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Einleitung 1970

Einleitung 1970
Ronny Heidenreich

1. Das Jahr 1970: Ein historischer Überblick

»Zwischen beiden deutschen Staaten […] kann es keine innerdeutschen Beziehungen oder Sonderreglungen bzw. eine Annäherung geben.«1 Mit diesen klaren Worten eröffnete Gerhard Heidenreich, ranghöchster SED-Funktionär im Ministerium für Staatssicherheit, am 20. Januar 1971 die Parteiversammlung in der Normannenstraße. Heidenreichs Ausführungen standen nicht alleine. Auch Minister Erich Mielke oder der Chef des Auslandsgeheimdienstes HV A Markus Wolf stießen ins gleiche Horn: Aus der »Neuen Ostpolitik« der westdeutschen Regierung unter Willy Brandt resultierten für die DDR auf allen Ebenen in erster Linie Gefahren, die es mit geheimpolizeilichen Mitteln abzuwehren galt.2

Die Besorgnis der Stasi-Führung kam nicht aus dem Ungefähren. Das zurückliegende Jahr 1970 hatte deutschlandpolitisch grundstürzende Neuerungen mit sich gebracht. 25 Jahre nach Kriegsende trafen sich am 19. März 1970 die Regierungschefs von Ost- und Westdeutschland zu einem ersten Gipfeltreffen in Erfurt. Knapp zwei Monate später wurde DDR-Ministerpräsident Willi Stoph von Bundeskanzler Willy Brandt in Kassel empfangen. Die Bilder von den jubelnden Menschenmassen vor dem Erfurter Hauptbahnhof gingen um die Welt.3 Auch wenn die Begegnungen ohne unmittelbare politische Folgen blieben, nährten sie bei vielen in der DDR fast zehn Jahre nach dem Mauerbau Hoffnungen auf Erleichterungen, namentlich im Reiseverkehr. Ebenso versprachen sie ein Ende der konfrontativen Phase des Kalten Krieges in Europa. Die sozialliberale Koalition unter Willy Brandt setzte auch hier Marksteine. Am 12. August 1970 wurde in Moskau ein Abkommen zwischen der Bundesregierung und der Sowjetunion geschlossen. Mit dem Warschauer Vertrag vom 9. Dezember 1970 erkannte nun auch die Bundesrepublik die Westgrenze Polens offiziell an und leistete damit einen wichtigen Beitrag zur deutsch-polnischen Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Kniefall Willy Brandts zwei Tage zuvor am Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghettoaufstandes 1943 hatte eine nicht minder starke Symbolkraft als die »Willy, Willy«-Rufe in Erfurt zu Jahresbeginn. Der Staatsbesuch des Bundeskanzlers war auch für die polnische Führung ein außenpolitischer Erfolg, der aber wenige Tage später von einem Aufstand überschattet wurde. Es kam landesweit zu gewaltsamen Protesten, die sich auch mit Einsatz von Polizei und Militär nicht niederschlagen ließen. Teile der polnischen KP-Führung, darunter der seit 1956 amtierende Parteichef Władysław Gomułka, traten am 20. Dezember 1970 zurück.4

Parteichef Walter Ulbricht sah in der »Neuen Ostpolitik« Brandts nicht nur Gefahren, sondern auch die Chance, politisches Kapital zu schlagen: die internationale Anerkennung der DDR und daraus folgend gleichberichtigte Beziehungen zur Bundesrepublik.5 Entsprechend verkündete er Ende 1969 parteiintern in Erwiderung auf die Grundsatzrede Willy Brandts zur Deutschlandpolitik eine »neue Westpolitik«, die »sich gewaschen hat«.6 Mit seinem offensiven Annäherungskurs stieß Ulbricht aber auf Vorbehalte – nicht nur innerhalb der eigenen Parteiführung, auch in Moskau. Die sowjetische Führung stimmte zwar den von Ulbricht gewollten deutsch-deutschen Begegnungen zu, drängte aber auf eine Zurückstellung weitergehender Gespräche oder gar Verhandlungen. Eine solche Zurückhaltung schien auch anderen SED-Funktionären, insbesondere Ulbrichts Stellvertreter Erich Honecker, der einzig richtige Weg.

Nicht nur in der Frage der Deutschlandpolitik brachen 1970 Richtungskämpfe innerhalb der SED-Führung aus. Ein zweiter Streitpunkt war die Wirtschaftspolitik. Die von Ulbricht nach dem Mauerbau angestoßene wirtschaftliche Liberalisierung und Modernisierung der DDR-Wirtschaft (offiziell 1963 unter dem Schlagwort NÖSPL = Neues Ökonomisches System der Planung und Leitung eingeführt) war Ende der 1960er-Jahre in schwieriges Fahrwasser geraten.7 Zwar war der Lebensstandard in der DDR seit Beginn des Programmes kontinuierlich gestiegen, doch führte dieser auch zu einer erhöhten Nachfrage, die nicht mit den vorhandenen Produktionskapazitäten in Einklang zu bringen war. Denn Ulbrichts Wirtschaftspolitik hatte sich auf innovationsträchtige Industriebereiche wie die Automatisierung und Elektrotechnik konzentriert und die Investitionen entsprechend gelenkt, wobei andere Bereiche ins Hintertreffen gerieten. Besonders deutlich wurden die Verwerfungen bei Konsumgütern. Die daraus resultierenden Engpässe hatten wiederum eine Versorgungskrise zur Folge. Ihr Ausmaß blieb zwar weit unter dem der 1950er-Jahre, fiel aber eben gerade angesichts des gestiegenen Lebensstandards und dem von Ulbricht versprochenen Aufschwung stärker ins Gewicht. Die Frage, wie auf diese Verwerfungen zu reagieren sei, spaltete die SED-Führung. Ulbricht zeigte sich zu Korrekturen seines NÖSPL bereit, ohne aber die Grundlinie zu verändern. Andere, namentlich Honecker, plädierten hingegen für einen grundlegenden Wechsel: zurück zu einer dirigistischen Planwirtschaft und einer Steigerung der Konsumgüterproduktion.

Die Staatssicherheit als Geheimpolizei und Nachrichtengeber der SED-Führung musste sich in diesem Machtkampf positionieren. Auf welcher Seite die Sympathien von Stasi-Chef Mielke lagen, war für Eingeweihte kein Geheimnis. Bereits Ende 1969 bezog er auf der 12. ZK-Sitzung offen Position gegen die Neuausrichtung der Deutschlandpolitik Ulbrichts.8 Gleichwohl blieb die Staatssicherheit der gesamten Partei verpflichtet, weshalb sich eine Parteinahme solange verbot, bis der Machtkampf soweit entschieden war, dass Mielke Gefahren für sich und sein Ministerium ausschließen konnte. Wie sich dieser Prozess im Lichte der Berichte an die Parteiführung darstellte, zeigen die ZAIG-Informationen des Jahres 1970.

2. Ausgewählte Themenfelder der Berichte

Auf den ersten Blick weisen die Themen die ZAIG-Berichte aus dem Jahr 1970 im Vergleich zu anderen Jahrgängen kaum Besonderheiten auf. Das MfS informierte die Partei- und Staatsführung über Sicherheitsfälle wie Fluchten und Grenzzwischenfälle sowie Protesthandlungen. Ein zweiter Schwerpunkt zeichnet sich auf dem Wirtschaftsgebiet ab, wobei wiederum Havarien, Störungen und Fälle vermuteter Misswirtschaft und Korruption Anlass für die Unterrichtungen boten. Vor allem aber standen die vermeintlichen Reaktionen der DDR-Bevölkerung auf die deutschlandpolitischen und internationalen Ereignisse des Jahres im Vordergrund.

2.1 Erfurt und Kassel

Seit der Regierungserklärung und Verkündung der »neuen Ostpolitik« durch Willy Brandt am 28. Oktober 1969 kam es zu einem diplomatischen Tauziehen zwischen der SED-Führung und der westdeutschen Regierung: Die DDR strebte nach völkerrechtlicher Anerkennung und wollte, dass die Bundesrepublik ihren Alleinvertretungsanspruch aufgab. Daher pochte sie auf Verhandlungen auf Augenhöhe und drängte auf den Abschluss eines bilateralen Vertrages. Die Regierung Brandt war zwar grundsätzlich zu Konzessionen bereit, um die deutsch-deutsche Verständigung voranzubringen, aber aus innenpolitischen Erwägungen – die »neue Ostpolitik« war in der Bundesrepublik hoch umstritten – war sie nicht bereit, die Forderungen der DDR zu erfüllen. Was blieb, war ein Briefwechsel. Die am 11. Februar 1970 von Willi Stoph übergebene Antwort auf ein Schreiben Brandts enthielt den Vorschlag, wenn schon nicht zu Verhandlungen, so doch wenigstens zu einem Treffen zusammenzukommen. Diesen Minimalkonsens griff Bundeskanzler Willy Brandt auf: Am 18. Februar ließ er per Fernschreiben ausrichten, die Bundesregierung sei zu einem Treffen bereit. Die Umsetzung des Planes drohte allerdings an vordergründig protokollarischen Fragen zu scheitern. Beide Parteien hatten Ostberlin als Treffpunkt im Auge. Allerdings beharrte die Bundesregierung auf einer Anreise über Westberlin, während die SED-Führung auf eine Landung Brandts in Berlin-Schönefeld bestand. Es war nun der Bundeskanzler, der vorschlug, das Treffen an einem anderen Ort stattfinden zu lassen. Die Wahl fiel auf Erfurt. Am 12. März 1970 verkündeten die Medien in Ost und West, Willy Brandt werde genau eine Woche später in der thüringischen Hauptstadt (damals Bezirkshauptstadt) eintreffen.9

Für Ulbricht, der Brandt gern persönlich begrüßt hätte, diesen Triumph aber nach Widerständen aus der SED-Führung und Moskau seinem Regierungschef Willi Stoph überlassen musste, war der Durchbruch trotzdem ein Erfolg. Die ostdeutschen Zeitungen titelten »DDR-Vorschlag führte zur Übereinkunft«,10 verschwiegen damit aber, dass Brandt den entscheidenden Anstoß gegeben hatte. Während das Politbüro am 17. März die letzten Fragen im Zusammenhang mit dem Treffen klärte, wurde in der ZAIG ein Bericht über vermeintliche Reaktionen aus der Bevölkerung auf das bevorstehende Treffen verfasst.11 Die Zustellung erfolgte allerdings erst ab dem Morgen des 18. März 1970, sodass die Unterlage auf der Sitzung des Parteigremiums keine Wirkung entfalten konnte. Im Unterschied zu ähnlichen »Stimmungsberichten« hatte dieses Papier einen vergleichsweisen breiten Verteiler. Neben Parteichef Ulbricht erhielten es sein Stellvertreter Erich Honecker, Regierungschef Willi Stoph, Politbüromitglied Alfred Neumann und der Leiter der Agitationskommission des Zentralkomitees, Werner Lamberz. Der Tenor des Berichtes war geeignet, Wasser in den Wein zu gießen. Zwar sei »Zustimmung« zum Treffen in der Bevölkerung zu verzeichnen, doch richte sich diese auf die aus Sicht des MfS falschen Punkte. Problematisch seien die verhältnismäßig großen »ideologisch-politischen Unklarheiten«, namentlich das Anwachsen der Popularität Brandts und der Bundesrepublik (in den Worten des MfS: »Aggressivität des westdeutschen Imperialismus«). Hinzu kämen »Spekulationen und illusionäre Vorstellungen« über die möglichen Ergebnisse des Treffens wie beispielsweise Reiseerleichterungen oder gar eine Öffnung der Grenzen, was an den Grundpfeilern des SED-Staates zu rütteln drohte.12 Solche Warnungen waren in der Sache nicht neu. Die Parteipresse versuchte, die offensichtlich überschäumenden Erwartungen zu bremsen und bezog sogar öffentlich zur Frage von Reiseerleichterungen Stellung.13 Insgesamt sei die Stimmung in der Sache positiv, in der Richtung aber tendenziell gefährlich, so die Einschätzung der ZAIG. Unübersehbar war das große öffentliche Interesse, was auch andere Berichte aus dem Partei-, Polizei- und MfS-Apparat zeigen, wonach sich viele auf den Weg nach Erfurt machen wollten, um dem Treffen beizuwohnen.14

Insofern war ein Menschenauflauf am Morgen des 19. März 1970 vor dem Erfurter Hauptbahnhof alles andere als eine Überraschung. Dass die begeisterten Menschen schließlich die Sperren durchbrachen, um Willy Brandt zuzujubeln, und dass dieser wiederum an das Fenster seines Hotelzimmers trat, um die Menge zu beruhigen, war für die SED eine absolute Blamage. Der Schwere des »Zwischenfalls« angemessen befasste sich am 25. März und 15. April 1970 ein Untersuchungsausschuss des Zentralkomitees unter Leitung des für Sicherheitsfragen zuständigen Erich Honecker mit den Ereignissen.15 Zentral war die Frage, wie es zu dem Menschenauflauf hatte kommen können.

