Ausarbeitung Ökumenischen Institutes Berlin zu Entwicklungsländern
2. November 1970
Information Nr. 1150/70 über eine Ausarbeitung des Ökumenischen Instituts Berlin zur »Problematik der Entwicklungsländer« aus der Sicht der sozialistischen Staaten
Dem MfS wurde bekannt, dass durch das Ökumenische Institut Berlin1 im März 1970 ein Studiendokument zum Thema »Weltarmut und ökumenische Verantwortung«,2 das Probleme der Entwicklungshilfe der Evangelischen Kirche enthält, erarbeitet wurde.
Dieses Studienmaterial diente der Vorbereitung einer vom Ökumenischen Institut Berlin einberufenen Konsultation zum Thema »Beitrag der sozialistischen Staaten zur Lösung des Weltproblems Weltarmut und ökumenische Verantwortung«.
Initiator und federführend bei der Ausarbeitung dieses Dokuments – das vom Inhalt her im Wesentlichen als positiv und zustimmend zur Politik der sozialistischen Staaten eingeschätzt werden kann – war nach bisherigen Feststellungen besonders Schülzgen, Eckhard,3 Pfarrer, wohnhaft Berlin-Treptow, [Straße, Nr.], Mitarbeiter der »Goßner Mission«,4 seit Oktober 1970 auch Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts Berlin.
In die Ausarbeitung des Dokuments waren u. a. außerdem einbezogen [Name 1], Theologie-Student HU Berlin, [Name 2], Quäker, Königs Wusterhausen, [Name 3], Oberseminar Potsdam-Hermannswerder, Ordnung, Carl,5 CDU.
Die Konsultation des Ökumenischen Instituts zum genannten Thema fand vom 22. bis 24.5.1970 in der Hauptstadt der DDR mit einem Kreis Pfarrer und z. T. leitenden Kirchenfunktionären aus fast allen Bezirken der DDR statt. Bereits während dieser Zusammenkunft stieß das Dokument aufgrund seines progressiven Inhalts auf viel Unverständnis und Widerstand bei einer Reihe als reaktionär bekannter Pfarrer und Kirchenfunktionäre. Besonders Bischof Fränkel6 sprach sich nachhaltig dagegen aus, das Dokument einem weiteren Kreis von Pfarrern zur Kenntnis zu geben und wies damit einen Vorschlag des Ökumenischen Instituts Berlin zurück.
Auch in einer kurzen Zeit nach der Konsultation auf Initiative des ökumenischen Instituts stattgefundenen Diskussionsrunde zum gleichen Thema – an der alle evangelischen Bischöfe der DDR, außer den Bischöfen Braecklein7 und Krusche,8 teilnahmen – trat besonders Bischof Fränkel gegen das Dokument auf und äußerte, der Inhalt sei abzulehnen, da er als »Zugeständnis gegenüber dem Sozialismus« gewertet werden müsse.
Während eines Besuches des Leiters der Abteilung Internationale Beziehungen der ökumenischen Zentrale Genf,9 Lojan Niilus10 (Argentinier), im Sommer 1970 im Ökumenischen Institut Berlin, zeigte Niilus Interesse für das Dokument zur »Problematik der Entwicklungsländer aus der Sicht der sozialistischen Staaten« und nahm ein Exemplar dieser Ausarbeitung mit Einverständnis des Ökumenischen Instituts Berlin mit zur Ökumenischen Zentrale Genf. Niilus setzte sich in der Folgezeit dafür ein, dass dieses Dokument der Kommission »Beteiligung der Kirchen an der Entwicklungshilfe« zur Kenntnis und Diskussion zur Verfügung gestellt wurde.
(Intern wurde bekannt, dass die Kommission »Beteiligung der Kirchen an der Entwicklungshilfe« unter der Regie der Ökumenischen Zentrale Genf 1970 gegründet wurde, wobei der Aufbau dieser Kommission gegenwärtig noch nicht abgeschlossen ist. Die Kommission setzt sich zzt. aus ca. zehn Vertretern verschiedener Länder, vorwiegend aus imperialistischen Ländern, zusammen.)
