Selbstmord eines LPG-Vorsitzenden im Kreis Strasburg
22. Oktober 1968
Einzelinformation Nr. 1160/68 über den Selbstmord des LPG-Vorsitzenden Dr. Clemens, Wismar, [Kreis] Strasburg, [Bezirk] Neubrandenburg
Am 15.10.1968, gegen 10.30 Uhr, wurde der Vorsitzende der LPG »Ernst Thälmann« in Wismar, [Kreis] Strasburg, [Bezirk] Neubrandenburg, Dr. Clemens, Helmut, geboren am [Tag, Monat] 1929, wohnhaft in Wismar, Kreis Strasburg, Diplom-Landwirt, verheiratet, drei Kinder, Mitglied der SED seit 1954/Mitglied der Kreisleitung der SED Strasburg, Mitglied der DSF, GST und des FDGB, im Abstellraum auf dem Boden des Verwaltungsgebäudes der LPG erhängt aufgefunden.
Die Organe der VP und des MfS haben dieses Vorkommnis gemeinsam untersucht und folgende Feststellungen getroffen:
Dr. Clemens, der an der Friedrich-Schiller-Universität Jena promovierte und anschließend als Produktionsleiter in der LPG »Freie Erde« in Jagow/Kreis Strasburg tätig war, leitete seit 1.8.1965 die LPG »Ernst Thälmann« in Wismar/Kreis Strasburg.
Er wurde bisher als parteiverbundenes und pflichtbewusstes Parteimitglied charakterisiert. In seiner Eigenschaft als LPG-Vorsitzender und Mitglied der SED-Kreisleitung war er strebsam und gewissenhaft. Charakterlich wird Dr. Clemens jedoch als sensibler und weicher Mensch bezeichnet.
Seit ca. acht Tagen vor seinem Selbstmord hat Dr. Clemens bereits ein verändertes Wesen im Verhalten gegenüber anderen Personen gezeigt. In Gesprächen hat er stets Sorgen über die »Nichterfüllung des Planes 1968« geäußert und dabei zu erkennen gegeben, dass er keinen Ausweg aus dieser »Situation« sieht. Nach Auffassung des Dr. Clemens sei u. a. mit einem Planverlust von 300 TM gerechnet worden.
In einer Aussprache mit dem 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED, Genossen Chemnitzer,1 die auf Initiative des Dr. Clemens am 9.10.1968 stattfand, beabsichtigte Dr. Clemens, sich einen Rat zu holen.
Während des Gespräches erläuterte er seine großen Sorgen wegen seiner Tätigkeit als LPG-Vorsitzender. Unter anderem bezeichnete er sich als »Versager«, da die LPG sich nicht entsprechend seinen Vorstellungen entwickelt hätte. In diesem Zusammenhang legte er die Planschulden der LPG dar und sprach von einer am Jahresende zu erwartenden Minusdifferenz in Höhe von etwa 150 TM. Auf seine Bitte hin, sicherte der 1. Sekretär, Genosse Chemnitzer, dem Genossen Clemens vorbehaltlos Hilfe zu.
Im Beisein von Dr. Clemens vereinbarten Genosse Chemnitzer und der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung Strasburg, Genosse Schernau,2 telefonisch, Dr. Clemens jede mögliche Hilfe bei der Überwindung entstandener Schwierigkeiten zu gewähren.
In einer nachfolgenden Aussprache in der SED-Kreisleitung Strasburg, an der weiterhin der Sekretär für Landwirtschaft der SED-Kreisleitung und der Vorsitzende des Rates für landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft teilnahmen, wurde ebenfalls jede Hilfe zugesichert.
Dabei wurde Dr. Clemens erklärt, dass alle Planpositionen innerhalb der LPG mithilfe des Rates für Landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft überprüft und darauf aufbauend weitere Maßnahmen für die LPG festgelegt werden sollen.
Über den Inhalt dieser Beratung äußerte sich Dr. Clemens jedoch gegenüber der Hauptbuchhalterin der LPG dahingehend, »die können mir auch nicht helfen«. Daraufhin habe die Hauptbuchhalterin nach eigenen Angaben versucht, Dr. Clemens davon zu überzeugen, dass die Produktionsausfälle nicht in der von ihm angenommenen Höhe eintreten würden. Außerdem habe sie auf die Überplanerfüllung im Produktionszweig Rindfleischerzeugung hingewiesen.
