Widerrechtliches stattgefundenes IV. westdeutsches Turnfest
4. Juni 1968
Einzelinformation Nr. 602/68 über das widerrechtliche in Westberlin stattgefundene IV. westdeutsche Turnfest
Der Verlauf des IV. westdeutschen Turnfestes1 in Westberlin zeigte, dass die Veranstalter bemüht waren, auf den Veranstaltungen offiziell keine revanchistischen Handlungen bzw. Bekundungen zuzulassen.
Aus inoffiziellen Quellen wurde dazu bekannt, dass die Zielsetzung der Organisatoren und ihrer politischen Hintermänner vor allem darin bestand, »das IV. westdeutsche Turnfest als eine unpolitische Schau zu deklarieren und »es zur »Normalisierung« der innenpolitischen Situation in Westberlin auszunutzen«.
Der Westberliner Regierende Bürgermeister Schütz2 äußerte in diesem Zusammenhang nach Abschluss der Veranstaltungen, der Verlauf des IV. westdeutschen Turnfestes habe gezeigt, dass ein »großes Miteinander zwischen Herrschenden und Volk möglich ist«.
Die Turner hätten dem Senat von Westberlin mit dem Turnfest und besonders mit dem großen Festzug am 2.6.1968 einen Gefallen getan, der sich noch lange auswirken wird.
Nach vorliegenden Informationen ist es den Veranstaltern im Wesentlichen auch gelungen, die durch die Außerparlamentarische Opposition, den Republikanischen Club3 u. a. Organisationen im Zusammenhang mit dem IV. westdeutschen Turnfest geplanten und durchgeführten Aktionen aufzufangen, sodass sie nicht die gewünschte Resonanz erzielten.
Der Außerparlamentarischen Opposition u. a. Organisationen gelang es im Wesentlichen nicht, Teilnehmer des IV. westdeutschen Turnfestes in die Aktionen mit einzubeziehen. Wie aus Kreisen des SDS-Vorstandes inoffiziell bekannt wurde, ist deshalb festgelegt worden, sich in die Veranstaltungen des IV. westdeutschen Turnfestes nicht intensiv einzuschalten. Als Begründung für die Zurückhaltung wurde angegeben, dass der Kampf gegen die Notstandsgesetze gegenwärtig alle Kräfte beanspruche und das Turnfest in der Westberliner Bevölkerung mehr Resonanz findet als Aktionen.
Weiter wurde bekannt, dass die Organisatoren des IV. westdeutschen Turnfestes eine größere Anzahl, in der Regel ältere Teilnehmer des Turnfestes, dazu eingesetzt hatten, mit gezielten Diskussionen gegen oppositionelle Kräfte aufzutreten, um mit diesen Kräften besonders über die »Rechtsstaatlichkeit in der Bundesrepublik« zu diskutieren. Auf einer Versammlung der SP, 11. Abteilung, am 31.5.1968, äußerte in diesem Zusammenhang der Westberliner Bürgermeister und Innensenator Neubauer,4 es seien Vorkehrungen getroffen worden, um das IV. westdeutsche Turnfest in Ruhe ablaufen zu lassen. Die Westberliner Polizei habe die Anweisung gehabt, entsprechende Demonstrationen »leer« laufen zu lassen.
Die auf Großveranstaltungen aufgetretenen westdeutschen Sportführer, leitenden Beamten des Westberliner Senats, einschließlich des Regierenden Bürgermeisters Schütz und anderen westdeutschen Politikern, versuchten in ihren Ansprachen und Reden im Allgemeinen den Eindruck einer »unpolitischen« Sportveranstaltung zu unterstreichen.
Zu offenen Ausfällen gegen die DDR kam es in der Festrede des Mitgliedes des Präsidiums des westdeutschen Turnerbundes, Dr. Dieckert5 bei der sogenannten Jahn-Feier6 am 30.5.1968 um 20.00 Uhr in der Westberliner Hasenheide, zu der ca. 10 000 Personen erschienen waren und auf den am 2.6.1968 stattgefundenen Abschlusskundgebungen, besonders in der Ansprache des Präsidenten des westdeutschen Turnerbundes, Oberlandesgerichtspräsident Dr. Kregel.7
Wie in diesem Zusammenhang weiter bekannt wurde, äußerte der westdeutsche Bundespräsident Lübke8 bei einem Frühstück mit den westdeutschen und Westberliner Sportführern am 1.6.1968, dass die Aufgabe der westdeutschen Turnführer darin bestünde, ihre gegenwärtige und künftige Arbeit an den staatspolitischen Wertmaßstäben des Bonner Staates auszurichten. Der westdeutsche Turnerbund könne seine Aufgabe nur erfüllen, wenn er diesen Zusammenhang ständig sichtbar macht und betont.
