Schwerer ungesetzlicher Grenzübertritt bei Groß-Glienicke
23. Oktober 1968
Einzelinformation Nr. 1165/68 über einen schweren ungesetzlichen Grenzübertritt DDR-Westberlin im Raum Groß-Glienicke, Kreis Potsdam-Land
Am 20.10.1968, gegen 6.00 Uhr, wurde durch die NVA/Grenze unter Anwendung der Schusswaffe [Name 1, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1934, wohnhaft Premnitz, Kreis Rathenow, [Straße, Nr.], beschäftigt gewesen als Lagerarbeiter im VEB Chemiefaserwerk »Friedrich Engels« in Premnitz, im Raum Groß-Glienicke, Kreis Potsdam-Land, beim versuchten ungesetzlichen Grenzübertritt nach Westberlin festgenommen.
Durch die Posten der NVA/Grenze wurde zu diesem Zeitpunkt beobachtet, dass eine Person versuchte, den Streckmetallzaun, der unmittelbar die Grenze zu Westberlin markiert, zu überklettern. Nach Anruf wurden insgesamt 15 Schuss auf die Person abgegeben.
[Name 1] wurde dabei durch einen Oberschenkelschuss so erheblich verletzt, dass er bis heute noch nicht vernehmungsfähig ist. (Verletzung der Schlagader und Schock des Zentralen Nervensystems)
Im Ergebnis der Untersuchung wurde festgestellt: In Begleitung des [Name 1] befanden sich folgende Personen, denen der ungesetzliche Grenzübertritt nach Westberlin gelang:
- 1.
Ehefrau [Name 1, Vorname 2], geborene [Name 2], geboren am [Tag, Monat] 1936 in Pavlinenave, wohnhaft gewesen: Premnitz, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Lagerarbeiterin im Chemiefaserwerk »Friedrich Engels« in Premnitz [und] die Kinder
- 2.
[Name 1, Vorname 3], geboren am [Tag, Monat] 1956, Schüler;
- 3.
[Name 1, Vorname 4], geboren am [Tag, Monat] 1957, Schüler und
- 4.
[Name 3, Vorname 1], geboren am [Tag, Monat] 1940 in Kattowice, wohnhaft gewesen: Premnitz, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als Gleisbauarbeiter im Chemiefaserwerk »Friedrich Engels« in Premnitz;
- 5.
[Name 3, Vorname 2], geborene [Name 4], geboren am [Tag, Monat] 1947 in Klietz, wohnhaft gewesen in Premnitz, [Straße, Nr.], zuletzt beschäftigt als technische Zeichnerin im Chemiefaserwerk »Friedrich Engels« in Premnitz.
Die vorgenannten Personen hatten zur Durchführung des ungesetzlichen Verlassens der DDR umfangreiche Vorbereitungen getroffen. So wurden an eine bisher namentlich noch nicht bekannte Person am 18.10.1968 (vermutlich [Name 1]), die sich als Angehöriger des VEB Industrie- und Kraftwerksbau Premnitz ausgab, nach vorheriger mündlicher Vereinbarung 110 Flaschen Wasserstoff vom VEB Chemiehandel Oranienburg ausgeliefert. Der Abtransport erfolgte mittels eines Lkw des VEB Güterkraftverkehr Potsdam-Babelsberg durch die Kraftfahrer [Name 5] und [Name 6], die am gleichen Tage von [Name 3] in Premnitz angesprochen wurden, einen Transport von Oranienburg nach Falkensee durchzuführen, wofür ihnen 150 M zugesichert wurden.
Vor der Abfahrt wurden auf den Lkw sechs Säcke mit Plastefolie verladen, zum Zwecke der Herstellung von Ballons, die mit Wasserstoff gefüllt zum Überwinden der Staatsgrenze nach Westberlin dienen sollten.
