Vorgänge in der Botschaft der ČSSR in Berlin und Lage in Prag
11. September 1968
Einzelinformation Nr. 1024/68 über Vorgänge in der Botschaft der ČSSR in Berlin und über die Lage in Prag
Wie dem MfS zuverlässig bekannt wurde, sandte am 7.9.1968 der Botschafter der ČSSR in Berlin ein Telegramm an den amtierenden Außenminister Pleskot,1 in dem er zum Ausdruck brachte, dass durch die Ereignisse in der ČSSR die Beziehungen der Botschaft zu den Organen der DDR abgekühlt und die Möglichkeiten für die Tätigkeit der Botschaft äußerst eingeschränkt seien. Der Botschafter schlug vor, die Beziehungen zur DDR weiter auf ökonomischem Gebiet zu entfalten, jedoch auf politischem und kulturellem Gebiet keine Initiativen zu ergreifen.
Am 10.9.1968 sandte Pleskot Telegramme an alle Botschafter der ČSSR in den Warschauer Vertragsstaaten. Er wies an, alles zu unternehmen, um die freundschaftlichen Beziehungen zu diesen Staaten wiederherzustellen.
Botschaftsrat Frajt2 sandte ein Telegramm an das MfAA in Prag, in dem er behauptete, die normale Tätigkeit des Hauses der tschechoslowakischen Kultur in Berlin sei bedroht, da ohne Zustimmung des MfAA keine Vervielfältigungen von Materialien der ČSSR vorgenommen werden dürften. Er schlug vor, im Haus der DDR-Kultur in Prag Gegenmaßnahmen anzuweisen.
Smolík3 berichtete weiter nach Prag, dass in der letzten Zeit keine Briefe von DDR-Bürgern mit Solidaritätsbezeugungen in der Botschaft eingetroffen seien. Außerdem seien in der letzten Zeit kaum noch Besuche von DDR-Bürgern in der Botschaft oder Telefonanrufe erfolgt.
Nach Auffassung Smolíks sei dieser Zustand durch entsprechende Maßnahmen der DDR-Organe eingetreten. Stattdessen würden seit einigen Tagen in der Botschaft zahlreiche Briefe eintreffen, in denen die Aktion der Warschauer Vertragsstaaten in der ČSSR4 begrüßt wird. Smolík glaubt, dass dies ein Ausdruck einer gesteuerten Aktion der DDR-Organe ist.
Der ČSSR-Botschafter in Berlin teilte in einem weiteren Telegramm dem MfAA in Prag mit, dass er während des Empfangs anlässlich des bulgarischen Nationalfeiertages in Berlin Gelegenheit hatte, mit dem rumänischen Botschafter in der DDR zu sprechen. Der Botschafter habe ihm mitgeteilt, dass auch die rumänische Botschaft gegenwärtig schwere Arbeitsbedingungen in der DDR vorfinde. Der Botschafter selbst habe keine Beziehungen mehr zu führenden Repräsentanten der DDR.
In einem anderen Telegramm teilte der ČSSR-Botschafter in Berlin dem MfAA in Prag mit, dass die chinesische Botschaft in Berlin sich sehr aktiv darum bemühe, über die rumänische Botschaft engere Kontakte zur ČSSR-Botschaft herzustellen.
Dem MfS wurden weitere Angaben über die Lage in Prag bekannt:
Während bis zum 4.9.1968 in allen Stadtteilen Prags zahlreiche feindliche Losungen, Schmierereien auf Straßen, auf Häuserwänden, an Schaufenstern usw. sowie Parolen hetzerischen Inhalts festzustellen waren (sie richteten sich besonders gegen die Anwesenheit der Truppen), seien in den letzten Tagen diese Losungen und Parolen systematisch entfernt worden. Sogar Polizisten hätten dazu aufgefordert, Schmierereien zu beseitigen. Dafür erschienen in »kulturvoller Aufmachung« in Schaufenstern usw. immer mehr sogenannte Treue-Erklärungen für Dubček5 und Svoboda.6
Am 1.9. organisierten konterrevolutionäre Elemente auf dem Wenzelsplatz eine sogenannte Ehrenwache für die Konterrevolution, an der sich sogar Angehörige der ČSLA7 beteiligten. Die Organisatoren waren vorwiegend verwahrloste Jugendliche. Die Polizei griff in keiner Weise ein. Sie duldete auch Zusammenrottungen verwahrloster Jugendlicher, die bis vor einigen Tagen in Stärke von 30 bis 40 Personen organisiert stattfanden. Obwohl die Polizei ihre Streifentätigkeit verstärkte, griff sie im gesamten Stadtgebiet nicht gegen Provokationen ein.
