der Aktion »Osthilfe« auf die ČSSR – neben der VR Ungarn und der VR Polen – erfolge angeblich im Hinblick auf einen »verringerten Lebensstandard« in der ČSSR.9