Am Transport, der am 18.10.1968 in den Abendstunden durchgeführt wurde, beteiligten sich der [Name 1] sowie der [Name 3] und eine dritte Person, die bisher noch nicht identifiziert werden konnte. Den Kraftfahrern [Name 5] und [Name 6] wurde erklärt, dass es sich bei dem Inhalt der Flaschen um Propangas handelt, welches günstig erworben werden konnte.
Die Entladung der Flaschen und der Säcke mit den Plastefolien erfolgte in der Falkenhagener Heide, zwischen der Siedlung Falkenhöh und Schönwalde, Kreis Nauen, ca. 2 km von der Staatsgrenze zu Westberlin, wo sie im Zuge der Untersuchungen des Vorkommnisses am 21.10.1968 aufgefunden wurden. (Gegen die Kraftfahrer [Name 5] und [Name 6] wurde ein EV eingeleitet und beide Personen festgenommen.)
Am 19.10.1968 gegen Abend begaben sich [Name 1] mit Ehefrau und Kindern mittels Eisenbahn und [Name 3] mit Ehefrau mit einem Motorrad in Richtung Staatsgrenze, um das geplante Vorhaben in die Tat umzusetzen. Da das beabsichtigte Aufblasen der Plastefolien mit Wasserstoff misslang, fassten sie den Entschluss, die Staatsgrenze nach Westberlin durch Überwindung der Grenzsicherungsanlagen zu durchbrechen. Zu diesem Zweck näherten sie sich in den Nachtstunden unter Ausnutzung starken Bodennebels dem Hinterlandsicherungszaun, überstiegen diesen, durchquerten den 6-m-Kontrollstreifen und durchbrachen den sich anschließenden Signalzaun, der sich auch auslöste. Danach wurde durch die Personen eine Flächensperre mit aufrechtstehenden Eisendornen überwunden und der unmittelbar an der Staatsgrenze zu Westberlin in diesem Grenzabschnitt verlaufende Streckmetallzaun überstiegen.
Hier wurde auch [Name 1] beim Versuch, als Letzter diesen Zaun zu übersteigen, bemerkt und nach Schusswaffenanwendung festgenommen.
Die weiteren Untersuchungen ergaben, dass beide Familien befreundet waren. Bei [Name 1] und [Name 3] handelt es sich um kriminelle Elemente. [Name 1] ist bereits wegen Staatsverleumdung und Körperverletzung sowie ungesetzlichen Grenzübertritts vorbestraft und verbüßte deshalb bereits zwei Freiheitsstrafen, die letzte 1966. [Name 3] ist Rückkehrer aus Westdeutschland und ist ebenfalls wegen ungesetzlichen Grenzübertritts vorbestraft.
Die Einstellung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR wird durch enge Westverbindungen, Besitz alter faschistischer Literatur sowie Schallplatten westlicher Herkunft charakterisiert.
Begünstigend für das Gelingen des ungesetzlichen Grenzübertritts wirkte sich die oberflächliche Kontrolle des Grenzabschnittes durch die nach Auslösung der Signalanlage um 3.20 Uhr eingesetzte Kontrollsteife der 4. Kompanie, 32. Grenzregiment, Postenführer Unteroffizier [Name 7, Vorname] aus, die lediglich das Signalfeld wieder einsatzbereit machte und den Kontrollstreifen spurenfrei meldete. Die nach der Festnahme der Person [Name 1] erfolgte Überprüfung ergab, dass bei gründlicher Kontrolle des Signalzaunes bzw. des Hinterlandsicherungszaunes durch die Kontrollstreife der Grenzdurchbruch hätte rechtzeitig festgestellt und verhindert werden können. Weiterhin ist durch den OvD der 4. Kompanie unterlassen worden, trotz entsprechender Dienstvorschriften aufgrund der Witterungsbedingungen (es herrschte starker Bodennebel) zusätzlich Nebelposten einzusetzen.
Durch die Organe des MfS werden zur Identifizierung der bisher unbekannten Person und zur allseitigen Aufklärung der Umstände dieses Vorkommnisses die Untersuchungen fortgesetzt.