Verhältnis der außerparlamentarischen Opposition zur SED-Westberlin
18. Mai 1968
Einzelinformation Nr. 542/68 über das Verhältnis der außerparlamentarischen Opposition zur SED-Westberlin
Nach Angaben zuverlässiger und vertrauenswürdiger Quellen sind gegenwärtig innerhalb der Westberliner außerparlamentarischen Opposition heftige Auseinandersetzungen hinsichtlich des Verhältnisses zur SED-Westberlin1 im Gange.
Die Auseinandersetzungen begannen verstärkt nach der Teilnahme der SED-Westberlin an der Demonstration der außerparlamentarischen Opposition am 1. Mai und nachdem in der Presse (z. B. »Tagesspiegel« vom 5. Mai 1968) bekannt gegeben wurde, dass zwei Vorstandsmitglieder der SED-Westberlin an Sitzungen des Zentralausschusses der außerparlamentarischen Opposition teilnahmen.
Nach Angaben einer vertrauenswürdigen Quelle will eine Gruppe des Zentralausschusses der außerparlamentarischen Opposition die Zusammenarbeit mit der SED-Westberlin praktisch einstellen, weil sie befürchtet, dass die SED die außerparlamentarische Opposition unterwandern wolle. Zum anderen ist die SED verschiedenen SDS-Gruppen2 nicht radikal genug.
Wie bereits berichtet ist die Mehrheit im Vorstand des Republikanischen Clubs (RC)3 für die Aktionseinheit mit der SED-Westberlin (Mahler,4 Meschkat,5 Nevermann6 usw.). Diese Linie wurde von ihnen auch in einem Interview (»Tagesspiegel« vom 10.5.1968) bekräftigt.
Hierzu wurde bekannt, dass es innerhalb der außerparlamentarischen Opposition in Westberlin um die Teilnahme an diesem Interview Auseinandersetzungen gab. Insbesondere im SDS Westberlin wurde hierüber gestritten. Die Mehrheit der Teilnehmer an der Tagung des Generalrates des SDS Westberlin am 4. Mai 1968 sprach sich dafür aus, dass die Vertreter des RC nicht im Namen der außerparlamentarischen Opposition sprechen dürfen. Zur Frage der Zusammenarbeit mit der SED-Westberlin wurde auf der SDS-Tagung u. a. Folgendes geäußert:
Die Berichterstattung der »Wahrheit«7 zum 1. Mai wurde als ein Skandal bewertet. Das einzige Ziel dieser Berichterstattung sei gewesen, die SED groß herauszubringen und die Forderungen sowie überhaupt jegliche Äußerungen und Aktionen der außerparlamentarischen Opposition zu verschweigen. Die SED habe die antifaschistische Einheitsfront bewusst gebrochen und aufgehoben. Das Übergehen der konkreten politischen Forderungen und Manifestationen der außerparlamentarischen Opposition oder auch des SDS sei ein Bruch dieser Zusammenarbeit, die die SED selbst mit der These der antifaschistischen Einheitsfront vorgeschlagen habe. Es war festzustellen, dass gegen die These von der antifaschistischen Einheitsfront und gegen die These einer fruchtbaren Zusammenarbeit eigentlich nichts gesagt wurde und dass darüber eigentlich mehr oder weniger stillschweigendes Einverständnis zu bestehen schien. Die Auseinandersetzung entzündete sich lediglich darin, dass der Eindruck entstanden war, dass die SED die 1. Mai-Kampagne dazu benutzt habe, ihre eigenen Forderungen, die als zu minimal und zu revisionistisch erschienen, ohne Diskussion und Auseinandersetzung und ohne jede Besprechung groß herauszubringen. Das sei alles andere als antifaschistische Einheitsfront, das sei ein Alleingang.
Es trat die Frage auf, wie man darauf reagieren solle, ob man in einem Interview diese Differenzen zur SED öffentlich diskutieren und bekanntmachen oder ob man diese Differenzen zunächst mit der SED intern diskutieren sollte. Die erste Variante, die Auseinandersetzung in einer bürgerlichen Zeitung (»Tagesspiegel«) zu führen, wurde eigentlich nur von Rabehl8 vertreten. Scharf dagegen polemisierte Eike Hemmer,9 die [sic!] sagte, dass es nicht möglich sei, mit der SED in eine fruchtbare Auseinandersetzung durch eine bürgerliche Tageszeitung zu kommen. Weiter wurde von ihr [sic!] angeführt, dass die langsam angelaufene Zusammenarbeit mit der SED in den Betrieben dadurch gestört werden würde, wenn so schwerwiegende Differenzen durch die bürgerliche Klassenpresse veröffentlicht werden und damit ein neuer und nicht wiedergutzumachender, unüberbrückbarer Graben zwischen SED und Teilen der außerparlamentarischen Opposition aufgerissen werden würde. Rabehl meinte in Bezug auf die SED, dass eine Zusammenarbeit mit einer stalinistischen Organisation nicht möglich sei. Es setzte sich schließlich die Meinung von Hemmer durch, dass man die Differenzen intern behandelt.
Man müsse zuerst zur SED gehen und später könne man die bürgerliche Presse einschalten. Im Übrigen wurde dargelegt, dass eine Stalinismusdiskussion nicht aktuell ist.
Es wurde eine Resolution verfasst, die einleitend feststellt, dass Voraussetzung für die Zusammenarbeit in einer Einheitsfront mit der SED ist, dass alle Fragen an der Universität und außerhalb öffentlich diskutiert werden:
- 1.
Die Theorie von der erweiterten Mitbestimmung oder Arbeiterkontrolle
- 2.
Die Funktion des Parlamentarismus in der Phase des Spätkapitalismus
- 3.
Der demokratische Zentralismus als adäquate Möglichkeit zur Organisierung der Arbeiterklasse
- 4.
Die Theorie der Einheitsfront
- 5.
Die Frage der Selbsttätigkeit der Massen
- 6.
Die Frage der friedlichen Koexistenz und des revolutionären Internationalismus.
Diese Fragen sollen demnächst innerhalb und außerhalb der Universität, überall wo die außerparlamentarische Opposition zu finden ist, diskutiert werden. Nach Einschätzung einiger Mitglieder kann die SED einer solchen Diskussion schlecht ausweichen, wenn sie die Einheitsfront mit der außerparlamentarischen Opposition nicht stark gefährden will. Im Rahmen dieser Auseinandersetzungen wurde der AStA der Technischen Universität Westberlin, der unter der Leitung von Reiner Wethekam10 stand, abgewählt.
Die »Gemäßigten«, die diese Abwahl erreichten, erklärten, dass die Abwahl des Vorstandes das »endgültige Scheitern der Politik der letzten Monate« bedeute.
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