In der Kritik stand vor allem das MfS. Die Stasi hatte sich ausdrücklich die Absicherung des unmittelbaren Bahnhofsgeländes vorbehalten und war damit für die Ereignisse direkt verantwortlich. Staatssicherheitsminister Erich Mielke, der sich neben dem Erfurter Parteichef Alois Bräutigam, Polizeichef Friedrich Dickel und anderen ranghohen Vertretern des Staats- und Sicherheitsapparates den Fragen der ZK-Kommission stellen musste, wies jegliche Verantwortung von sich. Mielke zog sich in seiner Argumentation auf einen von ihm erlassenen Einsatzbefehl zurück, der klar von der Einrichtung einer Bannmeile im Umfeld des Hauptbahnhofes sprach.16 Die Staatssicherheit selbst übernahm die Absicherung des Bahnhofsvorplatzes, während sich die Volkspolizei auf das umgebende Gelände zu beschränken hatte. Dass der Einsatz schiefging, sei auf Versäumnisse der Volkspolizei zurückzuführen.

Mielke und sein Stellvertreter Bruno Beater verteidigten sich, indem sie immer wieder auf die vermeintlich angeordnete Bannmeile hinwiesen. Der Erfurter SED-Chef Alois Bräutigam und Aussagen aus den Reihen der Volkspolizei zeichnen aber eine andere Befehlslage: Nach ihrer Erinnerung sei es eben das MfS gewesen, dass die Aufweichung der Bannmeile angeordnet habe. Letzten Endes ging es um die Frage, wer wann die Entscheidung gefällt hatte, an einer Seite des eigentlich vollständig abzusperrenden Bahnhofsplatzes Publikumsverkehr zuzulassen, der nur von schwachen Polizeikräften abgesichert wurde. Wie Bräutigam sich erinnerte, sei es der MfS-Offizier Franz Gold, Leiter des Personenschutzes und ranghöchster Stasi-Vertreter vor Ort gewesen, der ausdrücklich ein »normales Leben« gefordert habe.17 Gold, der als einziger Hauptverantwortlicher des Sicherheitsapparates nicht persönlich vor dem Ausschuss erscheinen musste, bezeichnete solche Einlassungen in einer schriftlichen Stellungnahme für das ZK rundweg als Lüge.18

In der internen Stellungnahme von Gold las sich dieser entscheidende Punkt ein wenig anders. Zwar blieb er wie sein Minister dabei, dass das Hauptversagen bei der Volkspolizei gelegen habe. An anderer Stelle unterlief ihm aber in seiner sonst so wasserdichten Argumentation ein Fehler: Gold wehrte sich gegen den Vorwurf, »die Personenschleuse in der Bahnhofstraße« sei für die Ereignisse erheblich gewesen und bestätigte damit, dass die von Mielke behauptete Bannmeile tatsächlich aufgehoben worden war.19 Noch deutlicher wurde der Stellvertreter von Franz Gold. Seine Stellungnahme enthält das pikante Detail, dass die Absicherung des Bahnhofsvorplatzes eigentlich Aufgabe der Erfurter MfS-Kreisdienststelle gewesen sei und die Berliner Zentrale erst kurzfristig am 15. März die Zuständigkeit an sich gezogen habe. Es sei dann schließlich sein Vorgesetzter Franz Gold gewesen, der unter Verweis auf die wichtige »Hauptverkehrsstraße« verfügt hatte, dass die Bahnhofsstraße und Teile des Gehweges des Bahnhofsvorplatzes für den Fußgängerverkehr freizuhalten seien. Diese Anordnung Golds bestätigte auch der stellvertretende Leiter der Bezirksverwaltung Erfurt. Nach seiner Einschätzung war diese Anordnung »Schwerpunkt« des Problems und Hauptursache des Menschenauflaufes gewesen.20 Wie der Bericht weiter vermerkt, sammelten sich am frühen Morgen des 19. März die ersten Gruppen von Jugendlichen exakt in den Bereichen, die Gold zur Offenlassung vorgesehen hatte.21 Anstatt diese zu zerstreuen, sei er nach Rücksprache mit den verantwortlichen MfS-Offizieren übereingekommen, diese zunächst zu beobachten. Erst um halb neun habe man vergeblich Verstärkung angefordert.

Dass diese nicht eintraf, lag nach übereinstimmender Aussage an unzureichenden Nachrichtenverbindungen, weil die einzelnen Volkspolizeieinheiten – nicht aber die Staatssicherheit – untereinander keinen Kontakt hatten. Dabei hatte die Volkspolizei noch am Vorabend auf die völlig unzureichenden Nachrichtenverbindungen hingewiesen und von der Staatssicherheit die Empfehlung erhalten, auf Funkverkehr auszuweichen.22 Am Morgen des 19. März war aber Funkstille angeordnet worden. Nach Aussage des mit der Vorbereitung des Treffens befassten Leiters der ZK-Abteilung Staats- und Rechtsfragen Klaus Sorgenicht sei dies auf Anweisung des stellvertretenden Staatssicherheitsministers Bruno Beater persönlich unter Verweis auf angebliche westliche Manöver in Grenznähe erfolgt.23 Um das Problem zu lösen, wandten sich die zuständigen VP-Offiziere vor Ort am 19. März 1970 vergeblich an die Staatssicherheit mit der Bitte, Lagemeldungen zu erhalten und die Durchstellung von Befehlen an die Polizeikräfte zu übernehmen.24

Das Chaos wurde durch die kurzfristige Entscheidung verschärft, nun doch noch ausgewählte Zivilisten auf dem Bahnhofsvorplatz zuzulassen. Nach MfS-interner Einschätzung sei dies auf Wunsch der Erfurter Parteiführung geschehen. Diese wiederum soll entsprechende Anweisungen von Propagandachef Alfred Norden erhalten haben.25 Bei den »Zivilisten« handelte es sich um ausgesuchte Schüler und Schülerinnen der Bezirksparteischule. Damit war die Bannmeile vollständig hinfällig geworden. Die Vertreter des MfS nahmen diese Entscheidung kritiklos zur Kenntnis, nach eigener Einlassung von Franz Gold habe er diese Entscheidung sogar »positiv« bewertet.26 Der Erfurter Polizeichef hingegen habe noch am Abend des 18. März bei der Staatssicherheit angerufen und Bedenken gegen die praktische Aufhebung der Bannmeile geäußert. Ihm sei erwidert worden, »ob Bannmeile oder wirksame Absperrmaßnahmen, wie sie besprochen worden sind, kann nicht der Grund zu philosophieren sein. Sondern es kommt darauf an, eine wirksame Sicherung zu gewährleisten.«27 Das Durcheinander war perfekt: Da Volkspolizei überwiegend nicht in Uniform, das MfS auf dem Bahnhofsvorplatz ebenso wie die Parteischüler in Zivil eingesetzt waren, hätte sich selbst bei einer frühzeitigen Räumung nicht unterscheiden lassen, wer Freund und Feind war.28 Der Schwarze Peter lag letztlich bei der Volkspolizei. Dem auf dem Bahnhofplatz diensthabenden VP-Offizier Herda wurde später vorgeworfen, er habe den Durchbruch durch die Sperrketten ausgelöst, weil er einen Straßenbahnwagen vor die Menschenmassen hatte schieben lassen. Der Innenminister sah darin einen taktischen Fehler und tadelte Herda. Dieser allerdings wollte sich offenbar mit der ihm zugeschriebenen Rolle nicht abfinden und wähnte ausgerechnet in dem stellvertretenden Erfurter Stasichef Greiner einen Verbündeten. Greiner berichtete von einem Anruf Herdas, der sich nach dem Namen des »Berliner« MfS-Offiziers erkundigt habe, welcher ihm am Morgen des 19. März die Aufhebung der Sperrkette befohlen habe, infolge dessen die Menschenmassen auf den Platz geströmt seien. Greiner gab zu Protokoll, dass er »eine solche Anweisung durch einen Genossen des MfS nicht wahrgenommen habe.« und verneinte damit, dass ein solcher Befehl der Staatssicherheit ergangen sei.29

Die eingehende Erörterung solcher Detailfragen war dem ZK-Gremium nicht möglich. Die offiziellen Stellungnahmen des MfS umschifften sämtliche kritische Punkte und schoben jegliche Verantwortung für die Eskalation der Lage auf die Volkspolizei. Dem Wortprotokoll der Verhöre zufolge wurden aber auch offensichtliche Widersprüche nicht erörtert. An einer abschließenden Aufklärung hatte das Gremium vermutlich kein Interesse. Entsprechend schwammig formuliert war dann auch der Beschluss der Untersuchungskommission.30

Klar ist, dass der aus dem Ruder gelaufene Empfang Brandts in Erfurt jenen in die Hände spielte, die das Treffen bzw. die Annäherungspolitik Ulbrichts kritisch sahen. Allen voran Honecker, der nun die Aufklärung der Vorfälle übertragen bekam und den Parteichef schriftlich über das Ergebnis der Untersuchung in Kenntnis setzte.31 Während das Innenministerium wenigstens offiziell eine Teilschuld eingestand, ging das MfS unbeschadet aus der Affäre hervor.32 Der Hauptverantwortliche Franz Gold wurde als Sicherheitschef für die Vorbereitung des Gegenbesuches von Willi Stoph in Kassel am 21. Mai 1970 bestimmt. Ob Honecker gezielt mit Mielke konspirierte, um Ulbricht zu schaden und die Annäherungspolitik als gefährlich zu diskreditieren, wird abschließend nicht zu beweisen sein. Plausibel scheint eine solche Annahme durchaus. Zumal bereits zeitgenössisch selbst sowjetische Sicherheitskreise in Kenntnis der Friktionen innerhalb der SED-Führung solche Annahmen streuten.33

Vielleicht um den Vorfall herunterzuspielen, stellte die ZAIG zwei Tage vor der zweiten Anhörung im ZK einen weiteren Stimmungsbericht über das Treffen in Erfurt fertig.34 Im Gegensatz zur medialen Aufmerksamkeit, die die Erfurter Ereignisse weltweit hervorgerufen hatten, betont der Bericht einleitend, dass die Aufmerksamkeit in der DDR eine »stark rückläufige Tendenz zeigt und gegenwärtig keinen Schwerpunkt mehr darstellt«. Kritisch hervorgehoben und damit potenziell gefährlich bleibe die wachsende Popularität Brandts in der DDR. Von einer Fortsetzung der Gespräche in Kassel, wie sie bereits öffentlich angekündigt war, hielten in der DDR-Bevölkerung selbst diejenigen kaum etwas, die in die Erfurter Begegnung noch Hoffnungen gesetzt hätten.

Der Grundtenor dieser Aussage spiegelte die Linie Moskaus und der Honecker-Fraktion: Eine Fortsetzung der deutsch-deutschen Gespräche sollte unterbleiben und das bereits zugesagte Treffen in Kassel der vorläufige Schlusspunkt sein. Während das MfS und Honecker die These einer Destabilisierung der DDR vertraten, wollte die sowjetische Seite ihre eigenen laufenden Gespräche mit der westdeutschen Regierung nicht stören.35 Das MfS unterrichtete die Parteiführung eingehend und sehr viel umfangreicher als beim Erfurter Gipfeltreffen über die Vorbereitungen und Reaktionen der Bevölkerung.36 Die Berichte wurden in die vorliegende Edition nur aufgenommen, wenn das MfS potenzielle Rückwirkungen auf die DDR erwartete wie Protestaktionen entlang der innerdeutschen Grenze.37 Hinsichtlich der Reaktionen der DDR-Bevölkerung legte die ZAIG erst neun Tage nach dem Besuch Stophs eine Einschätzung vor. Der Bericht vom 30. Mai 1970 ging an Honecker, Stoph und Lamberz.38 Einleitend wurde – wie bereits angekündigt – ein verhaltenes Echo konstatiert. Insgesamt seien »Tendenzen des Abwartens und der Zurückhaltung« zu beobachten. Was Mielke noch im Nachgang zum Erfurter Treffen zurückhaltend formuliert hatte, wurde nun offen angesprochen: Es bestünden »starke Zweifel an konkreten Ergebnissen des Treffens«. Ein zweiter, drei Tage später verfasster Bericht, der neben den Genannten nun auch dem Außenpolitikchef des Politbüros Albert Norden zugehen sollte und im Wesentlichen die gleichen Grundaussagen enthielt, wurde nicht mehr abgesetzt.39 Neu war die Hervorhebung empörter Reaktionen der DDR-Bürger auf die rechten und teils von Neonazis organisierten Proteste während Stophs Auftritt in Kassel, vor denen das MfS bereits im Vorfeld ausführlich gewarnt hatte.40 Diese auch von der SED-Presse in der DDR gemeldeten Zwischenfälle41 bewirkten nach Einschätzung des MfS zumindest in Teilen der Bevölkerung ein Umdenken: Das bislang so positive Bild der Bundesrepublik habe dadurch Schaden erlitten. Nicht ohne Genugtuung meldete die Staatssicherheit, dass nun »auch solche Personen positiv in Erscheinung« getreten seien, »die zu anderen Anlässen als politisch desinteressiert eingeschätzt wurden.«

