Schäden am Düngemittelreaktor des Erdölverarbeitungswerkes Schwedt
9. August 1968
Einzelinformation Nr. 852/68 über Schäden am Reaktor der Düngemittelfabrik des Erdölverarbeitungswerkes (EVW) Schwedt
Dem MfS liegen Hinweise über Schäden am Reaktor der Düngemittelfabrik des EVW Schwedt vor. Aufgrund der großen Bedeutung dieses Betriebsteiles und der im Zusammenhang mit den aufgetretenen Schäden entstehenden Probleme für den gesamten Betrieb wird es für notwendig erachtet, auf die entstandene Situation hinzuweisen.
Der genannte Reaktor ist das Kernstück der Ammoniakproduktion der Düngemittelfabrik. In ihm erfolgt unter hohem Druck und entsprechenden Temperaturen die Umsetzung (chemische Reaktion) des zugeführten Rohgases durch einen speziellen Katalysator. Da dieser Reaktor für einen Betriebsdruck von 340 atü und Temperaturen bis etwa + 300°C zugelassen ist (der Prüfdruck beträgt das 1,5 fache des Betriebsdruckes), müssen an den Bau und an die qualitätsgerechte Ausführung eines solchen Druckgefäßes höchste Anforderungen gestellt werden.
Deshalb unterliegt der Reaktor der Vorprüfungs-, Abnahme-, Genehmigungs- und Überwachungspflicht durch die Technische Überwachung der DDR. Jegliche Inkonsequenz bei der Erfüllung dieser vorgenannten Pflichten kann zu schweren Folgen führen.
Leitende Experten der Technischen Überwachung der DDR schätzen ein, dass die Explosion eines derartigen Druckgefäßes die Vernichtung der Düngemittelfabrik und weiterer Betriebsanlagen der EVW zur Folge haben könne.
Der Reaktor für die Düngemittelfabrik des EVW wurde im Jahre 1966 von der englischen Firma J. Thompson in Wolverhampton gebaut. Die Vorprüfung und Abnahme in England erfolgte durch den Inspektor [Name] von der Technischen Überwachung der DDR. Dabei wurden entsprechend dem Vertrag die Vorschriften des ASME-Codes, Sektion 8, zugrunde gelegt. Im Ergebnis der Prüfungshandlungen wurden geringfügige Mängel festgestellt und beseitigt. Die Bau- und Wasserdruckprüfung sowie die 100 %ige Prüfung des Gefäßes mithilfe von Ultraschall und Gammabestrahlung durch die Inspektionsabteilung der Firma Thompson erbrachten keine Hinweise auf Mängel. Das wurde auch von der Abnahmeorganisation British Engine bestätigt und in entsprechenden Dokumenten dargelegt. Daraufhin hat [Name] die Genehmigung zum Transport des Reaktors nach der DDR gegeben.
Aufgrund der bekannten Verzögerungen bei der Inbetriebnahme des englischen Teiles der Düngemittelfabrik wurden anlässlich eines Ministerrapportes im Februar 1968 außerordentliche Maßnahmen beschlossen. Da seitens der Leitung des EVW immer wieder Mängel gerügt wurden und die englische Firma nicht in der Lage war, die Anlage erfolgreich anzufahren, ging es darum, die baldige Inbetriebnahme der Fabrik durch Maßnahmen zentraler staatlicher Organe zu sichern und gegenüber dem Verkäufer (Firma Humphreys and Glasgow) mit einem einheitlichen Standpunkt aufzutreten, der bis dahin nicht vorhanden war. Zur Durchführung der außerordentlichen Maßnahmen wurde vom Minister Wyschofsky1 ein Führungsstab berufen, welcher für die einzelnen Teilgebiete Arbeitsgruppen einsetzte. Das Teilgebiet »Hochdruck« wurde der Technischen Überwachung der DDR übertragen. Diese Arbeitsgruppe beschloss – teils auf Wunsch des EVW, teils aus eigenem Ermessen – eine nochmalige außerordentliche Prüfung des Reaktors. Die Prüfung des Reaktors mithilfe von Ultraschall führte unerwartet zu dem Ergebnis, dass bei zwei Schweißnähten Unregelmäßigkeiten vorhanden sind (Gefügespannungen – Risse oder Einschlüsse, nicht genau bestimmbar). Eine Nachprüfung durch Experten der Materialprüfstelle der Leuna-Werke unter Einsatz modernster Mittel und Methoden ergab die Richtigkeit dieser Feststellung. Ein Vergleich mit der englischen Dokumentation ergab, dass in ihr derartige Unregelmäßigkeiten und eine Beurteilung derselben nicht enthalten waren.