Auf einer Tagung der Kommission »Die Beteiligung der Kirchen an der Entwicklungshilfe«, die in der Zeit vom 22. bis 27.10.1970 in Genf stattfand, sollte das von Kirchenvertretern der DDR erarbeitete Dokument behandelt werden. (Informationen darüber liegen gegenwärtig noch nicht vor.)
Soweit dem MfS intern bekannt wurde, ist seitens der Ökumenischen Zentrale Genf (auf Initiative des Argentinier Niilus) vorgesehen, in einer durch die Zentrale Genf einzuberufenden Diskussionsrunde in Genf noch im Jahre 1970 grundlegend über das bezeichnete Dokument des Ökumenischen Instituts Berlin zu sprechen. Als Teilnehmer dieser Diskussionsrunde soll von Niilus bzw. von der Ökumenischen Zentrale Genf ein Vertreter aus der DDR – genannt wurde besonders der Mitarbeiter des Ökumenischen Instituts Berlin, Schülzgen – eingeladen werden.
Diese Information ist nicht für eine öffentliche Auswertung geeignet.
Anlage | Studiendokument des Ökumenischen Instituts Berlin/8 Blatt
Anlage zur Information Nr. 1150/70
Studiendokument zur Vorbereitung der Konsultation des Ökumenischen Instituts vom 22. bis 24. Mai 1970
Ökumenisches Institut Berlin beim Ökumenisch-Missionarischen Amt
Das Ökumenische Institut Berlin hat 1968 in einer Erarbeitung unter dem Thema »Weltarmut und ökumenische Verantwortung« versucht, die ökonomischen und politischen Zusammenhänge der Weltarmut darzustellen. In einer kritischen Stellungnahme dieses Instituts zur Arbeit der Sektion III in Uppsala wurde die Frage nach dem Beitrag der sozialistischen Staaten zur Lösung dieses Weltproblems aufgeworfen. Ein Arbeitskreis hat sich mit dieser Frage befasst. Die hier vorgelegten Ergebnisse sollen die erwähnten Arbeiten des Ökumenischen Instituts Berlin weiterführen.
1. Die Problematik der Entwicklungsländer aus der Sicht der sozialistischen Staaten
1.1 Internationale Solidarität im Kampf gegen den Imperialismus – das Leitmotiv sozialistischer Politik
Die sozialistischen Staaten, unter ihnen die DDR, verstehen die gegenwärtige Situation der Entwicklungsländer, ihren Befreiungskampf und ihre Bemühungen um wirtschaftliche Selbstständigkeit als einen Teil des revolutionären Weltprozesses, des Kampfes gegen den Imperialismus. In diesem Kampf sind sie die natürlichen Verbündeten der Entwicklungsländer, auch derjenigen, die (noch) nicht den sozialistischen Weg beschritten haben. Da der Imperialismus der Hauptschuldige am Hunger und Elend der Menschen in den Entwicklungsländern ist, kann die Not nur durch konsequente Weiterführung der begonnenen Revolution überwunden werden. Menschlichkeit bedeutet angesichts dieses Elends Kampf gegen den Imperialismus.
1.2. Die gegenwärtige Situation der Entwicklungsländer
1.2.1 Die Entwicklungsländer durchleben gegenwärtig eine Übergangsphase von langer Dauer in verschiedenen Stadien. Obwohl die meisten nach der nationaldemokratischen Revolution eine gewisse Unabhängigkeit erreicht haben, ist in der Regel die wirtschaftliche und politische Abhängigkeit von den imperialistischen Staaten geblieben. Der Befreiungskampf wird nicht nur in den Kolonialgebieten geführt, sondern muss auch in den Nationalstaaten fortgesetzt werden.