2.2 Moskau und Warschau

Das vom MfS mit Genugtuung aufgenommene Ende der deutsch-deutschen Verhandlungen wurde von der Annäherung der Moskauer Führung an die Bundesrepublik überschattet. Ulbricht versuchte in den Sommermonaten letztlich vergeblich, den von Moskau gesteckten Rahmen für die Weiterentwicklung der geknüpften deutsch-deutschen Kontakte auszuweiten. Er setzte weiterhin auf eine Fortführung der Gespräche in Form von Arbeitskreisen und war sogar bereit, Fragen »menschlicher Erleichterungen« in die Tagesordnung aufzunehmen. Die Honecker-Fraktion bekräftigte in den internen Diskussionen weiterhin die Gefahr einer Destabilisierung durch Annäherung und sie beharrte auf der Forderung nach diplomatischer Anerkennung; wohlwissend, dass damit eine rote Linie der Bundesregierung überschritten wurde. Entschieden wurde über diese widerstreitenden Positionen letztlich in Moskau. Parteichef Breshnew gab der Honecker-Fraktion Ende August 1970 zu verstehen: »Es gibt, kann und es darf zu keinem Prozess der Annäherung der DDR und der BRD kommen.« Walter Ulbricht wurde die Ablehnung weniger deutlich kommuniziert, auch wenn am Ende das gleiche Ergebnis stand: keine weiteren Gespräche mit der westdeutschen und Westberliner Seite.42

Hinsichtlich der sowjetischen Gespräche mit der Bundesregierung waren dem MfS – wie auch der SED-Führung – die Hände gebunden. Mielke und HV-A-Chef Markus Wolf bezogen dennoch bereits 1969 in Moskau gegenüber dem KGB deutlich Stellung. Neben der Gefahr einer Unterwanderung der DDR stand vor allem die Befürchtung im Vordergrund, bilaterale Annäherungen, wie sie die westdeutsche Regierung 1970 mit dem Moskauer und Warschauer Vertrag erreicht hatte, würden die Forderung der DDR nach diplomatischer Anerkennung durch das eigene Lager unterminieren und die Geschlossenheit des sozialistischen Weltlagers aufweichen. Mielke nutzte einen Besuch von Abgesandten der KGB-Führung Mitte Januar 1970 in Ostberlin, um seine Warnungen zu wiederholen. Die ZAIG fertigte hierfür eine Redeunterlage, in welcher die bereits bekannten Schlagworte von »Zersetzung« (der DDR) und »Spaltung« des sozialistischen Lagers wiederholt wurden.43 Im Juni weilte Mielke nochmals mit anderen ranghohen MfS-Generalen in Moskau und warnte nun auch KGB-Chef Juri Andropow, dass auch der »große Bruder« – ähnlich wie Ulbricht – die Gefahren des »westdeutschen Imperialismus« falsch einschätzen würde.44

Verhindern konnte die Staatssicherheit mit diesen Interventionen den Moskauer Vertrag nicht. Politisch war die Unterzeichnung für jene eine Niederlage, die darauf gehofft hatten, die Sowjetunion würde der SED den Rücken stärken. Letztlich hatte sich die Moskauer Führung aber entschieden, auf die völkerrechtliche Anerkennung der DDR zugunsten des Vertragsabschlusses mit Brandt am 12. August 1970 zu verzichten. Die offizielle Lesart freilich musste anders lauten: Wie Breshnew der SED-Führung zu verstehen gab, sei man mit dem Vertrag letztlich »einen großen Schritt vorwärts[gekommen]«, um die von Ostberlin gewünschte internationale Anerkennung zu erreichen.45 In dieser Richtung argumentierten auch die ersten im Politbüro zirkulierenden Papiere. Der eigentlich anzunehmende politische Schaden, so ein erstes Meinungsbild, das die Nationale Front Albert Norden bereits am 13. August 1970 übermittelte, sei praktisch nicht eingetreten. Der Abschluss des Moskauer Vertrages werde »allgemein begrüßt« und schaffe in Umkehrung der Argumentation des MfS neue und bessere Voraussetzung für eine internationale Anerkennung der DDR. Zu befürchten sei lediglich, dass die mit dem Vertrag von der Regierung Brandt bekundete politische Linie zu keinen »praktischen Ergebnissen« führen werde, was der Popularität des westdeutschen Kanzlers im eigenen Land aber keinen Abbruch tue.46

Kurz nach Unterzeichnung des Vertrages reiste eine Politbürodelegation nach Moskau, um dort die oben angeführten politischen Richtlinien für die Deutschlandpolitik in Empfang zu nehmen. Erich Honecker kehrte früher als Ulbricht nach Ostberlin zurück. Für den 25. August setzte er kurzfristig eine Beratung des Politbüros an. Wichtigster Tagesordnungspunkt war die formale Bestätigung der in Moskau gegebenen Direktiven und die Einschwörung der Parteiführung auf den vorgegebenen Kurs.47 Die ZAIG fertigte am Tag zuvor einen Stimmungsbericht über Reaktionen auf die Reise Brandts in die Sowjetunion.48 Das Papier wurde noch am gleichen Tag Honecker zugestellt. Die übrigen Adressaten wie Werner Lamberz, Albert Norden, Ideologiechef Kurt Hager, Hermann Axen (Mitglied der Agitationskommission des Politbüros) und Außenminister Otto Winzer erhielten die Ausarbeitung erst später zugestellt. Walter Ulbricht als Parteichef erhielt den Bericht hingegen nicht.

Der Inhalt liest sich ambivalent. Einerseits wurde hervorgehoben, dass »Diskussionen über die von der Partei- und Staatsführung der UdSSR durchgeführte Politik – besonders im Zusammenhang mit der Deutschlandfrage« in breiten Teilen der Bevölkerung geführt würden. In Übereinstimmung mit den Vorgaben aus Moskau hieß es ferner, der Vertrag sei eine wertvolle Hilfe für die Bemühungen der DDR um internationale Anerkennung. Deutlich kritischer verwies das MfS auf eine Reihe von »Spekulationen« wie ein verbreitetes Verständnis für die Konzessionsbereitschaft der Bundesrepublik und der Sowjetunion, die im Gegensatz zur Halsstarrigkeit der DDR stehe. Gleichzeitig sei aber auch Verständnislosigkeit über die »neue sowjetische Politik« und den Zwang zu »Kompromissen« gegenüber der BRD festzustellen. So würde in der Bevölkerung diskutiert, ob sich die Sowjetunion über die DDR hinweggesetzt habe. Mehr noch werde daraus abgeleitet, dass es wahrscheinlich nicht nur Friktionen zwischen der DDR-Führung und dem Kreml gebe So sei augenscheinlich auch die SED-Führung uneins, die in Teilen »offenbar große Schwierigkeiten [habe], die ›gemäßigtere, neue Politik der UdSSR‹ zu verstehen«. Das konnte bei den eingeweihten Lesern im Politbüro als Spitze gegen Ulbricht verstanden werden. Allein die Thematisierung der tatsächlich seit Monaten schwelenden »Führungskrise« durch das MfS dürfte für Honecker politisch nützlich gewesen sein – zumal Breshnew sein Unbehagen über die Uneinigkeit der Ostberliner Führung klar zum Ausdruck gebracht und ihm den Auftrag erteilt hatte, diesen Zustand zu beenden.49 Honecker nutzte die Politbürositzungen am 25. August und 1. September 1970, um die noch schwankenden Mitglieder der Parteiführung auf die Moskauer Linie (und gegen Ulbricht) einzuschwören.

Der Bericht der ZAIG könnte bei diesen Bemühungen eine Rolle gespielt haben. Auffällig ist, dass die Versendung abgesehen von Honeckers Exemplar nicht wie üblich über die ZAIG erfolgte, sondern direkt durch das Sekretariat des Ministers. Auch dort ist er in den sonst akribisch geführten Postausgangsbüchern nicht nachzuvollziehen.50 Dass Mielke den Bericht streute, ist anhand einzelner überlieferter Anschreiben nachweisbar. Zu den SED-Funktionären, die nachträglich ihre Zustimmung im Politbüro dokumentieren mussten, gehörte beispielsweise Werner Lamberz. Lamberz erhielt den Bericht 863/70 von Mielke persönlich und »vereinbarungsgemäß« mit der Bitte, ihn »keinesfalls weiterzugeben und nach Durcharbeitung unbedingt an mich zurückzusenden«.51

Am 28. September 1970 legte die ZAIG einen an Mielke gerichteten Ergänzungsbericht über Reaktionen auf den Moskauer Vertrag vor, der vermeintliche Äußerungen namhafter Wissenschaftler zusammenfasste. Diese, so die Information 1268/70, würden im Kleinen bestätigen, wovor man im Großen bereits gewarnt habe: Das mit dem Vertragsabschluss verstärkte Engagement der westdeutschen Politik und Industrie werde, so die Befürchtung, auf Kosten der Kontakte zwischen DDR-Wissenschaftlern und den sowjetischen Kollegen gehen. Der Bericht formulierte Klartext: »Die Aufrichtigkeit der Beziehungen der UdSSR zur DDR« werde »in Zweifel gestellt«. Das zur Verteilung im Politbüro gedachte Papier wurde allerdings zurückgehalten und verschwand in der Ablage Mielkes. Die Zurückhaltung des Ministers war Ergebnis einer Neupositionierung der Staatssicherheit. Angesichts der mit Vertragsunterzeichnung geschaffenen Fakten und unmissverständlicher Vorgaben aus Moskau ordnete sich die Geheimpolizei den politischen Gegebenheiten unter. Die zuvor geübte deutliche Kritik an der Moskauer Führung verbot sich nunmehr.52

Ähnlich argwöhnisch wie den Moskauer Vertrag verfolgten SED und MfS die westdeutsch-polnischen Gespräche, die am 7. Dezember 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages führten. Die Gründe waren ähnlich: In Ostberlin fürchtete man eine Herabsetzung der bilateralen Beziehungen zugunsten Willy Brandts. Spiegelbildliches hatte die polnische Seite bezeichnenderweise während der Gespräche über Erfurt und Kassel der DDR vorgeworfen. Für Polens Parteichef Władysław Gomułka überwog allerdings wie bei Ulbricht das außenpolitische Renommee. International bedeutsam war die mit dem Vertrag erreichte Anerkennung der Westgrenze nach dem Görlitzer Abkommen von 1950 mit der DDR nun auch durch die Bundesrepublik.53

Die zwischen Ostberlin und Warschau bestehenden außenpolitischen Friktionen wurden von inneren Unruhen überschattet. Innenpolitisch, vor allem wirtschaftlich, befand sich Polen in einer schwierigen Lage. Eine knappe Woche nach Unterzeichnung des Warschauer Vertrages gaben die polnischen Zeitungen am 13. Dezember 1970 drastische Preissteigerungen für Lebensmittel und Waren des täglichen Bedarfs um durchschnittlich fast ein Viertel bekannt. Für einige Konsumgüter stiegen die Verkaufspreise sogar um fast 40 Prozent, was in der Vorweihnachtszeit für erheblichen Unmut in der Bevölkerung sorgte. Ausgehend von den polnischen Küstenstädten formierte sich ab dem 14. Dezember landesweiter Protest. Während Arbeiter in Danzig in den Streik traten, demonstrierten in anderen Städten Tausend Menschen auf den Straßen. Die Staatsmacht versuchte ab dem 17. Dezember, die Proteste gewaltsam niederzuschlagen. Mindestens 41 Menschen kamen ums Leben, Tausende wurden verwundet oder verhaftet. Da der Protest nicht abflaute, mussten mit Billigung Moskaus Teile der Parteiführung, darunter Gomułka, am 20. Dezember zurücktreten. An seine Stelle trat Edward Gierek, der wirtschaftliche Verbesserungen versprach und den von seinem Vorgänger eingeschlagenen Annäherungskurs an den Westen zurückstellte.54

SED und Staatssicherheit beobachteten die Vorgänge mit Sorge. In der Woche vor Weihnachten fertigte die ZAIG fast täglich Inlandsberichte, an manchen Tagen sogar mehrfach. Befürchtungen, die Unruhen würden auf die polnischen Gastarbeiter in der DDR übergreifen, bestätigten sich nach ZAIG-Informationen allerdings nicht (Information 1351/70).55 In der Sache ähnlich beruhigend fiel eine Bestandsaufnahme fünf Tage nach dem Beginn der Proteste aus. Am 19. Dezember fasste die ZAIG die bislang bekannt gewordenen Protesthandlungen zusammen. Sie beschränkten sich auf ganze zwei Vorfälle von Graffito und eine Schlägerei (Information 1347/70). Merkwürdigerweise bezog sich aber nur eine gemeldete anonyme Losung (»Solidarität mit den Streikenden«) direkt auf die Ereignisse in Polen. Die übrigen beiden Fälle – Hakenkreuzschmierereien und nicht näher bezeichnete »faschistische Äußerungen« betrunkener Arbeiter in Leipzig – lassen offen, warum sie überhaupt als »Vorkommnisse im Zusammenhang mit den Ereignissen in Polen« gemeldet wurden.

