Absichten reaktionärer Kräfte zum Besuch in Kassel (I)
14. Mai 1970
Information Nr. 498/70 über Absichten, Pläne und Maßnahmen reaktionärer Kräfte zum Treffen des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Genossen Stoph, mit dem Bundeskanzler der BRD Brandt am 21. Mai 1970 in Kassel
Anlässlich des vorgesehenen Treffens des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR, Gen. Stoph,1 mit dem Bundeskanzler der BRD, Brandt,2 am 21.5.1970 in Kassel3 planen rechte, nationalistische und revanchistische sowie linksradikale, anarchistische Kreise eine Anzahl gegen die DDR und besonders gegen die DDR-Delegation und Gen. Stoph persönlich gerichtete Aktionen.
Obwohl einzuschätzen ist, dass ein Anzahl der geplanten Vorhaben auf subjektiven Ansichten und Vorstellungen beruhen bzw. dass zwischen solchen geplanten Aktionen und den gegebenen objektiven Voraussetzungen und Möglichkeiten für eine Verwirklichung zum Teil keine Übereinstimmung besteht, werden unter Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen der DDR-Delegation alle Hinweise auf mögliche Provokationen, Störmanöver usw. wiedergegeben. In diesem Zusammenhang ist besonders darauf hinzuweisen, dass sich internen Informationen zufolge Führungskräfte der westdeutschen Polizei teilweise stärker auf die geplanten Aktionen progressiver Organisationen sowie auf die erwarteten Auseinandersetzungen dieser Organisationen mit reaktionären Kräften orientieren als auf die Absicherung der Verhandlungsdelegation und des Verhandlungsortes.
Nachstehend eine Übersicht über die dem MfS in diesem Zusammenhang intern und offiziell bekannt gewordenen feindlichen Plänen und Absichten:
Der Schwerpunkt der geplanten feindlichen Maßnahmen liegt im Raum Kassel, wo besonders am 21.5.[1970] bzw. bereits am Vorabend des Verhandlungstages sogenannte Protestdemonstrationen, Hetzkundgebungen und andere Provokationen stattfinden sollen.4
Als unmittelbare Initiatoren und Veranstalter werden besonders die NPD, die Junge Union5 und revanchistische Organisationen in Erscheinung treten. Darüber wurden bisher folgende Einzelheiten bekannt:
Die NPD und die »National-Zeitung«6 rufen bereits seit längerer Zeit dazu auf, gegen die DDR-Delegation in Kassel aufzutreten und zugleich auch gegen die »verräterische Politik Brandts« zu protestieren.7
In der »National-Zeitung«, Ausgabe Nr. 19 vom 8.5.1970, werden z. B. Leserstimmen veröffentlicht, die auffordern, »unter Führung der CDU/CSU, der Leiter der Vertriebenenverbände«, des »Deutschen Soldatenbundes«8 und »aller freiheitlich Gesinnten« in »Massen« nach Kassel zu kommen.9
Der NPD-Vorsitzende von Thadden10 erklärte offiziell demagogisch, dass am Tage des Treffens selbst die NPD in Kassel keine Aktionen veranstalten werde. Die NPD wolle jedoch auf einer Kundgebung in Kassel am Abend des 20.5.[1970] »gegen die Anerkennung der deutschen Teilung und für das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung« eintreten. Auf der Hetzkundgebung will Thadden selbst sprechen. Nach inoffiziellen Hinweisen plane die NPD außer der Kundgebung am Abend des 20.5.[1970] eine Demonstration in Kassel unter Teilnahme von Mitgliedern aus dem Bundesgebiet. Nach internen Hinweisen will die NPD ihren sogenannten Ordnungsdienst neu organisieren und in Kassel einsetzen. Vorbereitungen dazu seien im Gange.
Eine »lautlose Demonstration« in Form einer »Schweigefahrt« mit dem Pkw wollen – wie intern bekannt wurde – die NPD-Landesverbände Hessen und Bayern durchführen. Die Fahrzeuge sollten mit Hetzlosungen versehen werden (»Kein freies Geleit für Mörder«, »Freiheit für unsere Brüder«, »Raus mit Stoph« usw.) Sollte diese Demonstration nicht genehmigt werden, wollen sich diese NPD-Gruppen unter Umständen Demonstrationen der CDU/CSU anschließen, ohne sich äußerlich zu erkennen zu geben.