Folgende Erscheinungen sind für die Lage in Prag charakteristisch:
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Die Flaggen und Fahnen sind auf Halbmast gesetzt (auch bei Kasernen).
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Die Bürger tragen am Revers Fähnchen der ČSSR mit Trauerflor.
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Angehörige der ČSLA übermalen ihre Koppelschlösser mit der Nationalflagge der ČSSR.
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An vielen Pkw und Lkw sind Flaggen der ČSSR angebracht worden (auch an Wagen der Armee).
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In ganz Prag sei keine einzige rote Fahne zu sehen.
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Von Lokomotiven und Eisenbahnwaggons ist der Stern über den Staatswappen entfernt worden.
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In Geschäften und anderen Dienstleistungsobjekten werden Bürger der DDR unfreundlich bedient, man begegnet ihnen mit einer feindseligen Haltung.
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In der DDR-Botschaft in Prag und im DDR-Kulturzentrum kündigen ständig Angestellte der ČSSR.
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Die Fernschreibleitung und Telefonverbindung von ADN waren am 6.9. gestört, die Berichte mussten von der Botschaft aus abgesetzt werden.
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Die Nachrichtenbüros der DDR erhalten ständig anonyme Anrufe mit der Aufforderung, entweder die ČSSR zu verlassen oder »wahrheitsgetreu« zu berichten.
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Durch den Postzeitungsvertrieb und in Buchhandlungen werden konterrevolutionäre Broschüren und Zeitschriften in mehreren Sprachen öffentlich angeboten und verkauft (ebenfalls Bilder von Masaryk8 und Beneš9).
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Verwahrloste Jugendliche sammelten Spenden für »ihre Opfer«. Die Polizei schritt nicht ein.
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Jugendliche bemühen sich, offenbar in provokatorischer Absicht, mit sowjetischen Soldaten und Offizieren in Kontakt zu kommen, um über die Probleme der Anwesenheit der Truppen in der ČSSR zu diskutieren.
In großen Teilen der Bevölkerung Prags sind Unklarheiten über die Notwendigkeit des Einmarsches der Truppen und über die Gefahren der Konterrevolution festzustellen. Viele Bürger beschweren sich, dass sie über diese Fragen völlig ungenügend durch Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen informiert werden.
Ein progressives KSČ10-Mitglied, dass im Ministerium für Schwermaschinenbau der ČSSR eine verantwortliche Funktion ausübt und Funktionär der Volksmiliz dieses Ministeriums ist, schätzte die Lage in der Volksmiliz – ohne einen vollständigen Überblick geben zu können – aus seiner Sicht wie folgt ein:
Bei der Volksmiliz11 sind große Unklarheiten über die Notwendigkeit des Einmarsches der verbündeten Truppen in die ČSSR vorhanden. Außerdem wird völlig ungenügend über die Tätigkeit der konterrevolutionären Kräfte gesprochen. Die Angehörigen der Volksmiliz verlangen von der Parteiführung eine klare Argumentation zu diesen Fragen. Nach Auffassung dieses Genossen stehe die Volksmiliz auf der Seite der Sowjetunion.
Der Minister für Schwerindustrie der ČSSR, Ing. J. Krejčí,12 sei bemüht, die wirtschaftliche Struktur Jugoslawiens in der ČSSR zu kopieren. Der 1. Stellvertreter des Ministers, Šimonovský, sei ein der Sache des Sozialismus treu ergebender Funktionär. Dies treffe auch auf den Vorsitzenden der Maschinenbau-Kommission des RGW, Steing, sowie den Direktor für den Produktionsbereich, Nádeník, zu.
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