Überfall auf einen Westdeutschen und versuchte Fahnenflucht
6. Februar 1968
Einzelinformation Nr. 128/68 über einen Überfall auf einen westdeutschen Bürger durch Angehörige des Baupionier-Bataillons 14 am 27. Dezember 1967 im Zusammenhang mit ihrer beabsichtigten Fahnenflucht
Am 27.12.1967, gegen 11.00 Uhr, wurde am S-Bahnhof Berlin-Adlershof der westdeutsche Bürger [Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1950, wohnhaft Siegen, [Straße, Nr.], von den in Zivil befindlichen NVA-Angehörigen Unteroffizier [Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1947, wohnhaft 1199 Berlin, [Straße, Nr.], NVA seit 1.11.1966 (Berufssoldat), Baupionier-Btl. 14 des Kdo. LSK/LV, Kandidat der SED seit April 1967, und Unteroffizier [Name 3, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1948, wohnhaft Neuenhagen/Berlin, [Straße, Nr.], NVA seit 1.11.1966 (Berufssoldat), Baupionier-Btl. 14 des Kdo. LSK/LV, angesprochen, unter einem Vorwand in einen gemieteten Pkw Wartburg gelockt und in das Bootshaus der SG »Grün-Weiß« nach Berlin-Karolinenhof, Rohrwallallee, gebracht. In einer Koje des Bootshauses wurde [Name 1] von den NVA-Angehörigen gefesselt und mit Tüchern geknebelt zurückgelassen.
Die bisherigen Untersuchungen ergaben Folgendes: [Name 2] und [Name 3] kennen sich vom gemeinsamen Dienst im Stab des Baupionier-Btl. 14. Außerdem sind beide mit dem [Name 4, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1946, wohnhaft 1199 Berlin, [Straße, Nr.], II. Wohnsitz: Zürchow, ohne Beschäftigung, befreundet, dem sie im Juni 1967 in Zürchow, Standortbereich Garz, ein Zimmer beschafften. Seit diesem Zeitpunkt hielt sich [Name 4] polizeilich gemeldet in Zürchow auf, wo auch [Name 2] und [Name 3] gemeinsam mit [Name 4] ihre Freizeit verbrachten. ([Name 2] und [Name 4] kennen sich bereits seit mehreren Jahren aus dem Wohngebiet in Berlin.)
Durch ständigen Empfang von Westsendern und Westfernsehen, Abenteuerlust und zunehmendes Desinteresse an der Ableistung seiner Dienstzeit als Berufssoldat reifte in [Name 2] der Entschluss, sich der weiteren Ableistung des Wehrdienstes in der NVA durch seine Fahnenflucht zu entziehen.
Bereits im Oktober 1967 setzte er den [Name 3] von seinem Vorhaben in Kenntnis, da er zu wissen glaubte, dass [Name 3] aus den gleichen Gründen erwartungsgemäß seine Teilnahme an der Fahnenflucht zusagen würde.
Unmittelbar nach diesem Gespräch entwickelten sie unter Einbeziehung des völlig unter ihrem Einfluss stehenden arbeitsscheuen [Name 4] einen Plan, wonach sie unter Ausnutzung ihres Festtagsurlaubes Weihnachten 1967 fahnen- bzw. republikflüchtig werden wollten. Zu diesem Zweck wollten sie in die Hauptstadt der DDR einreisende westdeutsche Bürger nach dem Ähnlichkeitsprinzip auswählen und überfallen, um mit deren Personal- und Reisedokumenten die DDR ungesetzlich zu verlassen. Für den Fall einer Festnahme durch die Sicherheitsorgane der DDR wurde vereinbart, zum Motiv ihrer Handlung auszusagen, dass sie auf diese Weise nach Vietnam gelangen wollten, um den Befreiungskampf des vietnamesischen Volkes zu unterstützen. Dadurch erhofften sie sich eine milde Bestrafung.
Entsprechend diesem Plan fertigten sie sich zum Zwecke der Einschüchterung und Überwältigung der zur Ausraubung vorgesehenen Personen zwei MPi-Imitationen, fünf Fesseln und drei Kapuzen an. Weiter beschafften sie sich Äther zur Betäubung der Opfer.
Unter Mitführung dieser Gegenstände reisten die Genannten am 23.12.1967 nach Berlin. Am 24.12.1967 mietete sich [Name 2] einen Pkw Wartburg, mit dem sie ihr Opfer verschleppen wollten.
