Versuchte Fahnenflucht von vier VP-Angehörigen in Magdeburg
15. Juli 1968
Einzelinformation Nr. 755/68 über die Festnahme von vier Angehörigen der 11. Volkspolizeibereitschaft Magdeburg-Prester wegen versuchter Fahnenflucht
Am 1.7.1968 versuchten die Angehörigen der 11. VP-Bereitschaft Magdeburg-Prester
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[Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1947 in Redekin, Schulbildung: Grundschule, 8. Klasse, Beruf: Betonfacharbeiter , Wehrdienst: seit 2.5.1966 Angehöriger der Bereitschaftspolizei, 11. VPB Magdeburg, Wachtmeister auf Zeit, Oberwachtmeister/Gruppenführer, wohnhaft Redekin, [Straße, Nr.], Kr. Genthin, ledig, parteilos;
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[Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1948 in Eisleben, Schulbildung: Grundschule, 7. Klasse, Beruf: Rinderzüchter, Wehrdienst: seit 2.11.1967 Angehöriger der Bereitschaftspolizei, 11. VPB Magdeburg, VP-Anwärter/Schütze, wohnhaft Eisleben, [Straße, Nr.], Kreis Eisleben, ledig, Kandidat der SED seit 18.11.1967;
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[Name 3, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1949 in Röblingen, Schulbildung: Grundschule, 8. Klasse, Beruf: Industrieschmied/Montageschlosser, Wehrdienst: seit 2.11.1967 Angehöriger der Bereitschaftspolizei, 11. VPB Magdeburg, VP-Anwärter/Schütze, wohnhaft Röblingen, [Straße, Nr.], Kreis Eisleben, ledig, parteilos [und]
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[Name 4, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1948 in Stendal, Schulbildung: Oberschule, 10. Klasse, ohne erlernten Beruf, Wehrdienst: seit 3.5.1967 Angehöriger der Bereitschaftspolizei, 11. VPB Magdeburg, VP-Anwärter/Schütze, ledig, Mitglied der SED seit Februar 1968
unter Mitnahme ihrer Dienstwaffen von ihrer Einheit zu desertieren und die DDR illegal zu verlassen. Dabei wurden sie am gleichen Tage gegen 21.45 Uhr festgenommen und gegen sie am 2.7.1968 vom zuständigen Militärstaatsanwalt Ermittlungsverfahren wegen Fahnenflucht eingeleitet.
Die bisher vom MfS durchgeführten Untersuchungen ergaben: Der Beschuldigte [Name 1] hat infolge langjährigen, von seinen Eltern begünstigten Abhörens westlicher Sender eine feindliche Einstellung zur sozialistischen Gesellschaftsordnung, die insbesondere in der Verherrlichung der amerikanischen Aggression gegen das vietnamesische Volk zum Ausdruck kommt. Bei der am 2.7.1968 bei ihm durchgeführten Wohnungsdurchsuchung wurden militaristische und faschistische Literatur sowie mehrere gegen das 5. Grenzregiment der NVA gerichtete Hetzflugzettel, deren Herkunft noch ungeklärt ist, gefunden. Darüber hinaus war er im Besitz einer Vielzahl von Fotos, die in Objekten der Bereitschaftspolizei aufgenommen wurden und ihn sowie andere, noch nicht identifizierte Bereitschaftsangehörige bewaffnet in rangerhaften Posen darstellen. Bereits seit 1962 trägt sich [Name 1] mit der Absicht des illegalen Verlassens der DDR. In der Hoffnung, in den Grenztruppen zum Einsatz zu kommen und somit die Möglichkeit zu erhalten, die Staatsgrenze der DDR gefahrloser zu überschreiten, verpflichtete er sich zum Dienst als Soldat auf Zeit. Seine Einberufung erfolgte jedoch am 2.5.1966 zur Bereitschaftspolizei. Dort trachtete er anlässlich einer im Jahre 1966 im grenznahen Raum bei Tanne/Harz durchgeführten Gefechtsübung danach, Fahnenflucht zu begehen, fand jedoch objektiv keine Möglichkeit dazu. Während er es in der Folgezeit verstand, seine feindliche Einstellung nach außen zu verstecken, ging er seit Frühjahr 1968 dazu über Angehörige der ihm unterstellten Gruppe innerhalb der 2. Kompanie durch eine geschickte Gesprächsführung nach ihrer politischen Einstellung zu testen. Sein Ziel war es, einige Angehörige seiner Gruppe für einen bewaffneten gewaltsamen Grenzdurchbruch zu gewinnen. Mit offener Bekundung seiner Absicht, sich über Westdeutschland nach Vietnam durchzuschlagen oder sich seinem Idol »Kongo-Müller«1 anzuschließen, gewann er während einer Wachschicht im Munitionslager der Einheit am 26.6.1968 den Beschuldigten [Name 3] für sein Vorhaben. [Name 3], ebenfalls durch ständiges Abhören von Westsendern negativ beeinflusst, versah seinen Dienst lustlos und war deshalb sofort zur Fahnenflucht bereit. Beide kamen überein, noch am selben Tage mit den Vorbereitungen zur Fahnenflucht zu beginnen.