Die konsultierten Vertreter der Firma Thompson konnten dafür keine Erklärung geben, mussten jedoch die Feststellungen der Technischen Überwachung der DDR anerkennen und bestätigen. Sie versuchten allerdings zu beweisen, dass es sich bei den Unregelmäßigkeiten um Schlackeeinschlüsse handelt, die nach den Vorschriften des ASME-Codes2 zulässig sind und keine Gefahr für die Sicherheit des Druckgefäßes darstellen. Diese Auslegung wurde DDR-seitig in Zweifel gestellt. Das geschah sowohl im Interesse des Sicherheitsbedürfnisses als auch in Hinsicht auf die Regresspflicht des Verkäufers. Gleichzeitig musste jedoch berücksichtigt werden, dass die in ähnlichen Fällen übliche Forderung auf Auswechselung des Druckgefäßes nicht erhoben werden konnte, da dies mit einer Neuanfertigung verbunden gewesen wäre, die einen erheblichen Zeitraum beansprucht und eine weitere Verzögerung der Inbetriebnahme der Düngemittelfabrik von mindestens einem Jahr zur Folge gehabt hätte.
Nach Abstimmung mit allen beteiligten Stellen erhob die TÜ der DDR die Forderung zur Durchführung eines Prüfprogramms während des Betriebes des Reaktors über einen Zeitraum von zwölf Wochen. Um dieses Programm bis zum festgelegten Termin der Übergabe der Anlage an den Käufer (30.10.1968) erfüllen zu können, hätte die englische Firma ihre Anlage spätestens Anfang Juli 1968 anfahren müssen. Da sie dazu jedoch nicht in der Lage war, wollte sie das Prüfprogramm in verkürzter Zeit bei Druckverhältnissen bis lediglich 260 atü erfüllen. Darauf konnte sich die TÜ der DDR nicht einlassen, da gerade festgestellt werden muss, ob sich an den Schweißnähten bei höheren Drücken Veränderungen zeigen. Wenn das nämlich der Fall sein sollte, muss der Reaktor aufgegeben werden. Einen anderen Ausweg gibt es dann nicht mehr.
Am 25. Juli 1968 fand in Schwedt eine Sitzung des Führungsstabes statt, auf der die vorgenannten Probleme behandelt wurden. Im Ergebnis dieser Sitzung und in Übereinstimmung mit allen Beteiligten schrieb die TÜ der DDR am 29.7.1968 einen Brief an die Firma Humphreys and Glasgow, in dem sie die sicherheitstechnischen Forderungen bezüglich des Reaktors darlegte und damit zugleich dem DDR-Vertragspartner (Chemieanlagen Export-Import) die Handhabe zur Aufrechterhaltung der Regressforderungen gab, die sonst mit der geplanten Übergabe am 30.10.1968 erlischt. Der Brief an die Firma H & G enthält folgende wesentliche Festlegungen:
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Für den Reaktor wird eine bedingte Freigabe erteilt. Diese wird über den 30.10.1968 hinaus aufrechterhalten.
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Die endgültige Abnahme nach Beendigung des Probebetriebes entfällt aufgrund der gegebenen Umstände.
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Über die Aufhebung der bedingten Freigabe wird nach Ablauf von zwei Jahren, gerechnet ab dem Zeitpunkt der Übergabe an den Käufer, durch die TÜ der DDR befunden.
Vom Außenhandelsunternehmen Chemieanlagen Export-Import wird aufgrund des vorgenannten Briefes gegenüber der Firma Humphreys und Glasgow die Forderung erhoben, die Garantiefrist für den Reaktor um zwei Jahre zu verlängern.
Die Fachleute der TÜ sind sich darüber im Klaren, dass der Betrieb des Reaktors unter den gegebenen Umständen ein Risiko in sich birgt. Sie wollen jedoch unter Berücksichtigung der ökonomischen Seite von einer Sperrung, die nach den Gesetzen der DDR ebenfalls möglich wäre, keinen Gebrauch machen. Sie sind der Meinung, dass das Risiko bei Einhaltung des festgelegten Prüfprogramms (d. h. Studium des Verhaltens der Schweißnähte in den einzelnen Druckstufen) weitgehend gemindert wird.
Nach Auffassung der verantwortlichen Leiter der Technischen Überwachung der DDR sei gegenwärtig niemand in der Lage, eine klare Aussage darüber zu machen, wie sich der Reaktor im Dauerbetrieb unter Druckverhältnissen von über 300 atü verhalten wird, d. h., ob sich die festgestellten Unzulänglichkeiten an den Schweißnähten verändern oder nicht, da es kein Druckgefäß vergleichbarer Größe gibt.
Die Frage, warum die Unzulänglichkeiten am Reaktor nicht bereits bei der Prüfung in England festgestellt worden sind, ist nicht eindeutig zu beantworten. Im Wesentlichen gibt es folgende Versionen:
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die Fehler sind bei der Prüfung erkannt, in den entsprechenden Dokumenten jedoch nicht ausgewiesen worden;
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die Fehler sind infolge unzulänglicher Prüfmethoden nicht erkannt worden;
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die Fehler sind durch auftretende Spannungen während des Transportes entstanden;
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die Fehler sind eine Folge der abschließenden Wasserdruckprüfung.
Da jedoch für keine der vorhandenen Möglichkeiten konkrete Hinweise vorliegen und auch seitens der englischen Vertreter dafür angeblich keine Erklärung gegeben werden kann, ist eine endgültige Klärung dieser Fragen nicht mehr möglich.