Arbeitsniederlegung im VEB Chemiefaserkombinat Premnitz
27. November1970
Information Nr. 1260/70 über eine Arbeitsniederlegung ungarischer Arbeiter im VEB Chemiefaserkombinat Premnitz, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, am 25. November 1970
Am 25.11.1970 nahmen ca. 100 (von insgesamt 265) ungarische Werktätige im VEB Chemiefaserwerk Premnitz, [Kreis] Rathenow, [Bezirk] Potsdam, die Arbeit nicht auf und begaben sich gegen 7.00 Uhr zum Verwaltungsgebäude. Diese Handlungsweise wurde in ersten Gesprächen zwischen ungarischen Arbeitern und dem Parteisekretär, dem Vorsitzenden der BGL und dem stellvertretenden Werkleiter damit begründet, gegen die vom ungarischen Disziplinarkomitee des Betriebes beantragte und von der Botschaft der UVR in der DDR bestätigte Rückführung der beiden ungarischen Staatsbürger [Name 1, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1945, Rohrleger im Chemiefaserwerk und [Name 2, Vorname], geboren am [Tag, Monat] 1951, Rohrschlosser im Chemiefaserwerk »protestieren« zu wollen.
Der Antrag wurde vom Staatlichen Beauftragten [Name 3, Vorname] entgegen dem üblichen Verfahrensweg ohne Wissen und Absprache mit dem Vertreter des VEB Chemiefaserwerk Premnitz an die Botschaft der UVR in der DDR gestellt.
Die Begründung für die Antragstellung und nach Bestätigung durch die Vertretung der Botschaft der UVR in der DDR lautet:
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Schlägerei mit sowjetischen Bürgern;
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rowdyhaftes Verhalten;
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ungebührliches Benehmen im Wohnheim.
(Die Überprüfungen der BV Potsdam in Zusammenarbeit mit den zuständigen sowjetischen Dienststellen ergaben keine Hinweise über negative Vorkommnisse mit Bürgern der UdSSR.)
Die Aussprache mit den ungarischen Arbeitern dauerte etwa zwei Stunden, bis gegen 9.00 Uhr. Danach nahmen die in der Tagesschicht eingeteilten Ungarn ihre Arbeit auf.
Während der Aussprache sammelten [die] Ungarn für eine Motorradfahrt nach Berlin Geld und beauftragten vier ungarische Bürger, die Botschaft der UVR in Berlin in dieser Angelegenheit aufzusuchen. Gegen 21.00 Uhr kehrten die vier (namentlich bekannten) Ungarn nach Premnitz zurück.
Am 25.11.1970, 19.00 Uhr, fand aufgrund dieses Vorkommnisses ein Forum beim Rat des Kreises Rathenow statt, an dem teilnahmen:
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der beauftragte Vertreter der UVR in der DDR,
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ein bevollmächtigter Mitarbeiter des Amtes für Arbeit und Löhne,
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Partei- und Gewerkschaftsleitung des VEB Chemiefaserwerkes Premnitz,
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Vertreter des Rates des Bezirkes und des Kreises
sowie etwa 120 ungarische Arbeiter.
Im Verlauf des Forums erklärte die überwiegende Mehrzahl der Ungarn, dass
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nicht beabsichtigt war, den VEB Chemiefaserwerk Premnitz zu schädigen und dass
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ihre Aktion sich eindeutig gegen das ungarische Disziplinarkomitee gerichtet habe.
Vor Abschluss des Forums erklärte ein ungarischer Arbeiter, der mit in der Botschaft der UVR in Berlin war, alle Möglichkeiten zu nutzen, die ausgefallene Arbeitszeit nachzuholen. Diesem Vorschlag stimmten ca. 80 % der anwesenden ungarischen Arbeiter zu.
Im Anschluss an das Forum sagte der beauftragte Mitarbeiter der Botschaft der UVR in der DDR zu, bis zum 10.12.1970 eine Veränderung der Vertreter im VEB Chemiefaserwerk Premnitz herbeizuführen. (Staatliche Beauftragte, Parteisekretär, KISZ-Sekretär.1)
Anlass dieser Veränderungen sind seit Längerem bekannt gewordene Mängel in der Ausübung ihrer Funktionen.
Unter anderem hatte der Parteisekretär bereits am 24.11.1970 davon Kenntnis, dass etwa 30 ungarische Arbeiter beim KISZ-Sekretär gegen die geplante Rückführung protestiert hatten.
Der Parteisekretär soll jedoch entstellte Informationen an die Botschaft der UVR in Berlin gegeben haben. Auch der Direktor des VEB Chemiefaserkombinat hatte bereits in einem Brief an die Botschaft der UVR in der DDR eine Überprüfung der Arbeit des Parteisekretärs und der gesamten ungarischen Leitung erbeten und um eine eventuelle Ablösung gebeten. Bis zum 25.11.1970 erfolgte jedoch keine Reaktion auf diesen Brief.
Nach dem 10.12.1970 soll erneut ein Forum in Premnitz mit dem beauftragten Vertreter der Botschaft der UVR in der DDR stattfinden, auf welchem die noch offenstehenden Probleme beraten werden.
Die beiden oben genannten ungarischen Arbeiter und zwei weitere Arbeiter, die als Rädelsführer in Erscheinung traten, werden am 26.11.1970 in die UVR zurückgeschickt.