1.2.2 Einige ehemalige Entwicklungsländer befinden sich auf dem sozialistischen Weg mit marxistisch-leninistischer Grundlage. Andere Entwicklungsländer gehen den kapitalistischen Weg. In vielen jungen Nationalstaaten ist die zukünftige Entwicklungsrichtung noch nicht klar erkennbar. Einige beschreiten den nicht-kapitalistischen Weg. Charakteristisch dafür sind: Verstaatlichung ausländischer Unternehmen, gezielter Aufbau des staatlichen Sektors der Wirtschaft, besonders in den strukturbestimmenden Industriezweigen, und staatliche Kontrolle des Außenhandels. Weil es nur ein schwachentwickeltes revolutionäres Proletariat gibt, sind oft kleinbürgerliche Schichten und das Militär die Träger dieser Entwicklung. Aus diesen Gründen und anderen Gründen (z. B. Bindung an den kapitalistischen Weltmarkt, Globalstrategie des Imperialismus) ist diese Entwicklung noch nicht stabil.
1.2.3 In der gegenwärtigen Situation ist es für alle Entwicklungsländer wichtig, dass sich die gesellschaftlichen Kräfte finden, profilieren und stärken, die fähig sind, die Entwicklung zum Sozialismus voranzutreiben. Ausschlaggebend ist nicht die Quantität solcher Gruppen, sondern ihr organisatorisches, politisches und ideologisches Gewicht. Der Kampf dieser Gruppen richtet sich gegen jede Form der wirtschaftlichen und politischen Bevormundung und Ausbeutung von außen, aber auch gegen die Verbündeten des Imperialismus im eigenen Land, die an der Beibehaltung des Status quo interessiert sind. Die Auseinandersetzung spitzt sich in dem Kampf um den Charakter, die Kontrolle und die Funktion des Staates, als des entscheidenden politischen Machtinstrumentes, zu.
1.2.4 Die Aufgaben, die gesellschaftlich, wirtschaftlich und politisch vor den Entwicklungsländern liegen, müssen von diesen weitgehend selbst gelöst werden. Sie selbst müssen die revolutionären Kräfte hervorbringen und entwickeln, die den Befreiungskampf als komplexen Prozess weiterführen.
1.3 Kritik an westlicher Entwicklungshilfe
1.3.1 Die Nord-Süd-Theorie bürgerlicher Theoretiker wird als Verschleierung des internationalen Klassenkampfes abgelehnt. Sozialistische Staaten und Entwicklungsländer stehen in derselben Front gegen den Imperialismus. Soweit sich die Entwicklungsländer bis zu einem gewissen Grade aus dem imperialistischen System lösen können, befinden sie sich am Anfang desselben Weges, auf dem die sozialistischen Staaten schon eine weiteres Stück voraus sind.
1.3.2 Hunger und Not in den Entwicklungsländern sind vorrangig ein wirtschaftliches und politisches Problem. Kapitalistische Entwicklungshilfe und karitative Programme verändern die bestehenden Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse nicht. Die Aktivität der sozialistischen Staaten richtet sich auf die Unterstützung der wirtschaftlichen und politischen Umgestaltung.
1.4 Die Bedeutung der sozialistischen Staaten für die Entwicklungsländer
1.4.1 Die sozialistischen Staaten lehnen die Verantwortung für die gegenwärtig in den Entwicklungsländern herrschende Not ab, weil sie niemals Kolonialmächte gewesen sind. Die Verantwortung haben die ehemaligen Kolonialmächte zu tragen, weil sie durch ihre Wirtschafts- und Sozialpolitik diese Situation verschuldet haben.
1.4.2 Die Existenz der sozialistischen Staaten zeigt, dass die Lösung vom kapitalistischen System möglich ist, wenn eine revolutionäre Partei die Führung übernommen hat und ihren Weg konsequent verfolgt. Die sozialistischen Staaten können das Leitbild für die fortschrittlichen Kräfte in den Entwicklungsländern sein.