Die eigentliche Bedeutung lag weniger in konkreten Sachverhalten als vielmehr im Subtext der Berichte. Mit Blick auf die eigentlich ungefährlichen polnischen Gastarbeiter erläuterte der ZAIG-Bericht ausführlich deren vermeintliche Motivationen und Einstellungen zu den Ereignissen in ihrer Heimat. Diese würden nahezu einhellig ihrer Parteiführung die Schuld an der Situation geben und nicht – wie in solchen Fällen eigentlich zu erwarten – Provokateuren oder gar dem Westen.56 Angesichts der innenpolitischen Machtkämpfe in der DDR hatte diese Schwerpunktsetzung eine besondere Brisanz. Letztlich diente die Berichterstattung über die Ereignisse in Polen dazu, der eigenen Parteiführung die Lage in der DDR zu spiegeln – und Bedrohungsszenarien zu vermitteln. Wenn das MfS beispielsweise wiederum unter Berufung auf polnische Arbeiter berichtete, die Preiserhöhungen seien »nicht durchdacht«, der Zeitpunkt »außerordentlich ungünstig« gewählt und überdies auch nur eine »magere Begründung« gegeben worden, so wiederholte sich diese Tonlage in einem wenige Tage später vorgelegten Bericht über angeblich in Vorbereitung befindliche Preisveränderungen in der DDR.57 Im Unterschied zu den polnischen Arbeitern wurde nicht die Partei direkt angegriffen, dafür attackierte das MfS umso heftiger den Staats- und Wirtschaftsapparat. Die Staatssicherheit glaubte zwei Tage vor Weihnachten beweisen zu können, dass in den Bereichen des Ministers für bezirksgeleitete Industrie und Lebensmittelindustrie Erhard Krack und des Landwirtschaftsministers Georg Ewald eigenmächtige Preisregulierungen – sprich Erhöhungen – und andere Manipulationen in Vorbereitung seien, die den Unmut der DDR-Bevölkerung heraufbeschwören könnten. Nahm sich die angeblich geplante Reduzierung des Fettanteils bei Butter noch vergleichsweise harmlos aus, so habe Krack erhebliche Preisanstiege bei einigen Lebensmitteln und Konsumgütern wie Schnittblumen um teils mehr als 100 Prozent verfügt. Volkswirtschaftlich, gestand das MfS ein, seien solche Schritte vielleicht sinnvoll, um den Kaufkraftüberhang »in Ordnung zu bringen«. Gleichzeitig würden aber diese »illegalen Preissteigerungen« weder von der Bevölkerung verstanden, noch gutgeheißen. So seien bereits jetzt angeblich verstärkt Hamsterkäufe zu verzeichnen, sogar Engpässe bei Grundnahrungsmitteln würden befürchtet. Gleichwohl, so die Staatssicherheit, gebe sich die Bevölkerung sicher, dass es in der DDR »soweit nicht kommen würde«, da im Unterschied zu Polen die eigene »Partei und Regierung die Situation« im Griff hätten und derartige »Belastungen« nicht zulassen würden – was unverblümt als Handlungsanweisung verstanden werden konnte und wahrscheinlich auch sollte. Bekräftigt wurde dies schließlich in einem noch am 23. Dezember 1970 abgesetzten Bericht über Reaktionen der Bevölkerung auf die jüngsten Ereignisse in Polen.58 Der Bericht konstatierte einleitend, die gewaltsame Eskalation werde zwar überwiegend in der DDR-Bevölkerung abgelehnt. Die Gründe für die Proteste würden aber durchaus als legitim angesehen: So gebe es auch in der DDR Stimmen, die sagten: »was die Polen machen ist richtig, so etwas müssten wir auch tun, dann würde es bei uns anders aussehen und wir würden auch mehr zu kaufen bekommen«. Nicht verkneifen konnte sich das MfS in diesem Zusammenhang auch eine Kritik an der außenpolitischen Annäherung Polens an die Bundesrepublik. Diese habe, so angebliche Meinungsäußerungen, nicht nur eine »Aufweichung des sozialistischen Lagers« zur Folge, sondern biete dem Feind ein Einfallstor, der es – wie man in Polen gesehen habe – sofort ausnutzen würde. Entsprechend sei die polnische Regierung, so der Bericht an anderer Stelle, gut beraten, ihre außenpolitischen Aktivitäten zurückzustellen und sich der Lösung der inneren Probleme zu widmen. Eben um diese Schwerpunktverlagerung wurde in der zweiten Jahreshälfte 1970 auch in der DDR gestritten.

2.3 Wirtschaftspolitik

Mielke hielt sich auf einer Dienstkonferenz am 20. Januar 1971 zugute, dass Interventionen seines Ministeriums die »ungesetzliche und schleichende Preiserhöhung«, wie sie die Information 1356/70 angeprangert hatte, hätten verhindern können. Ebenso schrieb er sich auf die Fahnen, dass sein Ministerium auf erhebliche Mängel in der Brennstoffversorgung hingewiesen habe,59 deren Behebung eine nicht näher bezeichnete »energische Maßnahme« nach sich gezogen habe. Letztlich habe die Staatssicherheit mit ihrer Informationspolitik also daran mitgewirkt, ähnliche Zustände wie in Polen zu verhindern. Deshalb werde das MfS »auch in Zukunft nicht schweigen zu Problemen, die andere Organe vielleicht nicht so weitsichtig und allseitig sehen wie wir«. Im gleichen Atemzug brüstete sich der Minister: »Wir nehmen lieber in Kauf, einmal ein bisschen kritisiert zu werden.« Welche Friktionen die Berichte genau hervorriefen, ließ sich nicht klären. Die herrschaftsstabilisierende Funktion einer Wirtschaftsüberwachung jedenfalls wurde als Maxime des Ministeriums ausgegeben. So sei es Aufgabe, die »Arbeit dementsprechend zu organisieren«, dass Partei- und Staatsführung in allen kritischen Bereichen frühzeitig auf Probleme hingewiesen werden könnten.60

Die vielleicht in der Sache etwas zu großspurigen Ausführungen Mielkes spiegeln im Kern die im Herbst 1970 angestoßene grundlegende Umorientierung der DDR-Wirtschaft. Die Ereignisse in Polen waren dabei nur – ein vielleicht politisch willkommener – Anlass, um auf die vermeintliche Dringlichkeit hinweisen zu können. Wiederum auf Betreiben Erich Honeckers (und mit Rückendeckung der Moskauer Führung) erfolgte spätestens auf dem 14. ZK-Plenum im Dezember ein Abbruch des wirtschaftlichen Liberalisierungs- und Modernisierungskurses der späten Ulbricht-Ära. An die Stelle des NÖSPL trat die später so bezeichnete »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, welche die Hebung des Lebensstandards durch Konsumpolitik in den Vordergrund stellte. Im Kern war eine solche Kurskorrektur insofern angezeigt, als die ambitionierten Modernisierungsprojekte Ulbrichts die Volkswirtschaft überforderten und zu Versorgungsengpässen in bestimmten konsumtiven Bereichen führten. Gleichwohl war der Abbruch des Projektes nicht alternativlos, sondern Teil des Machtkampfes zwischen Honecker und Ulbrichts, den Ersterer wie schon auf außenpolitischem Gebiet für sich entscheiden konnte.

Wirtschaftspolitische Entscheidungen waren in der Endphase der Herrschaft Ulbrichts nicht allein auf den Partei- oder Regierungsapparat beschränkt. Wichtig für die Meinungsbildung waren der Strategische Arbeitskreis sowie der seit 1968 in der Verfassung festgeschriebene Staatsrat, mit dem Ulbricht wissenschaftliche Expertise an sich band. So sehr diese Art der Politikberatung von Ulbricht geschätzt wurde, so sehr war sie im von Honecker dominierten ZK-Apparat verhasst und wurde dort als Bedrohung wahrgenommen.61 Ulbricht setzte auf technologischen Fortschritt und Leuchtturmprojekte, die den wirtschaftlichen Aufschwung voranbringen sollten. Dazu zählte beispielsweise die optische Industrie mit Carl Zeiss Jena, die chemische Industrie sowie vor allem die Datenverarbeitung und Automatisierung.62

Problematisch war, dass viele dieser Vorhaben – mitunter kurzfristig – in den Wirtschaftsplan aufgenommen werden mussten, zum Nachteil der Konsumgüterindustrie und anderer Bereiche. Führend dabei war Günter Mittag, der als einer der Väter des Ulbricht’schen Reformprojektes dessen wirtschaftspolitische Lieblingsprojekte gegen Widerstände durchsetzte. Ob er dies aus opportunistischen Gründen tat oder wie Monika Kaiser behauptet, bewusst die Krise heraufbeschwor, um Ulbricht mittelfristig scheitern zu lassen, ist an dieser Stelle nicht zu klären.63 Das MfS jedenfalls wies auf die Folgen unrealistischer Planvorgaben hin.64 Die sich bereits Ende der 1960er-Jahre abzeichnende Wirtschaftskrise wurde auch von der Moskauer Führung kritisch gesehen. Im Windschatten der Auseinandersetzungen um den deutschlandpolitischen Kurs der SED-Führung signalisierte Breshnew im Juli 1970 der Honecker-Fraktion, dass Ulbricht auch auf wirtschaftspolitischem Gebiet Einhalt geboten werden müsse. Dies wiederum veranlasste nun auch den mächtigen Wirtschaftsfunktionär Mittag, seine Rolle zu überdenken. Spätestens ab Sommer 1970 schwenkte er hinter den Kulissen auf die Linie Honeckers ein, während er nach außen hin den Schein wahrte, weiterhin auf Ulbrichts Seite zu stehen.65

Einen verlässlichen Verbündeten in Fragen der Wirtschaftspolitik hatte Honecker in der Staatssicherheit. Wie die ZAIG-Berichte des Jahres 1970 zeigen, war ihr Inhalt geeignet, den Kritikern Ulbrichts Argumente an die Hand zu geben. Das MfS berichtete schwerpunktmäßig anlassbezogen und – wie üblich eklektisch – über Havarien und Brände. Daneben legte die ZAIG aber auch längere Ausarbeitungen über Betriebe bzw. Industriezweige vor. Bezeichnenderweise widmeten sich beide Berichtsstränge überwiegend den Stützen des Ulbricht’schen Wirtschaftskonzeptes: Automatisierung, Datenverarbeitung und Computerisierung66 und Forschungsvorhaben67. Selbst gehäufte und zunächst unverdächtige Meldungen über Brände in den Rechenzentren konnten in diesem Sinne eine politische Botschaft senden. Denn bei den Ursachen zu den Havarien machte das MfS klar, dass unausgereifte Technik sowie mangelhafte Installation ursächlich seien – mithin also mit nicht tauglichen Apparaten gearbeitet würde, deren Einsatz der Volkswirtschaft eher schade als nutze. Im Falle der aus Sicht der Staatssicherheit fehleranfälligen Automatisierung im Textilkombinat Cottbus gebärdete sich das MfS in diesem Zusammenhang sogar als Anwalt der Angestellten, »deren Kampf um die Aufholung von Planrückständen« durch die störanfälligen Maschinen behindert werde, sodass sich deshalb verständliche »Unzufriedenheit« breitmache.68 Hinsichtlich der Verwendung von Computern ließ das MfS eine Expertengruppe einsetzen, die zu dem Schluss kam, dass »wesentliche Mängel« bestünden, deren Beseitigung »im Interesse der weiteren Entwicklung der Industrie unumgänglich« sei.69

Auffällig ist zudem, dass diese Berichte fast ausnahmslos in der zweiten Jahreshälfte verteilt wurden, als die Kontroversen in der Parteiführung über den Abbruch oder eine Modifizierung des NÖSPL auf ihren Höhepunkt zusteuerten. Es ist unwahrscheinlich, dass es bis dahin keinerlei Probleme gegeben hatte. Vielmehr ist davon auszugehen, dass Auswahl und Platzierung der Themen die politischen Diskussionen beeinflussen und letztlich den Honecker-Flügel stärken sollten. Diesen Verdacht erhärtet auch ein Blick auf die Verteiler: Von den Mitgliedern bzw. Kandidaten des Politbüros gehörten Honecker, Willi Stoph, Günter Kleiber (stellvertretender Minister für Elektrotechnik und Staatssekretär für den EDV-Einsatz), Alfred Neumann und nun auch ZK-Wirtschaftssekretär Günter Mittag zu den Empfängern. Ulbricht hingegen wurden die warnenden Berichte vorenthalten. Er wurde nur in einem Fall über einen Brand im Vorzeigeobjekt Datenverarbeitungszentrum Neubrandenburg ins Bild gesetzt.70

