Vorgänge in der ČSSR
30. August 1968
Einzelinformation Nr. 952/68 über Vorgänge in der ČSSR
Wie dem MfS zuverlässig bekannt wurde, hat die Parteiorganisation der KSČ1 im MfAA der ČSSR an alle Parteiorganisationen in den Auslandsvertretungen der ČSSR Telegramme gesandt, in denen u. a. Folgendes zum Ausdruck gebracht wird:
Die Ergebnisse der Verhandlungen in Moskau zeigen, dass diese Zusammenkunft nicht unter Gleichberechtigten stattgefunden hätte. Dadurch, dass Moskau als Verhandlungsort bestimmt wurde, seien Partei- und Staatsführung der ČSSR vom Volke getrennt worden. Die Parteiorganisation des MfAA sei erbittert über die Verletzung der Souveränität der ČSSR und über den groben Anschlag auf das Vaterland.
Es heißt weiter, dass die Parteiorganisation des MfAA jedoch die jetzigen Realitäten, wie sie von Dubček2 formuliert wurden,3 als verbindlich für alle Genossen des MfAA anerkenne. Die Forderungen Dubčeks nach Einheit des Volkes werden unterstützt. Der XIV. Parteitag der KSČ4 wird als legal anerkannt. Es wird verlangt, dass sich die Delegierten des Parteitages mit den Ergebnissen der Moskauer Verhandlungen beschäftigen. Die Telegramme schließen mit dem Dank des MfAA für das Verhalten der Kommunisten in den Auslandsvertretungen, besonders für die Unterstützung Dubčeks.
Seit dem 29.8. würden durch das MfAA der ČSSR die Visen für westliche Journalisten, die sich gegenwärtig in der ČSSR aufhalten, verlängert. (Eine konkrete Bestätigung dieser Meldung liegt noch nicht vor.)
Am 29.8. hat der Chef der Miliz (verantwortlich für öffentliche Sicherheit in Prag und Mitglied des illegalen ZK) Rybář5 mitgeteilt, dass am 30.8. erneut eine Tagung des alten ZK mit den Delegierten des XIV. Parteitages stattfinden soll, auf der Veränderungen in der Parteiführung und in der Regierung erfolgen sollen. (Nach offiziellen Verlautbarungen soll diese Tagung, an der nur das legale ZK teilnehme, erst am 31.8. stattfinden.)
Am 29.8. soll Innenminister Pavel6 bei Svoboda7 gewesen sein, um eventuell seinen Rücktritt zu erklären.
Das Parteikomitee des MdI habe im Dienstgebäude der Burgwache getagt und eine Stellungnahme von Pavel erwartet. Es ist bis jetzt noch nicht bekannt, ob Pavel eine entsprechende Stellungnahme abgegeben hat.
Aus der I. Verwaltung der tschechoslowakischen Sicherheitsorgane (Aufklärung) wurde bekannt, dass die progressiven Führungskräfte der Sicherheitsorgane, die nach dem Einmarsch der Armeen der Warschauer Paktstaaten die Leitung übernommen hatten, inzwischen wieder von den unter Pavel eingesetzten Führungskräften abgelöst worden seien. Unter Leitung der von Pavel eingesetzten Kräfte habe die Aufklärung ihre Arbeit wiederaufgenommen. Diese Kräfte hätten vonseiten Svobodas, Dubčeks und der Regierung Unterstützung zugesichert erhalten.
Am 29.8., um 16.00 Uhr, habe der ehemalige 1. Stellvertreter der Linie Staatssicherheit des MdI, Saruba, Selbstmord begangen. (Nähere Hinweise über die Gründe liegen noch nicht vor.)
Westliche Journalisten, die sich in der ČSSR aufhalten, unternehmen u. a. in den Räumen Karlovy Vary, Teplice und Bratislava große Anstrengungen, um Einheiten der NVA in der ČSSR ausfindig zu machen. Sie haben die Absicht, Bildberichte und Interviews für westliche Zeitungen und Illustrierte zu bringen.
Die Fluggesellschaft der ČSSR – ČSA – zieht zum alten Flugplatzteil Ruzyně8 um und beabsichtigt, in den nächsten Tagen den Inlandflugverkehr aufzunehmen. Alle ČSSR-Bürger, die bisher bei der Interflugvertretung in Prag arbeiteten, haben ihre Bereitschaft zur Weiterarbeit erklärt. Dasselbe trifft auf Mitarbeiter der ČSSR, die bei der Vertretung der Reisebüros der DDR in der ČSSR beschäftigt sind, zu.
An der Philosophischen Fakultät in Prag herrsche zzt. große Verwirrung. Das Moskauer Kommuniqué werde als Verrat eingeschätzt. Es würden radikale Forderungen gestellt. Am 29.8. fand eine Beratung der Fakultätsleitung über die Aufnahme des Studiums statt. Außerdem wurde eine Versammlung der Jung-Kommunisten durchgeführt. (Näheres ist noch nicht bekannt.)
Nach vorliegenden Hinweisen ist in Prag und den anderen Großstädten der ČSSR festzustellen, dass sich die äußere Lage spürbar beruhigt habe.
Wie weiter zuverlässig bekannt wurde, haben negative Kräfte in der Botschaft der ČSSR in der DDR nach dem 21.8. eine Einschätzung der Mitarbeiter vorgenommen, inwieweit sie auf der Seite der revisionistischen Kräfte stehen bzw. Anzeichen einer progressiven Haltung erkennen lassen.
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