Vorgänge in der Volksrepublik Polen und in der ČSSR
10. März 1968
Einzelinformation Nr. 275/68 über Vorgänge in der Volksrepublik Polen und in der ČSSR
Am 8.3.1968 kam es auf dem Universitätsgelände in Warschau zu einer Demonstration von 4 000 bis 5 000 Studenten, die die Rehabilitierung von zwei wegen Beteiligung an antisowjetischen Ausfällen bei der Absetzung des Dramas »Dziady«1 gemaßregelten Kommilitonen2 forderten.3 Als die Miliz die unangemeldete Demonstration zerstreuen wollte, forderten Sprechchöre der Studenten »Freiheit«. Auf entrollten Transparenten sei die Wiederaufführung des Dramas »Dziady« gefordert und Sympathie mit der Haltung der Schriftsteller erklärt worden.4 Im Verlaufe des Sonnabends), den 9.3.1968, kam es in Warschau erneut und zwar diesmal in der Nähe des Elektronischen Instituts der Technischen Hochschule zu größeren Ansammlungen (ca. 3 000–4 000) vorwiegend von Studenten. Zum äußeren Anlass wurde von den Studenten neben dem »Protest gegen die Absetzung des Theaterstückes ›Dziady‹ von Mickiewicz«5 die Auflösung der Demonstration vom Vortage benutzt.
Die zur Auflösung der Ansammlung zum Einsatz kommenden Polizeikräfte wurden von den Studenten mit Steinen beworfen, sodass es zu Auseinandersetzungen und Zusammenstößen zwischen den Studenten und der Polizei kam, in deren Verlauf – westlichen Nachrichtenagenturen zufolge – mit Tränengas und Gummiknüppeln gegen die Studenten, von denen sich ein Teil als Demonstrationszug in Richtung Stadtinneres bewegte, vorgegangen worden sei.6 Von den polnischen Studenten sei u. a. auch »Unterstützung der Liberalisierungsbestrebungen in der ČSSR«7 gefordert worden. Am Abend des 9.3.1968 war die Ruhe und Ordnung wiederhergestellt.8 Der bis hierher geschilderte Verlauf wurde von den Westzeitungen und westlichen Rundfunkstationen in dieser Form wiedergegeben.
Die vom MfS in der Nacht vom 9. zum 10.3.1968 geführten Rücksprachen mit den zuständigen polnischen Sicherheitsorganen ergaben, dass die wesentlichsten Punkte dieser Schilderung der Vorkommnisse den Tatsachen entsprechen. Zzt. gebe es keine Hinweise auf mögliche Ausweitungen. Seitens der polnischen Sicherheitsorgane seien zwar alle Vorkehrungen getroffen, aber es bestehe keine erhöhte Einsatzbereitschaft.
Wie aus vorliegenden Berichten westlicher Korrespondenten ersichtlich, ist es nach dem am 31.1.1968 ausgesprochenen Aufführungsverbot des antirussischen Dramas »Dziady« vom Spielplan des Nationaltheaters Warschau wiederholt zur Kritik aus Kreisen des Schriftstellerverbandes und der Studenten an der Kulturpolitik und den Zensurmaßnahmen des Staates und zu Demonstrationen und anderen Vorfällen gekommen. Auf einem am 29.2.1968 stattgefundenen Kongress der Warschauer Schriftsteller,9 an dem 431 Schriftsteller anwesend gewesen seien, soll von 221 der 35610 an der Abstimmung beteiligten Schriftsteller eine Resolution der »liberalen Opposition« angenommen worden sein, in der die Wiederaufführung des Dramas »Dziady« gefordert, die Zensur und Leitung des kulturellen Lebens als »Willkür« kritisiert und die »immer häufigere Einmischung des Staates in die schöpferische Tätigkeit« zurückgewiesen worden sei.11 Für die von parteitreuen Schriftstellern vorgeschlagene Resolution, in der die Demonstrationen gegen das Aufführungsverbot des Dramas »Dziady« verurteilt wurden, hätten sich nur 124 Schriftsteller ausgesprochen.12 Dieser Kongress, auf dem u. a. auch der aus der Partei ausgeschlossene Philosoph Leszek Kołakowski13,14 zur Solidarität mit den Demonstrationen der Studenten aufrief, habe außerdem die Entsendung einer Solidaritätsbotschaft an die tschechoslowakischen Schriftsteller verlangt.15 Am gleichen Tage, an dem der Schriftstellerkongress tagte, sollen im Gebäude der Warschauer Zensurbehörde von Unbekannten mehrere Rauchkörper gelegt worden sein.16
Zu den Vorgängen in der ČSSR:
In den letzten Tagen und Stunden häuften sich besonders in der Westpresse und im Westrundfunk Meldungen und Gerüchte über Vorgänge in der ČSSR. Sie beinhalteten neben der Flucht von Generalmajor Šejna17 und im Zusammenhang damit u. a. die angeblich bevorstehende Ablösung Novotnýs.18 Laut einer Meldung von Radio Prag begannen am Sonnabend, dem 9.3.1968, Sondersitzungen der örtlichen Parteiorganisationen in der ČSSR, über deren Zielsetzung noch keine zuverlässigen Einzelheiten bekannt sind. Westlichen Nachrichtenagenturen zufolge habe das Präsidium des Prager Parteiausschusses ferner die sofortige Einberufung einer Sitzung des ZK der KSČ19 gefordert.
