Vorgänge im Zusammenhang mit den Maßnahmen der ČSSR
1. September 1968
Einzelinformation Nr. 966/68 über einige Vorgänge im Zusammenhang mit den Maßnahmen der ČSSR
Wie dem MfS zuverlässig bekannt wurde, hat sich der Differenzierungsprozess unter den Mitarbeitern der Botschaft der ČSSR in der DDR weiter verstärkt.
Seit dem 29.8.1968 ist festzustellen, dass die negativen Kräfte in der Botschaft einerseits zunehmend in einen Zustand der Lethargie verfallen und andererseits den Kontakt zu den positiven Kräften wieder aufzunehmen versuchen.
Es wird eingeschätzt, dass diese Kräfte offensichtlich das Scheitern des antisozialistischen und revisionistischen Kurses in der ČSSR zu begreifen beginnen und dass sie sich deshalb – im Gegensatz zur vorangegangenen Zeit – in dieser Frage nicht weiter exponieren wollen. In Gesprächen klingt vereinzelt bereits die Befürchtung an, wegen der negativen Haltung zur Verantwortung gezogen werden zu können. Bei einzelnen dieser Mitarbeiter ist deshalb eine starke Nervosität und Unsicherheit festzustellen.
Durch Botschafter Kolář1 wurde z. B. angewiesen, in den Pressetelegrammen an das MfAA der ČSSR auf die bis zum 29.8.1968 üblichen negativen Kommentare zu verzichten. Von Kolář wurde erklärt, dass die Einschätzung der Presse der DDR dem MfAA in Prag überlassen werden sollte.
Die Unsicherheit der negativen Kräfte wuchs offensichtlich auch dadurch, dass über mehrere Tage vom MfAA der ČSSR keine konkreten Anweisungen ergingen, sondern lediglich Presseveröffentlichungen, z. B. Auszüge aus den Reden von Svoboda,2 Dubček3 und Smrkovský,4 übersandt wurden. Am 31.8.1968 werden durch das MfAA der ČSSR wieder entsprechende Anweisungen übermittelt.
Nach der Übernahme des Amtes des Außenministers der ČSSR sandte Pleskot5ein Telegramm an die Botschaft der ČSSR in der DDR, in dem gefordert wurde, sehr aufmerksam die Presse sowie die Rundfunk- und Fernsehsendungen der DDR zu verfolgen. Von interessanten Sendungen sollen Aufzeichnungen auf Tonband vorgenommen werden, die bearbeitet werden. Das Ergebnis soll an das MfAA in Prag übermittelt werden. (In dem Telegramm werden diese Angaben als »sehr wichtig« bezeichnet.)
In einem weiteren Telegramm des MfAA in Prag an die Botschaft der ČSSR in der DDR wurde über die Lage in der ČSSR informiert. Es hieß darin, dass sich das Leben in den Betrieben der ČSSR, der Verkehr und die Versorgung der Bevölkerung wieder normalisieren würden; auch die Arbeit im MfAA normalisiere sich. Weiter hieß es, dass der 14. Parteitag6 der KSČ7 vorbereitet werde, dass die Kräfte des Parteiapparates mobilisiert wurden und dass die KSČ alles tun werde, um das Ansehen der Partei weiter zu stärken und auch auszunutzen. Der Botschafter der ČSSR in der DDR wurde angewiesen, nur Weisungen ihm bekannter Mitarbeiter des MfAA Folge zu leisten.
Das Außenhandelsministerium der ČSSR sandte Telegramme an sämtliche Handelsvertretungen der ČSSR im Ausland, in denen den Mitarbeitern der Dank für ihre Treue zur Parteiführung unter Dubček, zu Svoboda und zur Regierung mit Černík8 an der Spitze ausgesprochen wurde. Es wurden folgende Weisungen gegeben:
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die Kontakte zu den Handelspartnern wieder aufzunehmen bzw. auszubauen,
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den Standpunkt der Partner zu sondieren,
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bei der Nichteinhaltung von Verträgen Protest zu erheben,
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bei der Entstehung von Schäden durch Nichteinhaltung getroffener Vereinbarungen Schadenersatz zu fordern.
Weiter wurde in diesen Telegrammen mitgeteilt, dass eine Beratung der Leiter der Handelsabteilungen und der Handelsvertretungen der ČSSR im Ausland vorbereitet wird, die in Prag stattfinden soll.