Sie öffneten gemeinsam mit Gewaltanwendung einen der von ihnen zu bewachenden Munitionsbunker und überzeugten sich, dass darin Schützenmunition gelagert ist, die sie für ihre Bewaffnung benötigten. Aufgrund des von [Name 3] gemachten Vorschlages, im Interesse der Erhöhung der Erfolgschancen die Gruppe zu vergrößern, entnahmen sie noch keine Munition und verdeckten wieder die Spuren ihres Einbruches. Anschließend weihten sie den zur selben Zeit im Wachobjekt Dienst verrichtenden Beschuldigten [Name 4] in ihren Plan ein. [Name 4] sagte aufgrund seiner schwankenden politischen Einstellung und Abenteuerlust seine Teilnahme zu. Er warnte jedoch vor überstürztem Handeln und verlangte die Festlegung eines detaillierten Fluchtplanes.
Am 27.6.1968 sprachen [Name 1] und [Name 3] in der Unterkunft ihrer Einheit den Beschuldigten [Name 2] an, dessen ablehnende Einstellung zur DDR und zum Wehrdienst sowie seine illusionären Vorstellungen über die Verhältnisse in Westdeutschland ihnen bekannt waren. [Name 2] erklärte sich ebenfalls sofort zur Fahnenflucht bereit.
Anhand eines Straßenverkehrsatlasses berieten die Beschuldigten über mögliche Fluchtwege und kamen überein, einen Weg entlang der Autobahn nach Marienborn zu benutzen und den Grenzdurchbruch im Raum Harbke durchzuführen. Es wurde festgelegt, mit der Ausführung der Tat beim nächsten gemeinsamen Wacheinsatz im Munitionslager zu beginnen. Alle verfügbaren Waffen und genügend Munition sollten mitgenommen werden, um sich, wenn notwendig, den Fluchtweg freizuschießen.
In Abänderung der bisherigen Regelung, der zufolge die Sicherung des Munitionslagers jeweils einer Wachgruppe in Stärke von 1 : 9 übertragen war, wurde durch Befehl des Kommandeurs der 11. VP-Bereitschaft mit Wirkung vom 1.7.1968 die Wachgruppe auf die Stärke 1 : 3 reduziert. Am selben Tage wurde [Name 1] aufgrund seiner Dienststellung für die Zeit vom 1.7.1968, 16.00 Uhr, bis 2.7.1968, 16.00 Uhr, als Wachhabender für das Munitionslager bestimmt. Er erhielt vom Innendienstleiter der Einheit den Auftrag, die Wachgruppe in Stärke von drei Posten aus Gruppenangehörigen auszuwählen, die sich unbeachtet des »Tages der Volkspolizei« freiwillig zur Wache melden.
Diesen Umstand nutzte [Name 1] aus und wählte aus dem Kreis der Freiwilligen die Beschuldigten [Name 2], [Name 3] und [Name 4] aus. Nach erfolgter Vergatterung zog er am 1.7.1968, 16.00 Uhr, mit dieser Gruppe zur Wache auf. Zur Ausrüstung der Wachgruppe gehörten für [Name 4] ein leichtes Maschinengewehr, für [Name 2] und [Name 3] je eine Maschinenpistole und für [Name 1] als Wachhabenden eine Pistole. An Munition standen 420 Patronen für die Langwaffen und 32 Pistolenpatronen zur Verfügung. Aus dem bereits am 26.6.1968 erbrochenen Munitionsbunker holten sich die Beschuldigten noch weitere 281 Patronen und 46 Schuss Pistolenmunition. Die Täter verfügten somit insgesamt über 779 Patronen, die sie im Wachraum des Munitionslagers gemeinsam aufgurteten bzw. in Magazine füllten. Nach dem anschließenden Durchladen aller Waffen stellte [Name 1] das von ihm an der Laufmündung ergriffene leichte Maschinengewehr senkrecht ab, wobei sich infolge eines Defektes an der Sicherung ein Schuss löste und bei [Name 1] zu einem Handdurchschuss führte. Trotz dieser Verletzung verließen die Beschuldigten unter seiner Führung gegen 21.00 Uhr unter Mitnahme ihrer Waffen und der Munition das Wachobjekt. Der Telefonanschluss zum Diensthabenden der VP-Bereitschaft war vorher von [Name 1] zerstört worden.
Nach dem Verlassen des Objektes durchquerten die Beschuldigten ein Getreidefeld und bewegten sich anschließend durch das Waldgelände »Magdeburger Krenzhorst«. [Name 1] und [Name 2] gingen voran, ihnen folgten [Name 3] und [Name 4] in einem Abstand von 30 Metern.
Aus bisher noch ungeklärten Motiven wollen [Name 3] und [Name 4] in dieser Situation übereingekommen sein, von der Fahnenflucht Abstand zu nehmen und [Name 1] und [Name 4] mit Waffengewalt an der weiteren Tatausführung zu hindern. [Name 4] ließ sich von [Name 3] dessen Maschinenpistole geben und gab ohne eine Warnung auf die Vorangehenden einen gezielten Feuerstoß ab, wobei [Name 2] einen Oberarmdurchschuss erhielt. Danach lief er zurück, um Meldung zu erstatten. [Name 3] begab sich zu [Name 1] und [Name 2] und ließ sich von ihnen unter dem Vorwand, die Verfolgung des »Abtrünnigen« [Name 4] aufnehmen zu wollen, eine Maschinenpistole geben. Anschließend lief auch [Name 3] zurück, lieh sich unterwegs von einem Bürger dessen Moped aus und erreichte gegen 21.30 Uhr noch vor [Name 4] das Objekt der 11. VP-Bereitschaft, wo er über das Vorgefallene Meldung erstattete. Von dem sofort ausgerückten Alarmzug konnten [Name 1] und [Name 2] widerstandslos festgenommen werden.
Die Untersuchungen, besonders über die Tatumstände, die Tatbeiträge und Motive, werden noch weiter geführt.