Eine Konsultation des MfS mit dem zuständigen Sicherheitsorgan der ČSSR in der Nacht vom 9. zum 10.3.1968 ergab, dass es auch in der ČSSR selbst in letzter Zeit einige Gerüchte und Spekulationen in dieser Richtung (Ablösung Novotnýs) gibt. Unter anderem treten sie besonders im Zusammenhang mit der Flucht Šejnas auf, gegen den entsprechende Maßnahmen eingeleitet worden waren. Er sollte wegen Betrug und Unterschlagung dem Gericht übergeben werden. Kritik wird in der ČSSR daran geübt, dass der Generalprokurator den Antrag auf Aufhebung der Immunität20 Šejnas erst am 21.2.1968 gestellt habe, obwohl ihm dessen Straftaten schon seit dem 27.1.1968 bekannt gewesen seien. Außerdem wurden Gerüchte bekannt, Verteidigungsminister Lomský21 sei von seiner Funktion entbunden worden und soll eine Stellung in der Organisation des Warschauer Vertrages übernehmen. Bis jetzt sei aber eine Ablösung weder Novotnýs noch Lomskýs erfolgt. Hartnäckig halte sich auch das Gerücht, der Sekretär des ZK der KSČ Hendrych22 sei tot.23
Es gebe im Zusammenhang mit diesen Vorgängen aber keinerlei Anzeichen auf besondere Zwischenfälle, Demonstrationen usw., sondern es herrsche eine »ruhige Situation«.
Das MfS weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass seit den Veränderungen in der Führung der KSČ24 und verschiedener Maßnahmen auf innenpolitischem Gebiet bzw. in direkter Anknüpfung an die jüngsten Ereignisse in der ČSSR eine Zunahme von Erklärungen, Presseveröffentlichungen usw. in der ČSSR selbst festzustellen ist. Darin wurde teilweise offen die führende Rolle der Partei angegriffen sowie weitgehende Veränderungen in der Partei- und Staatsführung und noch umfassendere sogenannte Liberalisierungsmaßnahmen gefordert.
Besonders hervorzuheben sind Stellungnahmen von Intellektuellen, vor allem von Schriftstellern der ČSSR, die aufgrund einer Umfrage der neugegründeten Wochenzeitschrift »Literární listy«25 abgegeben wurden. Sie reichen in der Hauptsache von Forderungen nach größerer »Freiheit« (zumindest wie in der kapitalistischen Tschechoslowakei), sogenannten freien Wahlen und einer Opposition, über Forderungen nach »Liquidierung des Machtmonopols« und der Sicherung des Führungsanspruchs der Intelligenz, bis zu antisowjetischen Stellungnahmen, Forderungen nach »aktiver Neutralität« und einem tschechoslowakischen sozialistischen Weg.
Prager Zeitungen haben in zunehmendem Maße Beiträge und Briefe veröffentlicht, in denen eine Verschiebung der Wahlen zu den örtlichen Nationalausschüssen (bisheriger Termin 19.5.1968) gefordert wird. Die Jugendzeitung »Mladá Fronta«26 veröffentliche einen Brief der »Werktätigen des Betriebes TESLA«27 (Liberec) an die Nationalversammlung und an das ZK der KSČ, in welchem eine außerordentliche Tagung der Nationalversammlung gefordert wird. Das Parlament soll beschleunigt über die Abberufung der Personen aus Staatsfunktionen beraten, die eine direkte Verantwortung für die »bisherigen negativen Erscheinungen« in der ČSSR tragen. Die gleiche Zeitung hatte die »Meinungsunterschiede« in Budapest28 hervorgehoben und Äußerungen von Vertretern der Westpresse wiedergegeben, die die Rede des Genossen Honecker als »die härteste« bezeichneten.29
In der »Studentenzeitschrift« wurde die Gründung eines Studentenverbandes gefordert. Westagenturen hatten berichtet, dass die Studenten die Wahl »eigener Vertreter« durchsetzen und sich dabei westlicher Wahlkampfmethoden bedienen wollen.
Im Zusammenhang mit den Vorgängen in der VR Polen und in der ČSSR wurden vom MfS alle notwendigen Maßnahmen eingeleitet und die Einsatzbereitschaft und Wachsamkeit verstärkt. Bis jetzt gibt es auf dem Gebiet der DDR keine Anzeichen für Parallel- oder Sympathiekundgebungen oder für ähnliche Bestrebungen. Lediglich in einzelnen als schwankend bekannten Gruppen unter Kulturschaffenden und Studenten, die unter Kontrolle stehen, wurde festgestellt, dass sie sich untereinander zum Teil auf diese Vorgänge aufmerksam machen und am Erhalt entsprechender Nachrichten interessiert sind.