Rechtsextremistische Kreise, besonders aus der NPD, haben in Flugblättern zu einer »Gesamtdeutschen Aktion« gegen Gen. Stoph in Kassel aufgerufen. Es wird gefordert, unter »Freunden und Bekannten« für eine »Demonstration« am 21.5.[1970] zu werben und an vorgesehene Adressen namentlich mitzuteilen, wer daran teilnimmt. Weiterhin wird in dem Flugblatt aufgefordert, »Vorschläge für Aktionen in Kassel« zu machen.
Die Junge Union plant am Vorabend der Begegnung in Kassel einen »Schweigemarsch«. In dem Zug – es werden etwa 3 000 Mitglieder erwartet – sollen 535 Fackeln getragen werden. (Die Zahl würde den Toten »der Mauer und Demarkationslinie« entsprechen.) Die Initiative für diese Provokation geht von den Landesverbänden Hessen und Westberlin aus, die dazu ein Aktionskomitee »Wir gehen nach Kassel« unter Vorsitz von Wohlrabe11 (MdB/CDU) gegründet und alle Landesverbände der Jungen Union in Westdeutschland aufgefordert haben, an der Demonstration teilzunehmen. In Westberlin sollen ca. 500 Mitglieder für die Teilnahme gewonnen werden. Etwa 1 200 Anmeldungen aus Westdeutschland und Westberlin würden bereits vorliegen. Für die gesamte Aktion stellen die CDU und der Bundesvorstand der Jungen Union 350 TDM zur Verfügung.
Der neue SPD-Informationsdienst »intern«12 berichtete in seiner ersten Nummer vom 10.5.1970, dass der Bundesvorstand der CDU erwäge, in Kassel durch eine Plakataktion »Akzente zu setzen«. Auf den Plakaten soll der Bonner Regierung »Verzichtsausverkaufspolitik« vorgeworfen werden.
Auf einer Bundesvorstandssitzung des »Freundeskreises der CSU« seien nach Mitteilung einer zuverlässigen Quelle folgende Maßnahmen festgelegt worden:
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Blockierung der Fahrstrecke vom Bahnhof Wilhelmshöhe bis zum Tagungsort am 21.5.[1970] durch Organisierung von Sitzstreiks;
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Aufstellen von schwarzen Kreuzen und Hetzplakaten (Darstellung der Sicherungsanlagen der Staatsgrenze der DDR) sowie Organisierung von Sprechchören;
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Druck vom 10 000 Hetzflugblättern, in denen gegen Gen. Stoph gehetzt werden soll.
Die Kirche habe die Absicht, in Kassel auf einem größeren, zzt. noch nicht näher bekannten Platz, zusammen mit der Inneren Mission ein großes Zelt aufzustellen und darin Veranstaltungen durchzuführen. (Derselbe Standort für die Errichtung eines Zeltes sei der DKP abgelehnt worden.)
Der »Bund der Vertriebenen«13 will am 21.5.[1970] demonstrieren. Einen entsprechenden Antrag auf Genehmigung habe er an den Kasseler Magistrat gestellt. Weitere Einzelheiten liegen gegenwärtig noch nicht vor.
Die »Vereinigung der Opfer des Stalinismus«14 (VOS) hat ebenfalls die Absicht, am 21.5.[1970] in Kassel zu demonstrieren. Es soll ein Demonstrationszug von etwa 200 Mitgliedern organisiert werden, die in Häftlingskleidung auftreten sollen.
Der Westberliner Landesvorstand der »Vereinigung 17. Juni 1953«15 hat die westdeutschen Landesverbände aufgerufen, am 21.5.[1970] nach Kassel zu kommen. Das Ziel besteht darin, etwa 2 000 Mitglieder für Kassel zu mobilisieren. Es soll erreicht werden, dass die Mitglieder der Vereinigung aus »Prostest« die Anfahrtsstrecke zum Tagungsort blockieren. Weiterhin sollen Lautsprecherwagen eingesetzt werden. Darüber hinaus werde eine Flugblattaktion vorbereitet.
Außer den bisher genannten Aktionen gibt es eine Reihe Hinweise auf mögliche Provokationen und Anschläge, die sich direkt gegen die Person des Genossen Stoph richten sollen. In diesem Zusammenhang wird auf die gegen Gen. Stoph gerichtete Hetzkampagne der »National-Zeitung« hingewiesen.