Weiterhin ist bekannt geworden, dass sich z. B. in der sogenannten Halle Brandenburg, in der die Anlaufstellen für die Teilnehmer des IV. westdeutschen Turnfestes eingerichtet waren, sich ein Informationsstand des Westberliner Senats befand, auf dem Hetzliteratur, die ausschließlich gegen die DDR gerichtet ist, vertrieben wurde. Hier wurden die Käufer auch gleichzeitig aufgefordert, die »Mauer« an der Friedrich- oder Bernauer Straße aufzusuchen. Die vertriebene Literatur wird durch das sogenannte Ministerium für Gesamtdeutsche Fragen herausgegeben.
Ein gleicher Informationsstand befand sich direkt im Gelände des Westberliner Olympiastadions. Zusätzlich hatte im Gelände des Olympiastadions die sogenannte Arbeitsgemeinschaft 13. August9 Plakate angebracht, mit denen die Teilnehmer des IV. westdeutschen Turnfestes aufgefordert wurden, die Ausstellung dieser Terrororganisation an der Staatsgrenze zu besuchen.
Durch die Organisatoren des IV. westdeutschen Turnfestes wurde der Besuch der Hauptstadt der DDR gefährdet. Bis zum 30.5.1968 reisten ca. 8 000 Personen, die als Teilnehmer des IV. westdeutschen Turnfestes erkannt wurden, in die DDR-Hauptstadt ein. Teilnehmern, die in Gruppen in die Hauptstadt der DDR einreisten, wurden die Umtauschsätze finanziell vergütet. Durch zielgerichtete Aufforderungen zum Besuch der DDR-Hauptstadt erhofften sich die Organisatoren, größeres Verständnis für die westliche Berlin-Politik und damit für die Durchsetzung ihrer Ziele zu erreichen. Andererseits wurden Teilnehmer des IV. westdeutschen Turnfestes, die die Informationszentren in der DDR-Hauptstadt aufgesucht hatten, von ihren Sportführern registriert und verwarnt.
Zu Provokationen von Teilnehmern des IV. westdeutschen Turnfestes kam es am 30.5.1968 in der Zeit von 16.25 bis 16.40 Uhr im Vorfeld der Grenzübergangsstelle Friedrich-/Zimmerstraße, indem die diensthabenden Angehörigen der NVA durch sieben Jugendliche mittels einer schriftlichen Losung und mündlichen Aufforderung zur Fahnenflucht aufgefordert wurden.
Im Verlaufe der durch Mitarbeiter der Informationszentren des DTSB mit Teilnehmern des IV. westdeutschen Turnfestes geführten Gespräche wurde sichtbar, dass von den westlichen Organisatoren in Vorbereitung des Turnfestes den Teilnehmern vielfach ein falsches Bild von der DDR vermittelt und sie sogar mit möglichen »Repressalien« durch DDR-Organe vertraut gemacht worden waren. Das äußerte bei Gesprächen u. a. auch die Tochter des Präsidiumsmitgliedes der westdeutschen Sportjugend im westdeutschen Leichtathletikverband, Kirsch.10
Der Rückreiseverkehr auf den Verkehrswegen der DDR von Teilnehmern des IV. westdeutschen Turnfestes hat im Verlaufe des 3.6.1968 voll eingesetzt. Auf den Straßen-Grenzübergangsstellen reisten von 33 000 eingereisten Teilnehmern des IV. westdeutschen Turnfestes bis einschließlich 3.6.1968 29 000 wieder aus. Mit der Eisenbahn reisten von 10 000 eingereisten Teilnehmern des IV. westdeutschen Turnfestes im Verlaufe des 2. und 3.6.1968 7 500 wieder aus.