Diese Darlegungen sollen Dr. Clemens von seiner pessimistischen Stimmung jedoch nicht abgebracht haben.
Der Parteisekretär der LPG, Genosse Anklam und auch seine Ehefrau versuchten ebenfalls – allerdings ohne Erfolg –, Dr. Clemens von seinen irrigen Auffassungen betreffs der hohen Planrückstände abzubringen.
Für den 15.10.1968, 9.00 Uhr, war im Ergebnis der Absprache mit dem 1. Sekretär der Kreisleitung Strasburg und der Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft eine Beratung mit den Funktionären der LPG Wismar im Gebäude der LPG vorgesehen.
Kurz vor Beginn der Beratung befand sich Dr. Clemens noch in den Verwaltungsräumen der LPG, verließ unmittelbar vor dem Eintreffen der Beratungsteilnehmer das Gebäude mit dem Bemerken, dass er noch etwas erledigen müsste. Nach dem Eintreffen aller Beratungsteilnehmer suchte der Parteisekretär, Genosse Anklam, den LPG-Vorsitzenden im gesamten Bereich der LPG und in seiner Wohnung ohne Erfolg. Erst gegen 10.30 Uhr fand er Dr. Clemens erhängt im Abstellraum des Verwaltungsgebäudes der LPG auf.
Im Zusammenhang mit den geführten Ermittlungen wurde u. a. auch bekannt, dass sich Dr. Clemens bereits am 14.10.1968 ohne Angabe von Gründen nach dem Aufbewahrungsort des Schlüssels für den Abstellraum erkundigt hatte.
Am Abend des 14.10.1968 hatte er sich, nach Aussagen eines Lehrlings, in diesem Raum bereits eingeschlossen. (Letztere Tatsache wurde erst im Verlaufe der Untersuchungen bekannt.) Aus einem Abschiedsbrief, den Dr. Clemens hinterließ, ist zu entnehmen, dass Dr. Clemens aufgrund seiner angenommenen Schuld an den entstandenen Verhältnissen nicht mehr bereit war, weiterzuleben und weiterzuarbeiten. Wie er weiter in diesem Brief betonte, hätte er durch seine angebliche »oberflächliche und in bestimmten Fragen nicht verantwortungsbewusste Arbeit beigetragen, dass sich die Menschen der LPG Hoffnungen hingegeben haben, die nicht erfüllt werden könnten«.
Eine Überprüfung der wirtschaftlichen Lage der LPG durch Spezialisten des Rates für Landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft Strasburg und der Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft ergab, dass die Annahmen des Dr. Clemens unbegründet waren. Nach Einschätzung der Experten würde in der LPG Wismar bei Einhaltung des derzeitigen Wertes der Arbeitseinheit am Jahresende 1968 durch einige Produktionsausfälle bedingt ein Fehlbetrag von ca. 39 TM eintreten. In der LPG wurde jedoch eine außerplanmäßige Reserve in Höhe von 139 TM festgestellt, sodass insgesamt ca. 100 TM für die Jahresendauszahlung zur Verfügung stehen würden.
Aufgrund des vorgefundenen Sachverhalts sind die beteiligten Untersuchungsorgane zu der Feststellung gelangt, dass Dr. Clemens Selbstmord beging, weil er nach seiner Auffassung keinen Ausweg aus einer angeblich schwierigen wirtschaftlichen Lage der LPG sah, für deren Entstehen er sich, wie er wiederholt betonte, selbst verantwortlich fühlte.
Alle Überprüfungsmaßnahmen ergaben eindeutig, dass Dr. Clemens weder wegen
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herzlosen oder bürokratischen Verhaltens bestimmter Organe,
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persönlichen moralischen Schwächen oder
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anderen negativen Einflüssen
den Freitod gewählt hat. Es ist vielmehr einzuschätzen, dass diese Tat im Zustand einer zeitweisen Depression erfolgte.