In Auswirkung der von den rechten Kräften entfachten Atmosphäre der Morddrohung haben Personen aus Westdeutschland an Gen. Stoph Drohbriefe gerichtet. So hat ein [Vorname Name 1] aus Mannheim Gen. Stoph angedroht, er werde »auf dem Boden von Kassel von Scharfschützen abgeschossen«.
Strafantrag gegen Gen. Stoph haben außer Gerhard Frey16 (Herausgeber der »National-Zeitung«) folgende Personen gestellt:
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Pöhlmann17 (stellv. NPD-Bundesvorsitzender und NPD-Fraktionsvorsitzender im bayerischen Landtag)
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Heinze18 (NPD-Abgeordneter aus Augsburg)
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Kuhnt19 (Fraktionsvorsitzender der NPD vom Landtag Baden-Württemberg)
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Stöckicht20 (stellv. NPD-Fraktionsvorsitzender vom Landtag Baden-Württemberg)
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[Name 2, Vorname] Starnberg/OBB
Wie eine vertrauenswürdige Quelle berichtete, haben auf dem Landesparteitag der NPD von Nordrhein-Westfalen am 25. und 26.4.1970 einzelne Delegierte Drohungen gegen Gen. Stoph geäußert. So erklärte das 1968 im Zusammenhang mit einem bewaffneten Überfall auf das DKP-Büro in Bonn21 bekannt gewordene NPD-Mitglied Hengst, Bernd,22 es sei für ihn »Ehrensache«, nach Kassel zu reisen, denn er wolle Stoph »persönlich ohrfeigen«.
Das Mitglied der Gewerkschaftsorganisation »Christlicher Metallarbeiterverband«23 im Volkswagenwerk Baunatal bei Kassel, [Name 3], äußerte nach offizieller Darstellung der DKP: »Wenn es schon keine Handhabe gibt, den Stoph zu verhaften, so wird sich ein deutscher Mann finden, der hinter dem Zielfernrohr den Finger krumm macht.«
Es liegen Informationen darüber vor, dass neben den rechtsextremistischen Kräften auch linksradikale, anarchistische Kreise um die »Internationale Arbeiterkorrespondenz«24 in Frankfurt/M. versuchen, unter den Funktionären des DGB und der SPD Stimmung zu machen für ihre Parolen wie, »Zwingt Brandt und Stoph am 21. Mai Farbe zu bekennen«.
Auch die »Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten«25 tritt in letzter Zeit mit Losungen gegen das geplante Treffen in Kassel auf. Eine ihrer Losungen lautet: »Stoph und Brandt: Verräter der deutschen Arbeiterklasse«. Mit solchen Losungen planen die sogenannten Marxisten-Leninisten sowie Trotzkisten in Kassel aktiv zu werden (nähere Einzelheiten darüber sind zzt. noch nicht bekannt).
Nach einer internen, noch nicht bestätigten Information sollen die Kubaner Jorge Fraga,26 Regisseur in Havanna, und Alfredo Guevara,27 Präsident des ICAIC,28 anlässlich der Dokumentar- und Kurzfilmwoche (11.–18.4.1970 in Oberhausen) zum Ausdruck gebracht haben, dass sie es begrüßen würden, wenn auf Stoph geschossen würde. Die Kubaner erklärten, die »Linken« wären klug, wenn sie einen solchen Anschlag inszenierten, da dann die wirklichen Zustände in der Bundesrepublik an die Oberfläche kämen.
Geplante Störmaßnahmen und Hetzkundgebungen, die über den Raum Kassel hinausgehen, wurden bisher seitens der NPD bekannt. Im Einzelnen handelt es sich um
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Abbrennen von »Mahnfeuern« entlang der Staatsgrenze der DDR am Vorabend des Treffens. Dazu will die NPD die Landsmannschaften und andere revanchistischen Organisationen mobilisieren.
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Durchführung von Hetzkundgebungen in einigen – bisher noch nicht bekannten – westdeutschen Städten.
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Verteilung von Hetzflugblättern in Westdeutschland.
Vom MfS wurden die notwendigen Maßnahmen zur weiteren Aufklärung der feindlichen Pläne, Absichten und Maßnahmen eingeleitet.