1.4.3 Die Macht der sozialistischen Staaten verhindert einen großen Rückschlag, der durch militärische Intervention besonders bei solchen Entwicklungsländern droht, die sich aus imperialistischen Bündnissen lösen oder die Verstaatlichung ausländischer Kapitalien durchführen (z. B. Kuba, VAR). Wohl hat es in der Vergangenheit einige Rückschläge gegeben (Indonesien,11 Ghana12), aber diese Gefahren bleiben begrenzt. Der große Rückschlag für die gesamte Befreiungsbewegung ist ausgeblieben, weil er einen Weltkrieg heraufbeschworen hätte.
2. Die Realisierung der Solidarität mit den Entwicklungsländern
2.1 Die politische Unterstützung
2.1.1 Die meisten sozialistischen Staaten waren vor der sozialistischen Umgestaltung ökonomisch sehr zurückgeblieben (z. B. Bulgarien) oder sogar ökonomisch einem Entwicklungsland gleichzustellen (z. B. Nordkorea, Mongolei). Es hat sich gezeigt, dass diese Länder innerhalb des sozialistischen Systems eine besonders hohe Wachstumsrate aufweisen. So erarbeiten die sozialistischen Staaten ein Modell für gute Beziehungen zwischen ökonomisch verschiedenen entwickelten Partnern.
2.1.2 Immer mehr Länder errichten eine fortschrittliche und revolutionär-demokratische Staatsmacht. Die sozialistischen Staaten erweisen diesen Regierungen dadurch Unterstützung, dass sie kurzfristig ihre diplomatische Anerkennung aussprechen (z. B. Sudan, Libyen).
2.1.3 Die von den sozialistischen Staaten angestrebte Politik der Abrüstung und friedlichen Koexistenz soll günstige Voraussetzungen für eine positive Lösung der wirtschaftlichen und sozialen Probleme der Entwicklungsländer schaffen. Für Rüstungsausgaben werden heute ca. insgesamt 140 Milliarden Dollar jährlich bereitgestellt. In Westdeutschland z. B. betragen die Rüstungsausgaben in den Jahren 1964 bis 1971 insgesamt 152,6 Milliarden DM. Die Regierung der DDR erneuerte in ihrem Memorandum an die zweite UNCTAD13 den Vorschlag für eine Rüstungsreduzierung in den beiden deutschen Staaten um 50 % im Rahmen einer Normalisierung der Beziehungen. In Übereinstimmung mit der Deklaration über die Verwendung der durch die Abrüstung freiwerdenden »Ressourcen für friedliche Zwecke« (17. UN-Vollversammlung)14 vertrat die Regierung der DDR die Ansicht, dass nach der Verwirklichung dieses Vorschlages ein großer Teil der freiwerdenden Mittel zur Unterstützung des wirtschaftlichen Aufbaus in den Entwicklungsländern verwendet werden könnten.
2.2 Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den sozialistischen Staaten und den Entwicklungsländern
2.2.1 Der Handel
Die Interessen der Entwicklungsländer bezüglich ihres Außenhandels sind dadurch gekennzeichnet, dass sie für den Aufbau ihrer nationalen Wirtschaft stabile ökonomische Beziehungen benötigen, die ihnen einen langfristigen Absatz ihrer Waren und feste Rohstoffpreise garantieren und den kontinuierlichen Bezug von Erzeugnissen für die Industrialisierung sichern. Das Wirtschaftssystem der sozialistischen Staaten mit seinem Prinzip der langfristigen Planung kommt ihnen dabei entgegen. Den sozialistischen Staaten geht es dabei nicht so sehr um den Austausch von zufällig ausgewählten Produkten, sondern um eine langfristige internationale Arbeitsteilung auf der Basis des gegenseitigen Vorteils. Der Anteil der sozialistischen Länder am Außenhandel der Entwicklungsländer betrug im Zeitraum 1960 bis 1965 etwa 6 bis 7 %. Jedoch hat der Handel zwischen den sozialistischen Staaten und den Entwicklungsländern ein außerordentlich hohes Wachstumstempo erreicht. In den Jahren 1960 bis 1965 erhöhten die Entwicklungsländer ihren Warenumsatz auf dem sozialistischen Weltmarkt durchschnittlich um 15 % jährlich, auf dem kapitalistischen Weltmarkt nur um 6 %. Der Anteil der Entwicklungsländer am Außenhandel der sozialistischen Länder wuchs von 1955 bis 1965 von 6,7 % auf 11 %. Bis 1980 will die Sowjetunion ihren Handelsaustausch mit den schwachentwickelten Ländern im Vergleich zu 1964 auf das sieben- bis achtfache vergrößern.