Hinzu kamen Meldungen über »Begleiterscheinungen« der wirtschaftlichen Liberalisierung wie Spekulationen und Schmuggel,71 welche letztlich der Notwendigkeit für eine stärkere Kontrolle und Anleitung des Wirtschaftsbereiches das Wort redeten. Ein besonderes Kind der Ulbricht’schen Reform waren die 1958 eingeführten halbstaatlichen Betriebe, also Unternehmen, die nicht enteignet wurden, dafür eine in der Regel mehrheitliche Beteiligung des Staates akzeptieren mussten. Eigentlich sollten sich in ihnen privatwirtschaftlicher Unternehmergeist und sozialistische Planung gegenseitig befruchten. Tatsächlich blieben die erhofften durchschlagenden Erfolge aber aus.72 Für die Honecker-Fraktion waren die halbstaatlichen Betriebe Relikte des Kapitalismus, die es endgültig zu überwinden galt.73 Auch die sowjetische Führung verfolgte den ostdeutschen Sonderweg mit Skepsis und signalisierte Ende August 1970, dass auch sie perspektivisch eine völlige Verstaatlichung der Betriebe für notwendig halte.74

Für das MfS waren halbstaatliche Unternehmen wie der sächsische Schaumstoffhersteller Schüngel KG ein handfestes Problem. Neuralgisch war das Monopol bei der Herstellung von PUR-Schaumstoffen, die im Rahmen des Chemie-Programmes in zahlreichen Betrieben der DDR dringend benötigt wurden. Im Vorfeld der Moskau-Reise der SED-Führung legte die ZAIG im August 1970 bei Ulbricht, Mittag und Matern einen höchst denunziatorischen Bericht über das Unternehmen vor.75 Dies erfolgte vielleicht in der Hoffnung, diese Fürsprecher der halbstaatlichen Betriebe von der Notwendigkeit eines Kurswechsels zu überzeugen. Schüngel führe das Unternehmen »nach kapitalistischen Grundsätzen und Praktiken und wendet in seiner Leitungs- und Führungstätigkeit typische Managermethoden an«. Obwohl die Firma halbstaatlich sei, sei das Unternehmen nur auf Gewinn aus und sein Inhaber an »persönlichem Machtstreben, persönlicher Bereicherung und an der Erlangung von Vorteilen« interessiert. In der Öffentlichkeit erwecke er »den Anschein eines staatsbejahenden Bürgers«, tatsächlich sei er nicht weniger als ein Feind der DDR. Neben solchen Unterstellungen bemühte sich das MfS vor allem, den volkswirtschaftlichen Schaden zu veranschaulichen: Grundsätzlich sei es nicht tragbar, dass die Schüngel KG Marktführer bei PUR-Schaumstoffen und der »sozialistische Sektor« praktisch ausgeschaltet sei. Da es Schüngel überdies gelang, in Verhandlungen mit der Bayer AG Zusagen für die Lieferung von Schaumstoffprodukten zu erhalten, um die sich die DDR offiziell vergeblich bemüht hatte, witterte das MfS außerdem Sabotage oder mindestens unerwünschte westliche Einflussnahme. Die Staatssicherheit empfahl Ulbricht und Mittag, durch Einschaltung des Finanzministeriums eine Prüfung des Betriebes vornehmen zu lassen, um »Finanzmanipulationen und Korruption« auf den Grund zu gehen.

Nach Aktenlage blieb die Denunziation für die Schüngel KG noch ohne Folgen. Dennoch beschloss das Politbüro am 8. September eine Reihe neuer Verordnungen und Gesetze, welche die Freizügigkeit halbstaatlicher Unternehmen beschränken und den Weg zur 1972 vollzogenen Vollverstaatlichung ebnen sollten. Insbesondere die Honecker-Fraktion hatte sich für eine stärkere Besteuerung und damit Schwächung der Betriebe eingesetzt, der sich schließlich auch Ulbricht anschloss. Im September 1970 gab das Politbüro eine Studie in Auftrag, die den durch halbstaatliche Unternehmen verursachten Schaden genau beschreiben sollte.76 Die Ausarbeitung lag in den Händen von Minister Krack, der eine ganze Reihe von Unternehmen anführte, denen Planrückstände, Verschwendung von Geldern und Ähnliches vorgeworfen wurde.77 Da keine ZAIG-Berichte zu diesen Betrieben bekannt sind, war das MfS an der Ausarbeitung der Krack-Studie wohl nicht beteiligt. Darauf deutet auch hin, dass das Papier die Schüngel KG mit keinem Wort erwähnt. Aber damit war das Unternehmen nicht aus der Schusslinie. Anfang November 1970 legte das MfS eine Analyse über Probleme bei der Herstellung von Polyurethanen im VEB Schwarzheide vor.78 Einen Mitschuldigen sah das MfS in der Schüngel KG. Da die Produktion stocke und verschiedene staatliche Betriebe nicht beliefert werden könnten, seien die vertraglich vereinbarten Forderungen der Schüngel KG ein Problem. Deren Materialforderungen seien »volkswirtschaftlich unbegründete Bedarfswünsche« und zurückzuweisen, da sie nur durch Importe befriedigt werden könnten und deshalb »zusätzliche Valutamittel« verschlingen würden. Zudem sei Schüngel ein Sicherheitsproblem, weil die engen Kontakte des Inhabers zu westdeutschen Unternehmen geeignet sein könnten, Informationen über Technologie und Anlagen in Schwarzheide weiterzugeben.

Die 1970 auf den Weg gebrachten Beschlüsse zur stärkeren Besteuerung des halbstaatlichen Bereiches trafen unmittelbar auch selbstständige Handwerker und Künstler. Hier konnte das MfS mit bewährten Mitteln intervenieren. Als im Dezember 1970 bekannt wurde, dass die Schriftsteller Rainer Kirsch und Heinz Czechowski eine Unterschriftensammlung und die Veröffentlichung eines Protestbriefes vorbereiteten, leite das MfS nach eigener Aussage erfolgreich »Aussprachen seitens der Vertreter der Staats- und Parteiorgane innerhalb des Schriftstellerverbandes« ein, um den aufkeimenden Protest zu verhindern.79

Die von den MfS-Berichten flankierten Debatten um eine Korrektur des Wirtschaftskurses steuerten im Herbst 1970 auf ihren Höhepunkt zu. Inzwischen hatte sich auch Ulbricht partiellen Änderungen nicht verschlossen, plädierte aber zunächst für eine Fehlerdiskussion. Eine solche Analyse fand allerdings bei der Mehrheit des Politbüros keinen Anklang, da auf diese Weise nicht zuletzt auch eigene Verantwortlichkeiten zu Tage getreten wären. Der Ausweg war eine schnelle Rückkehr zu einer zentralistischen Wirtschaftslenkung, wie sie vor der Reformphase praktiziert worden war und dem sowjetischen Modell entsprach. Ulbricht, der gesundheitlich angeschlagen war, konnte in den entscheidenden Monaten September und Oktober 1970 den Diskussionen im Parteiapparat wegen häufiger Abwesenheiten nur bedingt folgen. Dort wurden inzwischen Beschlüsse gefasst, die das Ulbricht’schen Reformvorhaben als Hauptproblem der gegenwärtigen Wirtschaftskrise festschrieben, deren Hauptproblem die Engpässe bei der Versorgung mit Konsumgütern waren. Die anstehende Diskussion der volkswirtschaftlichen Probleme, die eigentlich bereits im September auf dem 14. ZK-Plenum stattfinden sollte, wurde schließlich für den 9. bis 11. Dezember angesetzt.

Am 4. Dezember 1970 legte die ZAIG einen nur für Honecker und Stoph bestimmten Bericht über angebliche Versorgungsprobleme vor, der an Dramatik nichts zu wünschen übrig ließ. Nicht nur beherrsche das Thema die Diskussionen in der Bevölkerung, auch sei die »Versorgungslage in den letzten Jahren noch nie so schlecht gewesen«, selbst Produkte, die es in den zurückliegenden Jahren gegeben habe, seien jetzt nur noch »bei guten Beziehungen« zu bekommen.80 Den vermeintlich Befragten bescheinigte die Staatssicherheit sogar analytisches Gespür: So seien viele Mängel erst festzustellen, wenn sie aufträten (was also bei guter Planung verhindert werden könne). Zudem sei »im breiten Maße« erkannt worden, dass die allgemein schlechte Wirtschaftsentwicklung ursächlich sei, was in der Kernaussage der elfseitigen Ausarbeitung kulminierte: »Es treten häufig Zweifel an der Richtigkeit der Wirtschaftspolitik von Partei und Regierung auf.« Konkret meinte dies »Das ›neue ökonomische System‹ sei in der DDR bisher ohne wesentliches Ergebnis geblieben, vieles hätte sich im Gegenteil danach noch verschlechtert.« Abschließend holte die Staatssicherheit die Keule heraus, indem sie angebliche Äußerungen wiedergab: Man habe einen Zustand wie »1953« erreicht und es brauche erst einen Volksaufstand gegen die SED wie am »17. Juni«, um Veränderungen herbeizuführen.

Das MfS war nicht der einzige Nachrichtengeber, welcher der Parteiführung die tatsächlich vorhandenen Versorgungsprobleme nahebrachte. Im Tonfall deutlich weniger dramatisch wurden die Mitglieder und Kandidaten des Politbüros um den 7. Dezember mit Informationsberichten aus dem Parteiapparat versorgt, welche ebenfalls Gerüchte über bevorstehende Rationierungen und Hamsterkäufe thematisierten. Es handelte sich nicht um Analysen, sondern zwei Einzelvorgänge aus den Ostberliner Stadtbezirken Treptow und Mitte sowie einen Vorfall aus dem großen »Centrum«-Warenhaus auf dem Alexanderplatz. Gerichtet waren diese Beschwerden bezeichnenderweise an Paul Verner, damals noch Parteichef von Ostberlin, der wenige Monate später als Nachfolger von Erich Honecker zum Leiter der Sicherheitsabteilung des Zentralkomitees aufsteigen sollte und als enger Vertrauter gelten kann. Den Berichten beigefügt war ein Bericht der Ostberliner Stadtverwaltung von Ende November 1970, dessen Inhalt im krassen Gegensatz zu den berichteten Problemen stand: Die Abteilung Handel und Versorgung des Magistrats berichtete, dass es im Gegensatz zu früheren Jahren keine gravierenden Einschränkungen in der Versorgung gebe und mehr noch in Teilbereichen ein besseres Warenangebot vorläge.81

Es muss an dieser Stelle offenbleiben, in welchem Maße die Beschwerden symptomatisch oder politisch gewollte Übertreibung waren, um die volkswirtschaftlichen Debatten auf dem 14. Plenum des Zentralkomitees im Sinne der Honecker-Fraktion zu flankieren, das am 9. Dezember 1970 in Ostberlin zusammentrat. Auch wenn die Honecker-Fraktion eine direkte Abrechnung mit Ulbricht vermied, der einen zentralen Dissens in der Parteiführung offenbart hätte – was weder im Interesse der SED noch Moskaus lag –, so waren die Andeutungen und Problemanalysen doch deutlich genug, um einen Richtungsstreit zu rechtfertigen. Honecker selbst hielt sich auf dem Plenum zurück und sprach nur über Probleme des Parteiapparates. Die wirtschaftlichen Probleme des Landes wurden vor allem von Paul Verner und Willi Stoph angesprochen, die »Spannungen« und »entscheidende[n] Bilanzlücken« bei der Planerfüllung zugaben. Am deutlichsten wurde Stoph, der von »gewissen subjektivistischen Wünschen« bei der Erarbeitung der Pläne sprach. Alfred Neumann pflichtete bei; die Wirtschaftslage sei besorgniserregend. Eine Reihe von Bezirksparteichefs sekundierte, indem sie von einer »komplizierten Situation« in ihren Bereichen sprachen.82

Wie instabil die Lage im Lande tatsächlich war, lässt sich nicht sagen. Bemerkenswert jedenfalls ist eine Vorlage aus dem Bundesvorstand des FDGB, die wenige Tage nach dem Ende des ZK-Plenums im Politbüro verteilt wurde. Gewerkschaftschef Herbert Warnke warnte von einer auffälligen Zunahme an Streiks und vermuteten Sabotagehandlungen verärgerter Angestellter, die einen volkswirtschaftlichen Schaden von rund 45 Millionen DDR-Mark verursacht hätten. Im Detail waren die Arbeitsniederlegungen nicht dramatisch: von den 22 Fällen, an denen sich republikweit ganze 380 Personen beteiligten, dauerte die überwiegende Mehrheit nur wenige Stunden. Ausschlaggebend bzw. für die laufende Debatte entscheidend dürfte gewesen sein, dass Warnke die Versorgungslage mitverantwortlich machte.83 Die ZAIG erwähnte erstaunlicherweise die Vorfälle in ihren Berichten nicht. Der einzige im Jahr 1970 gemeldete Streik betraf ungarische Gastarbeiter im Chemiefaserkombinat Premnitz.84 Auch wenn sich real nur schwer eine unmittelbare Gefahr aus dem Papier ableiten ließ, so hatte der Tenor doch angesichts der gewaltsamen Proteste in Polen unmittelbare Signalwirkung. Für Ulbricht jedenfalls endete das ZK-Plenum mit einer weiteren Niederlage. Die offene Thematisierung volkswirtschaftlicher Verwerfungen und daraus resultierender Engpässe – wie gravierend sie auch tatsächlich gewesen sein mögen – war ein faktisches Eingeständnis von Fehlern, das nach Lage der Dinge im Unterschied zu 1953 die Gemüter beruhigte. Unausgesprochen aber offensichtlich wurde Ulbricht zum Schuldigen erklärt. Diesem gebührte der Parteihierarchie entsprechend eigentlich das letzte Wort. Ulbrichts vorliegendes Schlusswort, das die öffentlich gemachten Diskussionen in ein anderes Licht gerückt hätte, durfte jedoch auf Betreiben Honeckers und durch Mehrheitsbeschluss des Politbüros formal abgesegnet nicht veröffentlicht werden. Dieser äußerst ungewöhnliche Vorgang war bezeichnend für den Machtverfall des Parteichefs, der sich nur noch gut ein halbes Jahr im Amt halten konnte.85