In der Zeit bis zum 27.12.1967 klärten [Name 2] und [Name 3] die GÜSt Bahnhof Friedrichstraße auf und beobachteten den Reiseverkehr.
Am 27.12.1967 wählten sie den in die Hauptstadt der DDR einreisenden westdeutschen Schüler [Name 1] für ihr Vorhaben aus. Am Fahrkartenschalter erkundeten sie unauffällig das Reiseziel des [Name 1], Berlin-Adlershof. Unmittelbar danach fuhren sie mit dem von [Name 2] gemieteten Pkw nach Berlin-Adlershof, wo sie [Name 1] erwarteten und ihn unter Vorzeigen einer mit Kinderdruckkasten hergestellten »Legitimation« zum Besteigen des Pkw aufforderten. Dabei gaben sie sich als Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes aus. [Name 1] leistete widerspruchslos Folge.
Anschließend brachten sie den westdeutschen Bürger zu einem Bootshaus der SG »Grün-Weiß« in Berlin-Karolinenhof, wo sie ihn in einer von [Name 2] Vater gemieteten Bootskoje mit den dazu hergestellten Hilfsmitteln fesselten und knebelten. Danach nahmen sie die Jacke und die Aktentasche des [Name 1] an sich, weil sie darin die Personal- und Reisedokumente vermuteten, mit denen sie die DDR verlassen wollten. Die Personal- und Reisedokumente befanden sich jedoch in der Gesäßtasche des [Name 1], sodass [Name 2] und [Name 3] nicht in den Besitz derselben gelangten.
Nachdem sie den Gefesselten eingesperrt zurückgelassen hatten, begaben sie sich zu [Name 4]. Sie berichteten ihm über die Entführung des [Name 1] und beauftragten ihn mit dessen Überwachung. Während sich [Name 4] unverzüglich nach Berlin-Karolinenhof begab, fuhren [Name 2] und [Name 3] zum Bahnhof Friedrichstraße zurück, um einen weiteren westdeutschen Bürger auf die gleiche Weise zu überfallen. Da sie jedoch bis gegen 17.00 Uhr keine weitere für ihr Vorhaben geeignete Person gefunden hatten, fuhren sie nach Karolinenhof zurück.
In der Zwischenzeit war [Name 1] bereits durch den Mieter einer anderen Bootskoje und durch den Leiter des Objektes und den zuständigen ABV befreit worden. [Name 4] gelang es dabei, sich unbemerkt zu entfernen.
Nach Feststellung dieses Sachverhaltes ergriffen [Name 2] und [Name 3] mit dem gemieteten Pkw die Flucht und beabsichtigten, sich auf der Autobahn Drewitz – Marienborn von Fahrern Westdeutscher Lkw nach Westdeutschland oder Westberlin ausschleusen zu lassen.
Am 28.12.1967 wurden [Name 2] und [Name 3] auf der Autobahn aufgrund der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen festgenommen. Die Festnahme des [Name 4] erfolgte am 29.12.1967.
Dem westdeutschen Bürger [Name 1] wurde nach Aushändigung einer angemessenen Entschädigung die Ausreise nach Westberlin ermöglicht. Gleichzeitig wurden Maßnahmen eingeleitet, um einer hetzerischen Auswertung dieses Vorkommnisses durch westliche Publikationsorgane vorzubeugen.
Zur Person
Alle genannten Festgenommenen sind ihrer sozialen Herkunft nach Arbeiter. [Name 2] und [Name 3] besuchten die Polytechnische Oberschule bis zur 10. Klasse. [Name 4] besuchte aufgrund seines gering entwickelten Intellekts eine Sonderschule und wurde aus der 10. Klasse entlassen. Alle drei haben eine abgeschlossene Berufsausbildung. Lediglich [Name 4] ging seit Oktober 1966 keiner beruflichen Tätigkeit nach und lebte von der Unterstützung seiner Eltern und Freunde ([Name 2] und [Name 3]). [Name 2], [Name 3] und [Name 4] haben verwandtschaftliche Bindungen nach Westdeutschland und Westberlin. [Name 2] besuchte bereits seit seiner Kindheit die Westsektoren Berlins und beabsichtigte schon zu Beginn des Jahres 1965, gemeinsam mit [Name 4] die DDR illegal zu verlassen.
Weitere Untersuchungen über die Motive und näheren Zusammenhänge der beabsichtigten Fahnen- bzw. Republikflucht werden durch das MfS geführt.