Vorhaben einiger Jugendlicher, eine Partei zu gründen
[ohne Datum]
Einzelinformation Nr. 1364/68 über das Vorhaben einiger Jugendlicher des VEB Chemische Werke Buna, einen Club bzw. eine »Partei« zu gründen
Dem MfS wurde bekannt, dass die Jugendlichen
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[Name 1, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1950, wohnhaft Werkwohnheim »Völkerfreundschaft« in Schkopau, beschäftigt als Rohrschlosser im VEB Chemische Werke Buna, Mitglied des FDGB, der FDJ und GST;
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Hedrich, Herbert, geboren [Tag, Monat] 1949, wohnhaft Werkwohnheim »Völkerfreundschaft« in Schkopau, beschäftigt als Betriebsschlosser im VEB Chemische Werke Buna, Mitglied des FDGB, der FDJ und GST;
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Hüneburg, Erich, geboren [Tag, Monat] 1949, wohnhaft Werkwohnheim »Völkerfreundschaft« in Schkopau, beschäftigt als Dreherlehrling1 im VEB Chemische Werke Buna, Mitglied des FDGB, der FDJ und GST;
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[Name 2, Vorname], geboren [Tag, Monat] 1949, wohnhaft Werkwohnheim »Völkerfreundschaft« in Schkopau, beschäftigt als Dreherlehrling im VEB Chemische Werke Buna, Kandidat der SED, Mitglied des FDGB, der FDJ und GST,
am 16.11.1968 in einer zwanglosen, sich zufällig ergebenden Diskussion im Werkwohnheim »Völkerfreundschaft« über die Bildung eines Clubs oder einer »Partei« sprachen.
Die vom MfS zur Klärung dieses Sachverhaltes eingeleiteten Maßnahmen ergaben Folgendes: Am 16.11.1968 trafen sich [Name 1], Hedrich, Hüneburg und [Name 2], ihren Gewohnheiten entsprechend, in der Baracke V 864 des Wohnheimes »Völkerfreundschaft«, um gemeinsam Kaffee zu trinken und sich zu unterhalten. (Die vier genannten Personen verleben in der Regel ihre Freizeit zusammen, die drei letztgenannten Personen bewohnen gemeinsam das Zimmer 11.)
Im Verlaufe des geführten Gesprächs, das ca. 20 Minuten dauerte, wurde auch geäußert, einen Club zu gründen, da ihre Freizeit nicht ausgefüllt sei. Es wäre schön, einem solchen Club nicht nur anzugehören, sondern auch eine leitende Funktion innezuhaben, denn damit »sei z. B. unter anderem der Besitz eines Autos verbunden«. Bei der anschließenden Unterhaltung über einen eventuellen Namen fielen z. B. Vorschläge wie »Saufclub« und »Tierschutzverein«. Da der Club aber auch »eine gut klingende Abkürzung haben sollte« und das bei den genannten Vorschlägen nicht möglich war, wurde die Idee geäußert, anstelle eines Clubs eine »Partei« zu gründen. Daraufhin wurden Vorschläge für den Namen einer neuen Partei geäußert wie z. B. »Neue Kommunistische Partei«; »Demokratische Unabhängigkeitspartei«.
Der Vorschlag zur Gründung einer christlichen Partei wurde abgelehnt, da »von den Anwesenden keiner in der Kirche sei«.
An diesem Gespräch um einen eventuellen Parteinamen beteiligten sich im gleichen Maße alle vier Jugendlichen, bis der [Name 1] den Vorschlag »Nationale Unabhängigkeitspartei Deutschlands« mit der Abkürzung »NUPD« machte, der allen als besonders »klangvoll« erschien.
Anschließend ging es um die »Verteilung« der einzelnen Funktionen wie z. B. Vorsitzender, Stellvertreter und Kassierer. Der [Name 1] äußerte dazu, dass er freiwillig »den Mann im Hintergrund mache, der die Politik der Partei bestimme wie etwa Krupp2 in Westdeutschland die Politik Brandts«.3
Nach diesem Gespräch begaben sich die Jugendlichen zur Gaststätte »X 50«, wobei weder im Verlaufe des Abends noch später über das genannte Problem gesprochen wurde. Auch mit außenstehenden Personen wurde über vorgenanntes Thema nicht gesprochen.
Nach Aussagen der betreffenden Personen können sie keinen anderen Grund dafür angeben, warum gerade über die Neugründung einer »Partei« gesprochen wurde. Das Gespräch habe keinen ernsthaften Charakter getragen, und niemand habe ernstlich an die Verwirklichung eines solchen Vorhabens gedacht. Von keinem der Jugendlichen wurden Schritte in dieser Richtung unternommen; es wurden auch keinerlei Andeutungen über die eventuellen Ziele einer solchen Organisation gemacht.