2.4 Fluchten und Fluchtversuche

Wie immer gehörten auch Fluchten und Fluchtversuche zu den Berichtsthemen der Staatssicherheit. Vor dem Hintergrund der deutsch-deutschen Gespräche und damit – wie auch das MfS berichtete – wachsenden Hoffnungen in der Bevölkerung auf Reiseerleichterungen, hatten sie 1970 eine besondere Bedeutung. Unter den vom MfS gemeldeten Vorfällen sticht die tragisch gescheiterte Flugzeugentführung von Christel und Peter Wehage am 10. März 1970, gut eine Woche vor dem Gipfeltreffen in Erfurt, heraus.86 Bewaffnet mit einer Maschinenpistole versuchten beide den Piloten einer Linienmaschine von Berlin-Schönefeld nach Leipzig zur Landung in Hannover zu zwingen. Um ihren Plan durchzusetzen, feuerten beide auf die Cockpittür und riskierten damit einen Absturz des Flugzeuges und den Tod der 17 Passagiere. Da Christel und Peter Wehage nicht in das durch eine weitere Tür gesicherte Cockpit vordringen konnten und der Pilot zurück zum Flughafen Schönefeld steuerte, begingen beide kurz vor der Landung Selbstmord. Dem MfS gelang es, den Vorfall zu vertuschen und damit die SED-Führung in dieser heiklen Phase der deutsch-deutschen Gespräche vor Schaden zu bewahren.87

Fast auf den Tag genau fünf Monate später verhinderte die Luftverteidigung der DDR einen ähnlichen Fluchtversuch, indem sie eine polnische Verkehrsmaschine zur Landung in Schönefeld brachte.88 Waldemar Frey, ein Lehrer aus Breslau, hatte am Abend des 7. August erfolgreich eine Linienmaschine der polnischen Fluggesellschaft LOT gekapert und den Piloten unter Androhung der Zündung einer Handgranate gezwungen, Kurs auf Hamburg zu nehmen, um zu seinen in Großbritannien lebenden Verwandten zu gelangen. Der Besatzung gelang es, Frey zu täuschen und den Flughafen in Berlin-Schönefeld anzusteuern, wo die bereits alarmierte Staatssicherheit Frey festnahm und an die polnischen Behörden überstellte. Frey wurde noch im September 1970 zu acht Jahren Haft verurteilt.

Die Staatssicherheit zog aus den Vorfällen unter anderem die Konsequenz, verstärkt Metalldetektoren an den Flughäfen einzusetzen. Deren Praxistauglichkeit war allerdings noch unausgereift, wie die Informationen 1017/70 und 1017a/70 zeigen. Die Unzulänglichkeit der DDR-Flugsicherung belegen 1970 andere, mitunter kuriose Grenzverletzungen. Insgesamt sechs Mal meldete die Staatssicherheit ein Eindringen westdeutscher bzw. eines britischen Piloten mit Klein- und Sportflugzeugen in die DDR. Ungewollt und daher eher zufällig musste der Braunschweiger Arzt Hubert Strauchmann am 8. Juli sein navigationsunfähiges Sportflugzeug bei Goldbeck zur Landung bringen.89 Ebenso unfreiwillig gelangte der Flugschüler Bruno Kahl am 12. Juli im Kreis Staßfurt nahe der innerdeutschen Grenze in den Luftraum der DDR und wurde durch einen sowjetischen Hubschrauber zur Landung gezwungen. Während Kahl und Strauchmann nach kurzer Zeit nach Hause zurückkehren konnten und es die DDR bei öffentlichen Protesten beließ, verfuhr die SED im Falle von Leopold Rittmeyer und dem schillernden Christian Fürst zu Bentheim anders. Letzterer lieferte sich am 10. Juli eine Verfolgungsjagd mit sowjetischen Düsenjägern, bevor ihm rechtzeitig ein Abdrehen in Richtung Westen gelang. Was den Fürsten bewegte, dieses riskante Manöver zu unternehmen, sei dahingestellt. Die DDR-Luftsicherung wollte keine Notlage erkannt haben, während Bentheim nach Darstellung der westdeutschen Presse abgetrieben sei und zu allem Überfluss noch von den sowjetischen Flugzeugen beschossen worden sei, was dieser allerdings später dementierte. Im Falle von Rittmeyer, der mit seinem Copiloten Rolf Hausman am 21. Juni 1970 bei Eisenach zur Landung gezwungen wurde, statuierte die SED ein Exempel. Beiden wurde am 14. Juli 1970 vor dem Stadtbezirksgericht Berlin-Mitte der Prozess gemacht und Urteile von 19 bzw. 22 Monaten Haft verhängt. Sie konnten jedoch 1971 auf Bemühen der Bundesregierung in den Westen zurückkehren. Im Falle des britischen Sportpiloten Robert Lewis, der mit drei weiteren britischen Staatsbürgern die innerdeutsche Grenze überflog und bei Parchim zur Landung gezwungen wurde, vermied die DDR jegliches Aufsehen. Die vier Briten kehrten bereits zwei Tage später nach Westberlin zurück.90

Ein Sonderfall ist die Flucht von Friedemann Späth, der sich mit seiner Maschine am 5. Oktober 1970 in die DDR absetzte.91 Der Vorgang ist nicht nur außergewöhnlich, weil ein Bundesbürger in der DDR um Zuflucht ersuchte. Die SED, ansonsten gerne schon aus propagandistischen Gründen bereit, die Aufnahme zu gewähren, entschied im Falle von Späth anders. Ausschlaggebend dürfte auch gewesen sein, dass Späth alles andere als einen guten Leumund hatte. 1969 hatte er bei einem waghalsigen Flugmanöver ein elfjähriges Mädchen tödlich verletzt. Der Fall sorgte in der Bundesrepublik für Aufsehen und brachte Späth eine Gefängnisstrafe ein. Ausgerechnet während eines Hafturlaubs entschied er sich zur Flucht. Für die DDR-Luftverteidigung besonders ärgerlich gelang es Späth mit einem Sportflugzeug, den Radar unerkannt zu unterfliegen – was dieser dem ZAIG-Bericht zu Folge aber nur tat, um die Behörden auf diese Schwachstelle aufmerksam zu machen. Anstelle der erwarteten Dankbarkeit für seine Flugkünste (die Späth mithilfe der DDR hoffte, in die Dienste palästinensischer Widerstandsorganisationen stellen zu können), wurde er verhaftet und zu zweieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt. Nach vorzeitiger Entlassung und Verbüßung der Reststrafe in der Bundesrepublik sollte Späth seine Einstellung zur DDR grundlegend ändern. Als »fliegender Fluchthelfer« wollte er DDR-Bürgern den Weg in den Westen ermöglichen.92

Zu den vom MfS 1970 gemeldeten Fluchtversuchen gehörte auch eines der letzten Tunnelprojekte an der Bernauer Straße. Ausgehend von der Schönholzer Straße hatte eine Gruppe zumeist italienischstämmiger Westberliner einen Tunnel gegraben. Das Projekt zog sich in die Länge wurde im April 1970 schließlich an die Staatssicherheit verraten. Diese nutzte ein neu entwickeltes Sondensystem, um den gemeldeten Tunnel aufzuspüren.93 Nach mehrwöchiger Observation entschied das MfS schließlich, die geplante Flucht nicht mehr abzuwarten. Am 5. Mai 1970 wurden Bagger in das Grenzgebiet gefahren, der Stollen freigelegt und schließlich geflutet. Die Entscheidung, den Tunnel zu enttarnen, begründete die ZAIG mit politischer Rücksichtnahme: Angeblich seien die mit der Presse gut vernetzten Auftraggeber im Westen bestrebt gewesen, die Flucht unmittelbar vor dem in der Bundesrepublik umstrittenen Treffen von Willi Stoph und Willy Brandt am 21. Mai zu wagen und der Welt auf diese Weise vor Augen zu führen, dass mit der SED keine Gespräche möglich seien. Um solch unschöne Schlagzeilen zu vermeiden, habe man beschlossen, den Tunnel zu zerstören.

2.5 Besondere Todesfälle

In Zusammenhang mit dem Grenzregime standen auch einige Todesfälle, die das MfS 1970 aus den Reihen der Grenztruppen meldete. Im Bericht vom 3. November 1970 informierte die ZAIG Honecker und Walter Borning sowie Verteidigungsminister Heinz Hoffmann über die zwei Tage zuvor erfolgte Selbsttötung des Majors Fritz Schneiderling.94 Das MfS bescheinigte Schneiderling, der nach Darstellung des Berichts bereits um seine Entlassung aus dem Grenzdienst ersucht hatte, dienstliche Versäumnisse. Ob sein Entschluss in Zusammenhang mit der zeitgleichen Flucht eines Soldaten seiner Einheit in den Westen in Verbindung stand, lässt der Bericht offen.95 Wahrscheinlich nur knapp mit dem Leben davon kam ein Gefreiter der 5. Grenzbrigade in Kalbe. Weil seine Kameraden ihn verdächtigten, ein Spitzel des MfS zu sein, hätten sie ihm nach Darstellung der ZAIG einen »Denkzettel« verpassen wollen. Eine vorgetäuschte Strangulation wurde abgebrochen, nachdem der Betreffende das Bewusstsein verloren hatte.96

Neben dem Fall Schneiderling meldete die ZAIG 1970 drei weitere prominente Todesfälle, darunter die wahrscheinlich auf eine Depression zurückzuführende Selbsttötung des NVA-Offiziers Werner Schicht97 und der Fall des 61-jährigen Wachmannes der SED-Bezirksleitung Schwerin, Werner Prüssing.98 Besonders tragisch endete ein Amoklauf in der Familie eines Sekretärs der SED-Bezirksleitung Schwerin kurz vor Weihnachten 1970.99 Im Vergleich zu anderen Jahren meldete das MfS damit eine auffällige Häufung an Todesfällen, die jedoch wahrscheinlich zufällig zustande gekommen sein dürfte. Warum ausgerechnet diese Vorfälle Gegenstand der Berichterstattung wurden, ließ sich nicht klären. Ein Blick in die Ablage der Abteilung Sicherheitsfragen beim ZK der SED jedenfalls zeigt, dass diese Aufstellung weder vollständig noch repräsentativ ist. Allein die Staatssicherheit musste 1970 drei Suizide aus ihren Reihen einräumen: im März den Tod eines Abteilungsleiters der Hauptabteilung VII, im Juli eines Unterleutnants der Bezirksverwaltung Cottbus und im September schließlich des Leiters der Kreisdienststelle Stadtroda Horst Sachse, der sich in seinem Dienstzimmer erschossen hatte.100

Für das MfS und besonders Minister Mielke heikel war ein anderer Todesfall, der sich nicht in den Berichten der Staatssicherheit spiegelt. Am 9. November 1970 informierte die Abteilung Sicherheitsfragen nach Lektüre des offiziellen Polizeiberichtes Erich Honecker persönlich über einen Verkehrsunfall mit Todesfolge, der sich auf der Fernstraße 96 zwischen Schildow und Schönfließ ereignet hatte.101 Am Steuer der getunten Mittelklassewagens der Marke Fiat 125/S saß Frank Mielke, Feldwebel des MfS und Sohn des Ministers, der sich mit seiner Freundin auf dem Rückweg von einer Rallye befand. Bei einem Überholmanöver stieß er frontal mit einem entgegenkommenden Wartburg zusammen. Dessen Fahrer verstarb noch am Unfallort, seine Frau erlag zwei Tage später ihren Verletzungen. Wie Honecker zwei Wochen später informiert wurde, seien die Ermittlungen der zuständigen Militärstaatsanwaltschaft eingestellt. Ursächlich sei ein technischer Defekt am Reifen und kein Verschulden des Fahrers festzustellen. Honecker notierte sich auf dem Bericht »erl[edigt]«.102