In einem Telegramm der Parteiorganisation der KSČ im MfAA der ČSSR an die Parteiorganisation der ČSSR-Botschaft in der DDR wurde ebenfalls mitgeteilt, dass der 14. Parteitag vorbereitet wird und dass insbesondere der Parteitag der KP der Slowakei9 die Durchführung des 14. Parteitages gefordert habe. Dabei wurde auf die Rede des Genossen Husák10 verwiesen. (Unsererseits wird eingeschätzt, dass dieses Telegramm nicht mehr in so aggressivem Ton gehalten ist wie das vom 29.8.1968. Es wurde darin viel von »Realitäten« gesprochen, ohne dass allerdings konkret gesagt wird, was zur raschen Stabilisierung der Lage in der ČSSR getan werden soll.)
Wie in diesem Zusammenhang bekannt wurde, seien die sogenannten progressiven Kräfte (offenbar sind damit die »liberalen« Kräfte gemeint) im MfAA und in der Parteiorganisation des MfAA in Prag verblieben; sie hätten weiterhin einen entsprechenden Einfluss.
Am 27.8.1968 wurde durch die Botschaft der ČSSR eine Postwurfsendung an eine Reihe von in der DDR tätigen ČSSR-Bürgern versandt, in der – ohne konkreten Zeitbezug – zu den Vorgängen in der ČSSR Stellung genommen wird. (Anlage 1 und 2)
In der Nacht vom 30. zum 31.8.1968 wurden durch das MfS im Bereich der Staatsgrenze DDR – ČSSR – auf dem Gebiet der ČSSR – insgesamt 24 Hetzlosungen beseitigt. Das betrifft die Grenzabschnitte
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Grenzübergangsstelle Schmilka – Hřensko,
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Grenzübergangsstelle Zinnwald,
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Raum Großschönau,
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Raum Johanngeorgenstadt und
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Raum Wehrsdorf.
Inhaltlich richteten sich diese, z. T. in überdimensionaler Form an Häusern, auf Dächern, an Eisenbahnwaggons oder an Fabriken angebrachten Hetzlosungen gegen
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die Truppenverbände der Warschauer Vertragsstaaten, vereinzelt, indem eine Gleichsetzung mit den faschistischen Okkupanten erfolgte;
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die Freundschaft mit der DDR und der Sowjetunion.
In einem Fall wurde der Bürgermeister der ČSSR Ortschaft Dolní Poustevna durch unseren Mitarbeiter auf die Beseitigung einer Hetzlosung an einer Hauswand hingewiesen. Von ihm wurde erklärt, dass er die Beschlüsse von Bratislava kennen und danach handeln würde. Auf seine Veranlassung wurde die Hetzlosung von tschechischen Kräften beseitigt.
Ähnlich verhielten sich tschechische Eisenbahner im Abschnitt Großschönau, die auf eine entsprechende Forderung unsererseits einen mit Hetzlosungen beschrifteten D-Zug-Wagen vom Bahngelände entfernten.
Über die zu diesem Zeitpunkt an den militärischen Objekten im Grenzgebiet der ČSSR noch vorhandenen Hetzlosungen wurde das sowjetische Oberkommando in Milovice verständigt, welches die Beseitigung der Hetzlosungen zugesichert hat. Bisher wurden jedoch nur die gegenüber der DDR-Ortschaft Bärenstein befindlichen Hetzlosungen beseitigt. Vier Hetzlosungen befinden sich nach wie vor im Bereich einer tschechischen Kompanie in Höhe der Ortschaft Lochmühle, zwischen Hirschberg und Deutschneuendorf. Sollte die Entfernung dieser Hetzlosungen von sowjetischer Seite nicht durchgesetzt werden, wird entschieden, inwieweit durch eigene Kräfte die Beseitigung der Schmierereien erfolgt.
Die durch die Kräfte des MfS durchgeführte Aktion verlief ohne besondere Vorkommnisse. Vonseiten tschechischer Organe wurde den Maßnahmen keinerlei Widerstand entgegengesetzt.
Die Information darf aus Gründen der Sicherheit der Quelle nicht öffentlich ausgewertet werden.
Anlage 1 zur Information Nr. 966/68
[Postwurfsendung 1 der ČSSR-Botschaft]
Teure Genossen!
Die Parteiorganisation der KSČ in Berlin stimmt voll und ganz den Beschlüssen des 14. Außerordentlichen Parteitages der KSČ11 zu. Wir erkennen voll die neu gewählten Mitglieder des Präsidiums des ZK der KSČ und ihre Leitung an, die das alleinige legale Recht haben, im Namen der Partei für Ordnung zu sorgen.