Die Ausarbeitung eines »Statuts« und einer »Mitgliedskarte« durch den [Name 1] ergab sich wie folgt: [Name 1] fasste den Entschluss dazu am 17.11.1968, als er bei einem Besuch in der Baracke V 951 den Lehrling [Name 3, Vorname] beim Schreibmaschineschreiben antraf. (Der [Name 3] schrieb Schlagertexte ab.) Der [Name 1], der noch nie mit einer Schreibmaschine geschrieben hatte, versuchte daraufhin ebenfalls, einen Schlagertext abzuschreiben. Dabei sei ihm der Gedanke gekommen, auch einmal etwas »für sich« zu schreiben. Aufgrund der Vortagsdiskussion versuchte [Name 1], eine Art »Statut« für die zu gründende »Partei« zu entwerfen. Da er selbst keine Fertigkeiten für das Schreiben besaß, diktierte [Name 1] dem [Name 3], wobei er diesen davon unterrichtete, mit weiteren drei Jugendlichen »eine Partei gegründet zu haben«. Der [Name 4] äußerte sich dazu gar nicht, schrieb aber den Entwurf, der folgende Paragraphen beinhaltet:
§ 1 Wir treten für ein geeinigtes demokratisches Deutschland mit den im Potsdamer Abkommen festgelegten Friedensgrenzen ein.
§ 2 Die Wiedervereinigung mit allen Staaten und Gebieten auf deutschem Territorium soll friedlich vonstatten gehen.
§ 3 Wir wünschen friedliche und freundschaftliche Zusammenarbeit mit allen Völkern der Welt, d. h. Austritt Deutschlands aus allen Militärbündnissen, Verbot aller radikalen, faschistischen und demagogischen Parteien sowie Verstaatlichung der Monopole.
§ 4 Als zukünftiges Staatsgefüge Deutschlands streben wir den Kommunismus an. Er soll jedoch auf demokratischem Wege herbeigeführt werden.
§ 5 Jeder volljährige Bürger deutscher Nationalität kann gleichberechtigtes Mitglied unserer Partei werden.
§ 6 Dieses Statut kann nur durch absolute Mehrheit der Parteimitglieder ergänzt oder geändert werden.
Das Schreiben dieses Statuts dauerte länger, da einmal der [Name 3] nur sehr langsam schreibt, zum anderen der [Name 1] jeden einzelnen Absatz sehr lange überlegen musste, da er mit keiner festen Vorstellung an die Ausarbeitung herangegangen sei.
Die erwähnte »Mitgliedskarte« enthält lediglich wenige Angaben zur Person sowie die Möglichkeit zum Eintragen der Mitgliedsbeiträge.
Über die Gründe für die Ausarbeitung eines solchen Statuts befragt, gibt [Name 1] an, dass er sich allgemein für Politik interessiere und in der Vergangenheit fast immer gesellschaftlich aktiv war (z. B. Funktionen bei den Jungen Pionieren und in der FDJ). Da er darüber hinaus gern Bücher über politische Ereignisse lese, habe er sehen wollen, ob er auch ein »Parteistatut« zustande bringe; er empfände das, als hätte er ein »eigenes Buch geschrieben«. In dem »Statut« selbst sollte nichts »Böses« stehen. Der [Name 1] verwandte nach eigenen Angaben deshalb Redewendungen, die ihm aus Nachrichtensendungen, Zeitungen oder Gesprächen mit Kollegen geläufig waren.
Zu den Parteien und Organisationen, die dem entworfenen »Statut« widersprechen, zähle [Name 1] beispielsweise die CDU und NPD in Westdeutschland, die er als faschistische Parteien bezeichnet; »Mitglieder der SED könnten aber der ›Nationalen Unabhängigkeitspartei‹ angehören«.
Den Statutentwurf hat [Name 1] von sich aus in keiner Weise weiterverbreitet, er wurde lediglich am 18. bzw. 19.11.1968 von dem bereits genannten [Name 3] angefordert, da er diesen einem verantwortlichen Leitungsmitglied der Betriebsschule, [Name 4], zeigen wolle. Dem [Name 3] wurde der Entwurf von [Name 1] auch bedenkenlos übergeben. Bei der Übergabe des »Statuts« und der »Mitgliedskarte« an [Name 3] war der eingangs erwähnte [Name 2] zugegen.
Anderen Personen waren diese Materialien nicht zugänglich; der [Name 1] hat in dieser Richtung auch keinerlei Versuche unternommen, weil das »Statut« ausschließlich für ihn selbst bestimmt gewesen sei. Der [Name 1] befragte lediglich den vorgenannten [Name 4], ob es in der DDR überhaupt möglich sei, ein solches Statut »bestätigen« zu lassen. Dabei habe ihn das Problem nur allgemein interessiert, da von vornherein nie die Absicht bestanden habe, wirklich eine »Partei« zu gründen. Außer den genannten fünf Jugendlichen sowie dem [Name 4] hat niemand Kenntnis über die geschilderten Vorgänge erhalten.
