Vorgänge in der Botschaft der ČSSR in der Hauptstadt der DDR
31. August 1968
Einzelinformation Nr. 959/68 über Vorgänge in der Botschaft der ČSSR in der Hauptstadt der DDR
Wie dem MfS zuverlässig bekannt wurde, wird zzt. in der Botschaft der ČSSR (mit Ausnahme der Konsularabteilung, die den normalen Konsularbetrieb aufrechterhält), kaum gearbeitet. Stattdessen wird heftig über die militärische Aktion der Warschauer-Pakt-Staaten in der ČSSR1 diskutiert. Dabei war Folgendes festzustellen:
Nach dem 21.8.1968 begann sich im Prozess der sofort einsetzenden, z. T. feindlich geführten Diskussionen ein Differenzierungsprozess unter den Mitarbeitern der Botschaft zu entwickeln, der im Wesentlichen dazu führte, dass sich zwei Hauptmeinungen (faktisch zwei Gruppen) herausbildeten. In den letzten Tagen verstanden es die progressiven Kräfte der Botschaft, die von Anfang an einen realistischen Standpunkt zur Notwendigkeit der militärischen Aktion der Warschauer-Pakt-Staaten eingenommen hatten, immer besser in die Offensive zu gehen.
Besonders nach dem Bekanntwerden des Moskauer Kommuniqués griffen sie die rechten Kräfte offen an und vertraten den Standpunkt, dass dieses Kommuniqué durchgesetzt werden muss und dass es notwendig ist, mit der Sowjetunion, der DDR und den anderen sozialistischen Ländern ehrlich zusammenzuarbeiten.
Die progressiven Kräfte werden von Botschaftsrat Mrázek (zuständig für Wirtschaftsfragen) geführt. Zu ihnen sind ferner die Genossen
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Marek (ein Mitarbeiter von Botschaftsrat Mrázek),
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Rejlek (I. Sekretär der Botschaft),
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Pitanjuk (vom ZK der KSČ2 eingesetzter Parteisekretär),
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Růžička (III. Sekretär, zuständig für Kulturarbeit) und
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Vorek (Kraftfahrer der Konsularabteilung)
zu zählen. Der Genosse Kraus wird als schwankend eingeschätzt, der jedoch den Anschluss an die progressiven Kräfte zu suchen scheint.
Am konsequentesten tritt Mrázek auf. Rejlek nimmt auch eine positive Haltung ein, möchte aber nicht sehr oft in Diskussionen verwickelt werden. Růžička ist noch vorsichtig. Er ist Mitglied der Parteileitung an der Botschaft und unterstützt im Wesentlichen die Auffassungen Mrázeks. Pidhaniuk (charakterlich sehr ruhig, kann nicht gut sprechen) verurteilt die revisionistische Linie der Führung der KSČ).
Die rechten, negativen Kräfte erheben unmittelbar nach dem 21.8. die Forderung, die tschechoslowakische Volksarmee gegen die Verbände der Warschauer-Pakt-Staaten einzusetzen und Vorbereitungen zu treffen, um in der ČSSR jegliche Maßnahmen zur Einschränkung der Pressefreiheit zu verhindern bzw. unwirksam zu machen. Zu diesen Kräften sind der Botschafter Kolář3 sowie die Mitarbeiter
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Müller (II. Sekretär),
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Košíček (I. Sekretär),
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Tokar (Attache)
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Štěpánek (Leiter der Konsularabteilung),
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Bories (Journalist, sehr feindlich eingestellt) und
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Vera Catkova (Kassenleiterin)
zu zählen.
Die Catkova und ihr Ehemann, der vom Haus der tschechoslowakischen Kultur aus Verbindung zum Westberliner Senat (Kultur) unterhält, stehen völlig rechts und nehmen in hasserfüllten Worten gegen die Sowjetunion und die DDR Stellung.
Diese Gruppe führt seit einigen Tagen Beratungen durch, ohne die progressiven Kräfte der Botschaft hinzuzuziehen. Ein solches Vorgehen war bis Ende voriger Woche noch nicht festzustellen.
Außerdem haben Bories und Smolík eine Aufstellung gefertigt, in der sie alle Mitarbeiter der Botschaft in »rechts« und »links« eingruppiert haben.
Es ist damit zu rechnen, dass die kommenden Auseinandersetzungen zu einer weiteren Fortsetzung des Differenzierungsprozesses in der Botschaft führen werden und dass weitere Angestellte sich den progressiven Kräften anschließen werden.
Genosse Mrázek wird als ein Politiker eingeschätzt, der in der Lage ist, die Funktion eines Botschafters auszuüben oder ein hohes Amt im Staatsapparat zu übernehmen.
Wie weiter zuverlässig bekannt wurde, bezeichnete der Militärattaché der Botschaft, Oberst Kisa, die Maßnahme der Warschauer-Pakt-Staaten als »Aggression«. Unter Kommunisten sei eine solche Maßnahme undenkbar und fehl am Platz. Kisa gab er zu, dass die Parteiführung unter Dubček6 zu großzügig war und den konterrevolutionären Kräften zu viel Spielraum gelassen hatte. Diese Kräfte hätten zwar »Dubček« gesagt, in Wahrheit aber »Kiesinger«7 gemeint. Die Führung der KSČ und die Regierung der ČSSR hätten nach seiner Auffassung den Weg Jugoslawiens und Rumäniens8 gehen sollen, wo die antisozialistischen Kräfte stärker unter Kontrolle gehalten würden. Die Entwicklung in diesen Ländern sollte das Vorbild für die ČSSR darstellen.
Wie aus der ČSSR zuverlässig bekannt wurde, ist im öffentlichen Leben, besonders hinsichtlich der Arbeitsaufnahme, der Ingangsetzung des Verkehrs und der Versorgung der Bevölkerung, eine zunehmende Konsolidierung festzustellen. Dies sei jedoch noch nicht für das politische Leben zutreffend. Eine besonders negative Haltung sei vor allem in den Kreisen Ústí, Liberec, Most, Chonutare und Dečin festzustellen.
Smrkovský9 habe im Präsidium der Nationalversammlung – neben dem für die Öffentlichkeit bestimmten Aufruf – eine Rede mit besonders extremistischen Forderungen gehalten.
Für den demissionierten ČSSR-Innenminister Pavel10 sei der bisherige 1. Sekretär des Bezirkes Mittelböhmen der KSČ und Mitglied des Präsidiums des ZK der KSČ, Jan Pelnář,11 in diese Funktion berufen worden.
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