Ein hoher Prozentsatz des Exports der sozialistischen Länder in die Entwicklungsländer betrifft Industrieausrüstungen und Maschinen. 30 % der gesamten von der Sowjetunion exportierten Ausrüstungen geht in die Länder Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, womit die Industrialisierung dieser Länder in hohem Maße gefördert wird.
Ein schwieriges Problem im Handel zwischen den Entwicklungsländern und den entwickelten kapitalistischen Ländern ist die unausgeglichene Handelsbilanz. Der Handel mit den sozialistischen Ländern ist dagegen ausgeglichen und beruht auf dem Austausch Ware gegen Ware. Dadurch sparen die Entwicklungsländer wertvolle Devisen. Der prozentuale Anteil der Fertigwaren und Halbfabrikate am Export der Entwicklungsländer an die sozialistischen Staaten wird ständig größer. Von 33 % in den Jahren 1965/66 soll er im Jahre 1970 auf 40 % (d. h. 800 bis 900 Millionen Dollar) ansteigen.
Weiterhin treten die sozialistischen Länder für eine Stabilisierung der Preise für Rohstoffe auf dem Weltmarkt ein und haben den eigenen Import dieser Waren erhöht. Sie weisen darauf hin, dass unrealistische Preisfestsetzungen für Rohstoffe, eine Verringerung der Produktion synthetischer Materialien voraussetzt und solche Maßnahmen der wissenschaftlich-technischen Entwicklung widersprechen.
Die sozialistischen Staaten haben ihre Bereitschaft gezeigt, den Entwicklungsländern in besonderen akuten Schwierigkeiten zu helfen. So erklärte sich z. B. die Sowjetunion im Jahre 1955 bereit, Indien innerhalb von drei Jahren eine Million Tonnen Walzstahl zu liefern, als es sich auf dem Weltmarkt vergeblich darum bemühte. 1960 lieferte die Sowjetunion an Indien Mineralölprodukte zu äußerst günstigen Preisen, die die in Indien engagierten Ölgesellschaften zu erheblichen Preiszugeständnissen zwangen. Als Guinea im Oktober 1958 aus der französischen Gemeinschaft und im März aus der Franc-Zone austrat, wurde es von den NATO-Ländern boykottiert.15 Die sozialistischen Staaten, vor allem auch die DDR, ermöglichten Guinea durch verschiedene Abkommen und Verträge die Fortsetzung seiner nichtkapitalistischen Entwicklung.
2.2.2 Kooperationsbeziehungen
Eine Form der Zusammenarbeit, die bisher nur in Anfängen verwirklicht ist, sind die Kooperationsbeziehungen zwischen Ländern verschiedener Entwicklungsstufen. Folgende Formen können hier aufgezählt werden:
1) Herausbildung einfacher Kooperationsbeziehungen auf der Grundlage der konventionellen Arbeitsteilung. Das sozialistische Land beteiligt sich am Abbau oder der Produktion von Bergwerkserzeugnissen und an der Errichtung von Betrieben zur Bearbeitung landwirtschaftlicher Produkte. Die Gegenleistung besteht aus der Lieferung eines bestimmten Anteils dieser Erzeugnisse.
2) Entwicklung von Kooperationsbeziehungen unter den Bedingungen der Beteiligung des sozialistischen Staates am Aufbau von Industriebetrieben und Industriezweigen.
3) Herstellung von Kooperationsbeziehungen auf der Grundlage arbeitsteiliger Beziehungen zwischen Betrieben und Industriezweigen der Fertigwarenindustrie der Entwicklungsländer und der sozialistischen Staaten.