Aus den durchgeführten Befragungen der beteiligten Personen geht hervor, dass ihre Handlungen – insbesondere die des [Name 1], der faktisch als einziger »aktiv« in Erscheinung trat – keinesfalls staatsfeindlich sind, sondern ihre Ursachen in Unklarheiten in politischen Fragen haben. Hinzu kam – wie bereits angeführt – die Vorstellung, dass die Freizeit nicht richtig ausgefüllt sei und man selbst etwas tun müsse, um für »Abwechslung« zu sorgen.
Das wird besonders deutlich durch den bisherigen Entwicklungsweg des [Name 1] charakterisiert. Der [Name 1] entstammt einer Arbeiterfamilie, lebte jedoch niemals in geordneten Verhältnissen. Er verließ nach acht Jahren die Grundschule in Lübz, obwohl seine schulischen Leistungen den Besuch der polytechnischen Oberschule bis zur 10. Klasse ermöglicht hätten. Die Aufnahme einer Tätigkeit als Rohrschlosser und die damit verbundene Übersiedlung in ein Lehrlingswohnheim des VEB Chemische Werke Buna geschah überwiegend aus finanziellen Gründen. Der [Name 1] wurde im Verlaufe seiner Lehrzeit lediglich im Unterricht mit politischen Problemen und Aufgaben konfrontiert. Er stand diesen Problemen aufgeschlossen gegenüber. Seine geführten Diskussionen waren positiv, zeigten jedoch, dass er mit politischen Problemen oftmals nicht allein fertig wurde und sich deshalb in vielen Fragen eine unreale Meinung bildete. Dazu trug weiter bei, dass in der Betriebsschule an [Name 1] zwar gesellschaftliche Anforderungen gestellt wurden, die er im Wesentlichen erfüllte, er aber im Lehrlingswohnheim bzw. im Werkwohnheim sich völlig allein überlassen war. Auch an seinem jetzigen Arbeitsplatz – Betriebskontrolle im Außenbetrieb – wurde [Name 1] noch nicht zur gesellschaftlichen Mitarbeit herangezogen, wie überhaupt die Beschäftigten der Außenbetriebe in der Regel nicht in die unmittelbare gesellschaftliche Arbeit ihrer Leitbetriebe einbezogen sind. (Dem [Name 1] war z. B. der FDJ-Sekretär überhaupt nicht bekannt, obwohl in der Brigade mehrere Jugendliche arbeiten.)
Die genannten jugendlichen Personen sind in der Vergangenheit positiv in Erscheinung getreten und werden als gute Arbeiter charakterisiert. Zu beachten ist allerdings, dass die Jugendlichen im Wohnheim selbst oftmals mit Personen zusammenkommen, deren politische Einstellung zu unserem Staat als negativ bezeichnet werden muss (z. B. Rückkehrer, Erstzuziehende und Haftentlassene; diese Personen stehen unter entsprechender Kontrolle des MfS). Hinzu kommt noch, dass die Erzieher wenig ausgebildet sind, zum überwiegenden Teil keinen Qualifikationsabschluss besitzen und auch politisch-ideologisch zu wenig ausstrahlen.
Eine Gesamteinschätzung des Sachverhaltes nach Abschluss der Untersuchungen ergibt, dass eine äußere Einflussnahme, eine »geistige Urheberschaft« von außerhalb jedoch nicht vorliegt. Vom MfS wurde nach Vorliegen der Untersuchungsergebnisse und der damit verbundenen Aufklärung der Ursachen und Motive sofort die SED-Industriekreisleitung Buna informiert. Diese Information enthielt keinerlei Hinweise, die die o. g. Annahme begründet und gerechtfertigt hätten.
Aufgrund der Ermittlungsergebnisse wurde vom MfS vorgeschlagen, mit den beteiligten Personen eine Aussprache zu führen mit dem Ziel, sie für eine aktive gesellschaftliche Arbeit zu gewinnen.
Die Jugendlichen bestätigten bei dieser Aussprache nochmals ihre Angaben bei den Befragungen und brachten zum Ausdruck, zukünftig aktiv an einer Verbesserung der gesellschaftlichen Arbeit in den Wohnheimen des VEB Chemische Werke Buna und an einer sinnvollen Freizeitgestaltung mitzuarbeiten.
Von der SED-Industriekreisleitung Buna wurden entsprechende Maßnahmen zur Verstärkung der politisch-ideologischen Arbeit in den in der Information genannten Bereichen eingeleitet.