3. ZAIG im Jahr 1970

Im Windschatten der politischen Machtkämpfe brach für die ZAIG das zweite Jahr ihrer Neuausrichtung als zentrales »Funktionsorgan« der Staatssicherheit an. Im Wesentlichen bedeutete dies Aufbauarbeit und konzeptionelle Überlegungen, mit welchem Zuschnitt und Zuständigkeiten die neue Struktureinheit ausgestattet werden sollte. Ironischerweise, wenn auch unter anderen Vorzeichen, spielte innerhalb des MfS die Wissenschaftsgläubigkeit der Ulbricht-Ära in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Schlagwort war hier die »Prognose«, d. h. die Entwicklung von Modellen, die beispielsweise in der Kriminalitätsbekämpfung – was aus Sicht des MfS natürlich stets auch staatsfeindliche Aktivitäten meinte – Vorhersagen und Planbarkeit ermöglichen sollte. Für diesen Zweck erhielt die ZAIG im Juni 1970 Zugriff auf die Zentrale (Einheitliche) Operative Statistik des Ministeriums mit dem Ziel, »Prozesse und Erscheinungen« zu erkennen und für die Ausgestaltung der Arbeit des MfS nutzbar zu machen. Im Dezember 1970 wurde ein eigenes »Prognose«-Sachgebiet geschaffen. Maßgeblich befördert wurden diese Ideen von dem inzwischen 40-jährigen Werner Irmler, der am 22. Dezember 1970 an der Juristischen Hochschule mit einer Arbeit zur »prognostischen Tätigkeit als Bestandteil der Führungs- und Leitungstätigkeit im Ministerium für Staatssicherheit« promoviert wurde. Doch diesem neuen Ansatz war keine Zukunft beschieden: Das Prognose-Sachgebiet erwies sich als wenig funktional. Was blieb, war der mit dem Ansatz verankerte Anspruch, dass die ZAIG wesentlichen Einfluss auf alle konzeptionellen und organisatorischen Belange des Ministeriums bekam.103

4. Adressaten und Rezeption der Berichte

Festgeschrieben war die zentrale kordierende Funktion bei der Verwaltung und Verteilung der Informationen an die Staats- und Parteiführung. Auf diesem Gebiet bemühte sich die ZAIG zum Jahresende 1970 erstmals um eine Evaluation. Ziel war eine Verbesserung der Informationstätigkeit, die zu den vordringlichsten Aufgaben für das Jahr 1971 gehörte. Wie wichtig dies war, zeigten die Ergebnisse der Bestandsaufnahme: Weder bestand eine vollständige Übersicht über die praktische Abwicklung der Berichtsverteilung, noch eine Kontrolle der Weiterverbreitung und Rückgabe. Die Anhaltspunkte für die Relevanz der Berichte waren gleichfalls gering und wenig ermutigend: Nur ein Bruchteil der Empfänger schenkte den Papieren ausweislich bekannter Bearbeitungsvermerke nachweisbar Aufmerksamkeit.104

Aus Sicht Mielkes beruhigend erschien immerhin, dass zu den eifrigsten Lesern der innenpolitischen ZAIG-Berichte der designierte Nachfolger Walter Ulbrichts Erich Honecker und einige seiner Gefolgsleute gehörten. Die starke Fokussierung der MfS-Berichte auf Erich Honecker zeigt sich auch schon 1970. Inhaltlich flankierten sie, wie auf dem Gebiet der Deutschland- und Wirtschaftspolitik gezeigt, vor allem dessen Positionen. Diese Informationspolitik zeigt sich auch bei einer Analyse der Empfänger in der obersten Parteiführung. Von den 33 Mitgliedern und Kandidaten des Politbüros erhielten nur 16 und damit weniger als die Hälfte überhaupt ZAIG-Berichte zugestellt. Diese Aufstellung ist mit einigen Unschärfen verbunden, weil sie nur die innenpolitischen Berichte umfasste. Die Berichtsvorlage erfolgte in erster Linie entsprechend Zuständigkeiten bzw. Arbeitsgebieten und weniger aufgrund der nominellen Funktion in der Parteihierarchie, sodass der Verteilerkreis der außen- und innenpolitischen Berichte zusammen zu anderen Ergebnissen kommen dürfte. Gemessen an der Zahl der insgesamt 57 innenpolitischen Berichte stand Erich Honecker mit Abstand an der Spitze. Ihm folgten Willi Stoph (47 Berichte), Günter Mittag (30 Berichte), Werner Lamberz sowie Alfred Neumann (je 25 Berichte), Paul Verner (15 Berichte), Kurt Hager (14 Berichte) und Hermann Axen (vier Berichte). Mit Blick auf die Machtkämpfe im Politbüro ist damit im Groben die Honecker-Fraktion beschrieben, wie sie sich in der zweiten Jahreshälfte 1970 herauskristallisierte. Demgegenüber stand Parteichef Walter Ulbricht. Er erhielt nur ganze zwölf innenpolitische Berichte, den letzten im September 1970. An seiner Seite standen Albert Norden (fünf Berichte), Heinrich Matern (zwei Berichte) oder Werner Halbritter (ein Bericht). Schon diese grobe Quantifizierung lässt in der Tendenz erkennen, dass die ZAIG vornehmlich und intendiert SED-Funktionäre belieferte, die aufseiten des designierten neuen starken Mannes standen.

Gleichwohl wäre es übertrieben anzunehmen, dass Mielke bedingungslos auf Honecker setzte und diesen stützte. Wie bereits an den Wirtschaftsberichten gezeigt, ist eine auffällige Häufung der Berichterstattung in der zweiten Jahreshälfte festzustellen, deren Frequenz im Umfeld des 14. ZK-Plenums im Dezember 1970 ihren Höhepunkt erreichte. Ausschlaggebend für die nun offensichtliche Parteinahme dürften die auch Mielke nicht verborgen gebliebene Unterstützung Honeckers durch Moskau gewesen sein. Die Auseinandersetzung zwischen Honecker und Ulbricht steuerte Ende Juni 1970 auf einen ersten Höhepunkt zu. Was in den entscheidenden Politbürositzungen vom 29. Juni und 1. Juli passierte, ist nur unvollständig bekannt. Nach Monika Kaiser kann es als gesichert gelten, dass Ulbricht am 1. Juli 1970 Honecker von seinem Posten als stellvertretendem Parteichef abberief und diesen nach Erinnerung des damaligen sowjetischen Botschafters Pjotr Abrassimow auf die Parteischule zu schicken gedachte. Honecker wandte sich nach Moskau, wo er vermutlich zur Überraschung Ulbrichts Rückendeckung fand. Spätestens auf der Politbürositzung am 7. Juli war Honecker wieder in seine Funktion eingesetzt.105

Die wahrscheinliche Absetzung Honeckers scheint sich auch in den ZAIG-Berichten zu bestätigen. Zwischen dem 29. Juni/1. Juli und dem 7. Juli verschickte das MfS immerhin acht innenpolitische Informationen, von denen erstaunlicherweise keine einzige an Honecker adressiert war. Darunter befanden sich Meldungen über sicherheitsrelevante Vorkommnisse wie Bombendrohungen, einen Unfall des sudanesischen Botschafters oder die Landung zweier westdeutscher Piloten auf dem Gebiet der DDR, die in seine Zuständigkeit als Leiter der Sicherheitsabteilung fielen. Auffällig ist umgekehrt, dass im fraglichen Zeitraum Walter Ulbricht drei innenpolitische Informationen erhielt (im ganzen Jahr nur zwölf). Daraus lässt sich ableiten, dass Mielke erstens sehr wahrscheinlich Kenntnis von der Absetzung Honeckers hatte und zweitens sofort auf den Machtkampf reagierte. Dass Honecker nun formal ausgeschlossen und gleichzeitig Ulbricht verstärkt beliefert wurde, kann als ein Hinweis auf die noch schwankende Haltung Mielkes gewertet werden. Darauf deutet auch hin, dass das MfS – wie gezeigt – in Sachen halbstaatlicher Betriebe noch im August 1970 bei Ulbricht direkt intervenierte – damit aber scheiterte und erst ab diesem Zeitpunkt den Parteichef von innenpolitischen Fragen faktisch ausschloss. Ob und wie Ulbricht auf diese Zurücksetzung reagierte, ist nicht ersichtlich. Möglicherweise fielen ihm die ausbleibenden innenpolitischen Berichte gar nicht auf, da er weiterhin mit zahlreichen außenpolitischen Berichten aus der Normannenstraße bedacht wurde. Dass Mielke unterdessen die Berichterstattung an seine Gegner intensivierte und diese mit Informationen versorgte, die ihm Schaden zufügen konnten, dürfte Ulbricht zu spät erkannt haben.

5. Einfluss der Hauptabteilungen

Neben dem Politbüro, dessen Belieferung der ZAIG und dem Vorzimmer Mielkes vorbehalten war, erreichte die Masse der innenpolitischen Berichte nachgeordnete Empfänger im Staats- und Parteiapparat. Dorthin bestanden neben der ZAIG noch weitere Kommunikationskanäle. Sie liefen in den Hauptabteilungen des Ministeriums zusammen, die deshalb auch wesentlichen Einfluss auf Themenauswahl und Verteilung der Berichte nahmen. Besonders die Hauptabteilungen XVIII (Wirtschaft) und XX (Staatsapparat, Kirchen) stechen hervor. In kleinerem Umfang traten auch die Hauptabteilung I (NVA, Grenztruppen) als Verbindungsglied zum Verteidigungsministerium vor allem in Fluchtfällen sowie die Hauptabteilung VII (Innenministerium) und die XIX (Verkehr) in Erscheinung.106

Gemessen an der Gesamtzahl der 161 im Jahre 1970 verteilten innenpolitischen Berichte wurden immerhin 37, das heißt etwa ein Viertel, ganz oder teilweise über die Hauptabteilungen verschickt. Hinsichtlich der Empfängerkreise lassen sich zwischen den Hauptabteilungen deutliche Unterschiede feststellen. Von der für Wirtschaftsfragen zuständigen HA XVIII unter Rudi Mittig wurde vor allem der Staatsapparat beliefert. Dieser allerdings bis hinauf in die Ministerebene: Günter Wyschofsky, Minister für Chemische Industrie, gehörte ebenso dazu wie Horst Sölle, Minister für Außenhandel oder Otfried Steger, Minister für Elektrotechnik und Elektronik. Mittigs Abteilung versorgte 1970 daneben weitere acht stellvertretende Minister oder Hauptabteilungsleiter mit ZAIG-Berichten, aber nur in Ausnahmefällen den ZK-Apparat. In der Hauptabteilung XX war das Verhältnis genau umgekehrt. Dort bestanden ausweislich der Verteiler in erster Linie enge Arbeitskontakte zum Parteiapparat, besonders der ZK-Abteilung für Kirchenfragen unter Willi Barth und seinem für Sport zuständigen Kollegen Rudolf Hellmann.107

Die unterschiedliche Schwerpunktsetzung wirft Fragen auf. Eine rationale Arbeitsteilung bzw. Informationspolitik würde eigentlich eine gleichzeitige Belieferung des Staats- und Parteiapparates (auf der ZK-Ebene) erforderlich machen. Das heißt es wäre zu erwarten, dass Wirtschaftsprobleme beispielsweise sowohl mit der zuständigen ZK-Abteilung als auch den Ministerien zu erörtern waren. Relativiert wird dieser scheinbare Dualismus dadurch, dass die zuständigen ZK-Sekretäre oftmals Mitglieder oder Kandidaten des Politbüros waren und zum Verteilerkreis der ZAIG gehörten. Ob und in welchem Maße Kontakte der Fachabteilungen zu diesem Personenkreis bestanden, ist aus den Berichtsverteilern nicht ersichtlich. Auffällig ist aber, dass ein Großteil der einschlägigen Informationen nicht an beide Empfängerkreise ging, was den Verdacht einer gezielten Informationspolitik, gestützt auf bilaterale Kontakte, erhärtet. Hier dürften auch machtpolitische Erwägungen eine Rolle gespielt haben. Gerade auf dem Wirtschaftssektor war der zuständige ZK-Sekretär Günter Mittag bis zu seinem Seitenwechsel im Sommer 1970 ein Vertreter der Ulbricht-Fraktion und wie die ZAIG noch 1971 beklagte, ein eher störrischer Ansprechpartner, der sich nur widerwillig beispielsweise den Geheimschutzauflagen unterwerfen wollte.108 Erst als sich Mittag auf die Seite Honeckers lavierte, nahm die Berichterstattung an diesen zu. Bis zu diesem Zeitpunkt intervenierte das MfS bei Wirtschaftsproblemen im Staatsapparat, wo die Staatssicherheit offenbar über zugänglichere Ansprechpartner verfügte.