Parteiaustritte einzelner Genossen oder Parteigruppen aufgrund der Beschlüsse des 14. Parteitages verurteilen wir als Schädlinge und Parteigegner in dieser zeitweilig schweren Situation.
Die Parteiorganisation der KSČ stimmt nicht der Forderung nach Ausrufen einer neutralen ČSSR zu. Im Grunde stehen wir für eine demokratische Verwirklichung des Januarplenums der KSČ, für die Verwirklichung des Aktionsprogramms der Partei, für eine legale Offenheit vonseiten des Präsidenten der Republik, mit dem Genossen Ludvík12 Svoboda, [dem] Vorsitzenden der Regierung Černík, [dem] Vorsitzenden der Nationalversammlung Smrkovský und [dem] Vorsitzenden der KSČ A. Dubček.
Genossen, haltet aus und verbleibt auf Eurem Arbeitsplatz. Bleibt ruhig und gelassen. Wartet auf Anweisung unserer legalen Führung. Unterstützt die Beschlüsse des 14. Parteitages der KSČ, vereinigt alle tschechischen Menschen – überzeugt alle, dass sie ihre ganze Unterstützung geben.
Unsere Berliner Parteiorganisation fordert Zustellung wahrer Informationen von der Situation in der ČSSR. Sie wollen über das Geschehen in den Kollektiven informiert werden. Steht hinter Eurer Gesinnung und unterstützt Euren Vorsitzenden persönlich.
Allen Genossen Gesundheit | Pidhaniuk | Vorsitzender der Partei
Anlage 2 zur Information Nr. 966/68
[Postwurfsendung 2 der ČSSR-Botschaft]
Am 22. August war der 14. Außerordentliche Parteitag einberufen worden. Es waren 945 gewählte Delegierte, die alle erschienen sind.
Die ČSSR ist ein souveräner und selbstständiger sozialistischer Staat, der sich um das Glück des Volkes bemüht. Dieser Zustand wurde jedoch am 21.8. durch den Einmarsch der fünf Armeen des Warschauer Vertrages auf Befehl einiger führender Politiker zerstört.
Wie bekannt wurde, haben der Präsident, die Regierung, die Nationalversammlung, die Nationale Front nicht um Hilfe angesucht.
In der ČSSR gab es keine Konterrevolution und das Land wollte nicht vom Weg des Sozialismus abgehen. Alle Probleme waren innere Angelegenheiten. Das zeigte die Wahl des Genossen Dubček. Dies zeigte sich bei der Realisierung des Marxismus-Leninismus und bei der Stärkung der sozialistischen Demokratie. Die ČSSR dachte nicht daran, die Freundschaft und Zusammenarbeit mit den sozialistischen Ländern und Völkern zu stören. Diese Zusammenarbeit wurde nur zerstört durch die militärische Okkupation der fünf Länder.
Einige Führer der Partei und Regierung waren eben gegen die richtige Linie. Sie isolierten sich von der Masse, d. h. administrierten nur. Darum wurde sofort ihre Entlassung aus der Partei- und Staatsführung gefordert, da sie unmöglich waren in ihrer Funktion. Es ist schwer, das Volk auf eine Linie zu bekommen, damit Einheit und Geschlossenheit triumphieren.
Wir sind weder für das militärische Eingreifen noch für die Konterrevolutionäre, die sich gern mit den Okkupanten schlagen würden.
Der Außerordentliche Parteitag beschloss nur Genosse Präsident Svoboda als Oberhaupt der ČSSR. Zur Nationalversammlung J. Smrkovský, als Vorsitzenden der Regierung Černík und weitere wie A. Dubček vonseiten der Partei. Wir erkennen verschiedene Mitglieder der alten Parteiführung nicht an, da sie in der gegenwärtigen Lage ihre neue Rolle nicht meistern können.
Selbstverständlich sind wir für den Abzug des Militärs. Sollte die Forderung nach Abzug des Militärs binnen 24 Stunden nicht erfolgen, müsste Genosse Dubček das Volk aufrufen, am 23. August 12.00 Uhr einen Generalstreik durchzuführen.
Sollten die Bedingungen nicht eingehalten werden, müsste man die Neuwahl des Vorsitzenden der Partei in Erwägung ziehen.