2.2.3 Kredite
Der Anteil der sozialistischen Staaten an der Gesamtsumme der Auslandskredite liegt bei ca. 20 %. Die Summe dieser langfristigen Kredite belief sich im Jahre 1965 auf insgesamt 7,7 Milliarden Dollar. Die Anleihen und Kredite werden zu niedrigen Zinssätzen gewährt (2 bis 2,5 %), mit einer Tilgungszeit von der Regel zwölf bis 15 Jahren. Die Kredite dienen ausschließlich dem staatlichen Sektor. Die Entwicklungsländer können selbst die Bereiche bestimmen, für die die Hilfe beansprucht wird.
2.2.4 Entwicklungsprojekte
Die von den sozialistischen Staaten gewährten Kredite dienen zu zwei Dritteln dem Aufbau der nationalen Industrie in den Entwicklungsländern. Die Wirtschaftshilfe der sozialistischen Staaten ist gerade deshalb attraktiv, weil sie komplex gestaltet ist, d. h. weil materielle Hilfe stets mit wissenschaftlich-technischer Hilfe verbunden ist. Bei dem Aufbau kreditierter Projekte wird der Importanteil möglichst gering gehalten. Die Kreditbedingungen sehen häufig vor, dass die Rückzahlung bereits mit den neu erzeugten Waren erfolgen kann.
Das bekannteste Beispiel sozialistischer Hilfe ist das Assuanstaudamm-Projekt.16 Nachdem von Expertenkommissionen die Gesamtkosten für dieses Projekt auf 415 Millionen ägyptischer Pfund veranschlagt worden war und die Internationale Bank für wissenschaftliche Entwicklung den für den Import technischer Ausrüstungen benötigten Kredit von 145 Millionen ägyptischer Pfund (1 ägyptisches Pfund = ca. 10,00 Mark) zugesagt hatte, zog sie diesen 1956 kurzfristig zurück. Im Jahre 1958 übernahm die Sowjetunion die Lieferung der Ausrüstungen und deckte mit zwei Krediten den Import dieser Anlagen, deren Tilgung erst einige Jahre später mit ägyptischen Landesprodukten begann.1960 wurde mit den Bauarbeiten auf der Grundlage einer ägyptisch-sowjetischen Vereinbarung über technisch-wissenschaftliche Unterstützung begonnen. heute sind der Aussuanstaudamm und das dazugehörende Kraftwerk nahezu vollendet. Bereits zwei Jahre lang wird Strom erzeugt, mit dem fast das ganze Land versorgt werden kann. Ein anderes bekanntes Objekt ist das mit sowjetischer Hilfe gebaute Stahlwerk Bhilai17 in Indien. Die DDR errichtet in Ceylon das größte Textilkombinat Südostasien.18 Mehr als 50 afroasiatische und lateinamerikanische Staaten erhalten ökonomische und technische Hilfe aus den Ländern des RGW. Sozialistische Staaten helfen beim Bau von rund 2 000 Industriebetrieben und anderen Projekten.
2.2.5 Kaderausbildung
Von besonderer Bedeutung ist die mit der wissenschaftlich-technischen und ökonomischen Hilfe verbundene Ausbildung hochqualifizierter einheimischer Fachkräfte, die das Niveau der wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern heben können. Über 19 000 Studenten aus den Entwicklungsländern studierten bis Ende 1966 in den RGW-Staaten. Im Zusammenhang mit den Projekten wurden in Indien 18 000 Techniker und Facharbeiter ausgebildet, in der VAR mehr als 11 000. Die Gesamtzahl der auf diese Weise ausgebildeten Facharbeiter übersteigt gegenwärtig 120 000. In diesem Zusammenhang sei auf die Entsendung von internationalen Freundschaftsbrigaden aus den sozialistischen Ländern zum Aufbau bestimmter Projekte in den Entwicklungsländern hingewiesen.
