Vorgänge in der Botschaft der ČSSR in der DDR
6. November 1968
Einzelinformation Nr. 1235/68 über einige Vorgänge im diplomatischen Dienst der ČSSR, besonders in der ČSSR-Botschaft in Berlin nach dem 9. Plenum des ZK der SED
Wie dem MfS zuverlässig aus Kreisen der ČSSR-Botschaft in Berlin bekannt wurde, kam es nach der Veröffentlichung des Berichtes des Politbüros1 an das 9. Plenum des ZK der SED2 sowie der Rede3 des Genossen Walter Ulbricht4 – insbesondere zur Einschätzung der Entwicklung in der ČSSR5 – in der Botschaft zu aufgeregter Aktivität. Der Botschafter berief sofort eine Beratung der Diplomaten ein, auf der u. a. erklärt wurde, dass dies der Höhepunkt sei und dass es so nicht weitergehen könne.6
In einem Telegramm wurden die wichtigsten Passagen des Berichts des Politbüros und der Rede des Genossen Ulbricht an das MfAA in Prag weitergeleitet.
Folgende Vorschläge wurden in diesem Telegramm unterbreitet:
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Es sollte ein scharfer Protest gegen diese Ausführungen zur Entwicklung in der ČSSR erhoben werden.
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Die KPdSU sollte um Beistand gegen die »Angriffe« der SED gebeten werden.
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Botschafter Kolář7 sollte zu Konsultationen nach Prag gerufen werden.
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Eine Teilnahme des Genossen Hegen8 am bevorstehenden Plenum des ZK der KSČ9 sollte verhindert werden. (Wie bekannt wurde, will das MfAA in Prag Schritte einleiten, um die im Widerspruch zur politischen Linie stehende Mission des Genossen Hegen in Prag zu beenden.)
Botschafter Kolář wurde vom MfAA angewiesen, einen analytischen Bericht über das 9. Plenum des ZK der SED auszuarbeiten und umgehend nach Prag zu senden. In diesem Bericht sollen auch die Reden des Genossen Ulbricht vor den Absolventen der Militärakademien und vor der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft mit eingeschätzt werden. Ferner wurde der Botschafter aufgefordert, einen Vorschlag zu unterbreiten, wie auf diese Ausführungen regiert werden sollte.
Die Botschaft in Berlin wurde außerdem angewiesen, den nichtveröffentlichten Teil der Rede10 des Genossen Gysi11 auf der 13. Tagung des Staatsrates der DDR zu beschaffen. Als Grund dafür gab das MfAA in Prag an, es müsse angenommen werden, dass anlässlich einer kulturpolitischen Konferenz in Sofia der Kulturminister der ČSSR, Galuška,12 mit dem Genosse Gysi zusammentreffen werde.
Weiterhin erhielt die Botschaft die Weisung vom MfAA, sehr genau zu verfolgen, was in der DDR über die Lage in der ČSSR veröffentlicht wird. Nach Möglichkeit sollten solche Artikel, Beiträge usw. im Wortlaut nach Prag gesandt werden.
Außerdem hat die Botschaft auf Weisung des MfAA in Prag ausführlich über die Stellung der SED zu den Treffen der kommunistischen Parteien zur Vorbereitung einer Weltberatung zu berichten (besonders zum bevorstehenden Treffen am 18.11.1968 in Budapest).13
In Telegrammen an die Botschaften der ČSSR in Berlin, Wien und Paris wurde gefordert, umgehend die Charakteristiken der Journalisten dieser Länder, die in der ČSSR tätig sind, nach Prag zu senden. (Die Militärmission in Westberlin14 erhielt die gleiche Weisung.) Begründung: Diese Einschätzung hätte großen Einfluss auf die Entscheidung über die weitere Akkreditierung dieser Journalisten.
Wie dem MfS weiter bekannt wurde, haben sich im Zusammenhang mit von der sowjetischen Botschaft in Berlin versandten Broschüren über die Ereignisse in der ČSSR – offensichtlich handelt es sich hierbei um das bekannte Weißbuch15 – die Fronten zwischen den negativen und progressiven Kräften der ČSSR-Botschaft weiter verschärft. Bei Auseinandersetzungen kam es zu scharfen antisowjetischen Äußerungen negativer Kräfte sowie zu starken Anfeindungen der progressiven Kreise der Botschaft.
Aus Kreisen der ČSSR-Militärmission in Westberlin wurde bekannt, dass vom Leiter der deutschen Abteilung des MfAA in Prag Mitte Oktober eine Instruktion gegeben wurde, in der es u. a. heißt, dass ab sofort alle Probleme, die mit der »deutschen Frage« zusammenhängen, mit den Verbündeten beraten werden sollen. Die ČSSR-Außenpolitik werde sich weiter gegen den westdeutschen Imperialismus, besonders den Revanchismus und die Notstandsgesetzgebung, sowie für die Anerkennung der Realitäten in Europa einsetzen.
In Fragen der Kontakte der ČSSR nach Westdeutschland wurde folgende Linie angewiesen:
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Die Kontakte mit den Repräsentanten der politischen Parteien in Westdeutschland und Westberlin werden nicht weitergeführt.
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Die kulturellen Verbindungen nach Westdeutschland und Westberlin werden aufrechterhalten.
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Auch die wissenschaftlichen Verbindungen und die Kontakte zu den »fortschrittlichen Gewerkschaftsorganisationen« werden fortgesetzt.
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Die Forderungen der ČSSR auf einen Ausgleich für durch den Zweiten Weltkrieg entstandene Schäden bleiben bestehen. (Die Militärmission in Westberlin und die Handelsvertretung in Frankfurt/M. sollen in dieser Frage ständig weiter aktiv sein.)
In Fragen der Kontakte der ČSSR nach Westberlin wurde (ergänzend) folgende Linie angewiesen:
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Ausgangspunkt der Haltung der ČSSR zu Westberlin ist die Westberlin betreffende Aussage des 1967 mit der DDR abgeschlossenen Freundschafts- und Beistandspaktes.
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Die Militärmission soll Kontakte mit »fortschrittlichen Gewerkschafts- und Jugendorganisationen« weiter pflegen.16
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Kontakten mit offiziellen Stellen Westberlins ist nicht auszuweichen, sofern sie nicht im Widerspruch zur Politik der ČSSR stehen.
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Der wissenschaftlich-technischen Entwicklung in Westberlin ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
Nach noch unbestätigten Meldungen soll das MfAA in Prag de facto nach wie vor von Hájek17 geleitet werden. Hájek sitze im Institut für Internationale Politik und Ökonomie. Es heißt, alle Abteilungs- und Sektorenleiter des MfAA würden Hájek Vorschläge für beabsichtigte Maßnahmen zur Entscheidung vorlegen.
Zusatz nur bei Genossen Ulbricht
Unsere Quelle empfiehlt zu prüfen, ob es zweckmäßig sei, seitens des ZK der SED mit dem Parteisekretär der ČSSR-Botschaft in Berlin, Genossen Pidhaniuk, die Verbindung wieder aufzunehmen, um auf diesem Wege Angaben aus dem Apparat des ZK der KSČ zu erhalten. (Genosse Pidhaniuk gehört zu den progressiven Kräften der Botschaft.)
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