3. Stellungnahmen und Anregungen
Eine Politik gegenüber den Entwicklungsländern, die von dem Gedanken der Solidarität ausgeht, können wir als Christen voll bejahen, da auch das Evangelium uns zur Solidarität mit allen unterdrückten Menschen verpflichtet. Diese Verpflichtung besteht unabhängig davon, ob wir die Notsituation der Entwicklungsländer verschuldet haben oder nicht.
3.1 Darum sollten sich die Gemeinden diesen Problemen öffnen und sich in dieser Sache engagieren.
3.1.1 Die Gemeinden müssen lernen, dass die ökonomischen Probleme unlösbar mit politischen Problemen verbunden sind. Das in den Gemeinden verbreitete Misstrauen gegen politisches Denken und politische Lösungsversuche ist abzubauen.
3.1.2 Die Gemeinden sollten anerkennen, dass der wissenschaftliche Sozialismus für den zukünftigen Weg der Entwicklungsländer von großer Bedeutung sein wird.
3.1.4 Damit die DDR – ein hochindustrialisierter Staat – in die Lage versetzt wird, ihre Beziehung zu den Entwicklungsländern zu erweitern, sollten die Christen die wirtschaftliche und politische Stärkung der DDR mit allen Kräften fördern (Anerkennung der DDR, Aufnahme in die UNCTAD, Steigerung der Arbeitsproduktivität).
3.2 Die Gemeinden sollten alle Gelegenheiten nutzen, den staatlichen Behörden gegenüber die Dringlichkeit der Probleme zu betonen und ihre Bereitschaft zur Mitarbeit zu erklären.
3.2.1 Um ein sachliches Urteil zu ermöglichen und die Mitarbeit zu fördern, muss die Information durch ständige Rubriken in den Tageszeitungen, im Hör- und Fernsehfunk, intensiviert werden.
3.2.2 Solange die Probleme der Entwicklungsländer nicht gelöst sind, verbietet es der Gedanke der Solidarität, alle Anstrengungen die Erhöhung des eigenen Lebensstandards zu konzentrieren. Diese Zielstellung, die meist auf die Erreichung des Lebensstandards der BRD fixiert ist, muss im Blick auf die Entwicklungsländer korrigiert werden.
3.2.3 Da die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen der sozialistischen Staaten in vielen Punkten weitaus günstiger sind als die westliche Entwicklungshilfe, ist eine Ausweitung dieser Beziehungen anzustreben. Darüber hinaus sollten die sozialistischen Staaten in verstärktem Maße bereit sein, auf die Interessen der Entwicklungsländer einzugehen und gegebenenfalls Einbußen hinzunehmen, wenn Abkommen zu beiderseitigem Nutzen nicht voll zu verwirklichen sind.
3.3 Die Kirchen sollten die dargestellten Probleme in ihre Arbeit und in ihr Denken einbeziehen.
3.3.1 Eine wesentliche Aufgabe der Kirche besteht darin, die Erziehung der Jugend und der Erwachsenen zum verantwortlichen Denken in weltweiten politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Fragen zu fördern. Die Unterrichtspläne für die Christenlehre und den Konfirmandenunterricht müssen daraufhin geprüft und ausgerichtet werden.
3.3.2 Die kirchlichen Hilfsprogramme (Brot für die Welt) müssen immer wieder kritisch daraufhin befragt werden, ob sie wirklich effektiv und angemessen sind. Eine starke Koordinierung und Zusammenarbeit mit den staatlichen Maßnahmen sollte dabei Zielgedanke sein. Auf eine Kennzeichnung als kirchliche Hilfe kann verzichtet werden.
3.3.3 Kirchliche Finanzprogramme sollten beispielhaft zeigen, dass man bereit ist, auf Vorhaben zu verzichten, die zwar verwirklicht aber den Menschen in den Entwicklungsländern gegenüber nicht gerechtfertigt werden können.
Berlin, im März 1970
Nur für den innerkirchlichen Dienstgebrauch!