Die direkten Kontakte der Fachabteilungen zu den Empfängern waren damit im Kern ein Macht- und nicht zuletzt ein Kommunikationsproblem. Dass dieser Dualismus zwischen Hauptabteilungen und ZAIG überhaupt bestand, dürfte dem zahlenmäßigen Aufwuchs und vor allem der inhaltlichen Ausdifferenzierung des Berichtssystems in den 1960er-Jahren geschuldet sein. Die angestrebte neuerliche Zentralisierung der Informationsflüsse in der ZAIG, wie sie 1968 gebildet worden war, zielte deshalb auch auf eine Einhegung dieses Wildwuchses und einer Kanalisierung und Steuerung ab. Die etablierten bilaterale Kontakte zwischen den Hauptabteilungen und leitenden Funktionären des Partei- und Staatsapparates wirkten hier einerseits störend. Sie konnten im Zweifelsfall sogar Konflikte heraufbeschwören, indem beispielsweise unterschiedliche Einschätzungen an verschiedene Adressaten kommuniziert wurden, die wiederum Auseinandersetzungen zwischen Staats- und Parteiapparat oder im Verhältnis zum MfS nach sich zogen. Prägnant für diese Gemengelage ist die Beschwerde aus der Bezirksverwaltung Halle, wo sich die dortige AIG beklagte, dass »eine Reihe Beziehungen bilateraler Art« und der daraus resultierende »Informationsaustausch« nicht kontrolliert werden können.109

Andererseits erwies sich dieser Zustand auch als nützlich. Mielke konnte die Kontakte seiner Mitarbeiter außerhalb des Ministeriums nutzen, um dort Hintergrundgespräche und Informationen einzuholen. Nicht zuletzt boten die intensiven Kontakte jenseits der ZAIG die Möglichkeit, die Staatssicherheit dauerhaft im Arbeitsalltag der Adressaten zu etablieren. Davon machte auch der Minister Gebrauch. Im Jahrgang 1970 ist eine Anweisung Mielkes dokumentiert, die nach direkten oder indirekten Kontakten zu ZK-Landwirtschaftschef Gerhard Grüneberg die ZAIG anwies, die Lage in der Landwirtschaft im Kreis Plauen analysieren zu lassen.110 Grüneberg wiederum gedachte diese Ausarbeitung als Grundlage für sein Referat auf der bevorstehenden Kreisbauernkonferenz zu nutzen. Der Kreis Plauen diente Grüneberg, der im Frühjahr 1970 landauf, landab ähnliche Zusammenkünfte abhielt, dazu, auf Probleme in der inzwischen seit zehn Jahren vollkollektivierten Landwirtschaft aufmerksam zu machen. In den veröffentlichten Zusammenfassungen der Rede Grünebergs wurden im Wesentlichen zwei Punkte kritisiert: das Fortbestehen einer zu hohen Anzahl an Produktionsgenossenschaften des Typs I (der am wenigsten kollektivierten Form der LPG) und die verbreiteten Vorbehalte, die einzelnen LPG zu Kooperationsgemeinschaften zusammenzuschließen. Beide Punkte stellte auch der ZAIG-Bericht als wesentlich heraus. Im Kern dürften diese Probleme letztlich sowohl im Parteiapparat (dessen mangelnde Durchsetzungsfähigkeit das MfS kritisierte) als auch im Landwirtschaftsministerium (damals Rat für landwirtschaftliche Produktion und Nahrungsgüterwirtschaft) bekannt gewesen sein. Ob Grüneberg bei seinen öffentlichen Reden damit die Auffassung des MfS wiederholte oder diese nur zur Bestätigung seiner Problemanalyse nutzte, muss an dieser Stelle offenbleiben. Für Letzteres spricht, dass Grüneberg zum Beweis seiner Argumentation nicht die von der ZAIG referierten Schwierigkeiten bei der Milch- und Fleischerzeugung thematisierte, sondern auf einen (vom MfS nicht erwähnten) Rückgang der Anbauflächen verwies.111

Unterhalb der Ministerebene entwickelte sich beispielsweise der Leiter Hauptabteilung XX Paul Kienberg zu einem wichtigen Ansprechpartner des ZK für das MfS. Sein Bereich war unter anderem auch für Sicherheitsüberprüfungen im obersten Parteiapparat verantwortlich und damit potenzieller Akteur der Personalpolitik der Parteiführung.112 Hinsichtlich der Berichte versorgte die HA XX den Parteiapparat vor allem mit Informationen über Kirchenprobleme sowie Vorkommnisse im Staatsapparat und – noch in kleinerem Umfang – oppositionelle Bestrebungen.

Aus der Korrespondenz der Hauptabteilung XX mit der ZAIG lässt sich herauslesen, dass die Fachabteilung unmittelbaren Einfluss auf das Berichtswesen nahm. 1970 schlug Kienberg insgesamt sechs Themen zur Berichterstattung an die Partei bzw. den Staatsapparat vor, denen die ZAIG (und das Ministerbüro) in allen Fällen folgte. So übersandte Kienberg am 2. Januar 1970 »Material« über die Lage an der Akademie für Staat und Recht an ZAIG-Chef Irmler, mit der Bitte, hieraus eine Information zu fertigen. Empfänger sollte auf Wunsch Kienbergs Klaus Sorgenicht, Leiter der Abteilung Staats- und Rechtsfragen des Zentralkomitees (ZK) der SED, sein. Bereits sechs Tage später, am 8. Januar 1970, lag die neunseitige Ausarbeitung vor.113 Unklar bleibt in diesem Fall, ob sie tatsächlich zur Verteilung gelangte. In der ZAIG notierte man dem Wunsch Kienbergs entsprechend Sorgenicht im Verteilervorschlag. Ein Versand ist jedoch nicht im Postausgangsbuch der ZAIG nachweisbar.114 Zwei weitere, hier nicht editierte Berichte der HA XX über eine Synode der Evangelischen Kirche der Union in Berlin-Spandau und den Olympischen Tag in Westberlin wurden am 23. Juni 1970 an die ZAIG zur redaktionellen Bearbeitung übersandt und gelangten noch am gleichen Tag zur Verteilung.115 Der kurze Zeitraum zwischen Vorlage bei der ZAIG und der Verteilung deutet zudem darauf hin, dass die Irmler-Abteilung keinen größeren Einfluss auf die inhaltliche Ausgestaltung nahm und den Empfehlungen der Fachabteilungen folgte. Hier offenbart sich ein weiteres Problem. Zwar sah der ZAIG-Strukturplan der Abteilung Fachreferate für die einzelnen Arbeitsgebiete vor. Doch war die Expertise der dortigen Mitarbeiter gerade in der 1970 noch andauernden Aufbauphase schlicht nicht immer ausreichend, um die oftmals äußert speziellen Inhalte beurteilen zu können. In diesen Fällen beschränkte sich die ZAIG auf eine Prüfung nach Sicherheitsaspekten – vor allem die Enttarnung möglicher Quellen – und gab den Bericht dann zur Verteilung frei.116

Umgekehrt nutzten die Hauptabteilungen ihre Möglichkeiten, um im Sinne ihrer Ansprechpartner zu intervenieren. Ein prägnantes Beispiel aus dem Jahr 1970 ist der stellvertretende Gesundheitsminister und Staatssekretär Ludwig Mecklinger. Der Gesundheitsbereich war aus Sicht der SED ein kritischer Bereich, weil sich Ärzte und medizinisches Personal dem Zugriff der Partei entzogen und auch das Ministerium selbst als eines der letzten mit CDU-Mitglied Max Sefrin noch nicht über einen Minister mit SED-Parteibuch verfügte. Mecklinger hingegen war Parteikader und spätestens seit seinem Eintritt in das Gesundheitsministerium 1964 ein aus Sicht der Staatssicherheit stets ansprechbarer und kooperativer Partner, der ganz im Sinne des MfS offiziell bei der Überwachung des Gesundheitswesens half.117 Mecklinger, der Anfang 1970 wegen einer unterschätzten Grippewelle in Kritik geriet,118 nutzte seine Kontakte zum MfS, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Da es offensichtlich Probleme bei der Durchsetzung gegenüber der zuständigen ZK-Abteilung gab, erklärte sich die HA XX bereit, in die Bresche zu springen. Wie Kienberg ZAIG-Chef Irmler unumwunden mitteilte, sei er bereit, dem Vorschlag Mecklingers zu folgen, »Partei und Minister« mit einer MfS-Information über die »komplizierte« Lage in Kenntnis zu setzen, um auf diesem Wege »durch uns noch eine gewisse Unterstützung« zu leisten.119 Was die Staatssicherheit berichtete, legte Kienberg bereits fertig ausgearbeitet – und sehr wahrscheinlich auch mit Mecklinger abgestimmt – vor. Da in der Akte nur das Anschreiben überliefert ist, lässt sich nicht sagen, in welchem Maße die ZAIG oder das Ministerbüro in die Vorlage eingriffen. Auffällig ist, dass der Vorgang zunächst liegen blieb. Obwohl Kienberg am 10. August mit seinem Anliegen vorstellig wurde, wurde der Bericht erst zwei Monate später zur Verteilung freigegeben. Dass die HA XX wenigstens inhaltlich das letzte Wort hatte, zeigt die Wiedervorlage der finalen Entwurfsfassung durch die ZAIG. Am 4. November 1971 wurde der Bericht schließlich zur Verteilung freigegeben.120 Aus Sicht Mecklingers dürfte sich das Warten gelohnt haben: Entgegen der ursprünglichen Absicht, nur den zuständigen ZK-Sekretär Werner Hering und Minister Sefrin zu behelligen, wurde die Ausarbeitung nun an Willi Stoph als Regierungschef und damit Vorgesetzten Sefrins, ZK-Sekretär Kurt Hager und Hering übersandt. Da Sefrin persönlich nicht mehr im Verteiler auftauchte und die finale Fassung eine Reihe von Missständen anprangerte, die auf Versäumnisse der Leitung des Ministeriums zurückgeführt wurden, dürfte die ZAIG-Unterrichtung ein weiterer Baustein zur Demontage des Gesundheitsministers gewesen sein. Sefrin jedenfalls musste im November 1971 von seinem Amt zurücktreten und wurde von Mecklinger beerbt. In diesem Fall half offenbar wenig, dass der angeschlagene Minister ähnlich wie sein Stellvertreter stets um ein enges Verhältnis zur Staatssicherheit bemüht gewesen war.121

6. Druckauswahl und Formalia

In dieser Buchausgabe liegt eine Auswahl der 162 edierten Dokumente des Jahres 1970 vor. Die Zusammenstellung umfasst sowohl standardmäßige Berichte als auch Exemplare mit besonderen formalen oder inhaltlichen Auffälligkeiten. In ihrer Gesamtheit sollen sie einen Eindruck von der innenpolitischen Dynamik des Jahres und der Vielfalt der wiedergegebenen Ereignisse vermitteln. Die Abschriften aller edierten Berichte des Jahres 1970 sind vollständig auf der Website 1970.ddr-im-blick.de abrufbar. In Form einer Datenbank ist hier auch eine elektronische Volltextrecherche möglich. Die Wiedergabe der Dokumente folgt grundsätzlich dem Original. Die Rechtschreibung ist den heutigen gültigen Regeln angeglichen. Während kleinere Tipp- und Rechtschreibfehler stillschweigend korrigiert werden, bleiben größere Orthografie- und Grammatikfehler aus Gründen der Quellenauthentizität unverändert. Ungewöhnliche Abkürzungen werden stillschweigend in übliche umgewandelt oder ausgeschrieben. Eventuelle Unterstreichungen, Randvermerke und Einkreisungen werden im Dokumentenkopf erwähnt, wenn sie gleichmäßig einen Großteil des Textes betreffen. Auf besondere Markierungen einzelner Wörter oder Sätze wird in einem Fußnotenkommentar aufmerksam gemacht.

Der Jahrgang 1970 weist in den Dokumentenköpfen einige Besonderheiten auf. Dazu gehören die bereits erwähnten Weiterleitungsvermerke in den Verteilern, die Hinweise auf die Kommunikationskanäle des MfS in den Staats- und ZK-Apparat geben. Zum anderen weisen viele Berichte zwei Datierungen auf, die in der Regel einige Tage voneinander abweichen. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um das Datum der Bestätigung der Verteilervorschläge, die nicht in der ZAIG, sondern wahrscheinlich dem Vorzimmer des Ministers erfolgten.

In vielen Fällen sind die späteren Daten mit dem Tag des Postausgangs bei der ZAIG identisch. Die abweichenden Datierungen sind unter Vermerke erwähnt. Weist der Bericht nur ein Datum auf, wird dies wie üblich als Datum der Berichtsabfassung angenommen.

Gemäß § 32a des Stasi-Unterlagen-Gesetzes wurden die in den Texten erwähnten Personen der Zeitgeschichte sowie Amts- und Funktionsträger öffentlicher Institutionen vor der Veröffentlichung von Informationen zu ihrer Person benachrichtigt, wenn die Angaben nach einer Einordnung verlangen oder über ihre reine Funktionstätigkeit hinausgehen. Betroffene, die nicht zu diesen Personenkreisen gehören, wurden um eine Einwilligung für die Publikation von Daten zu ihrer Person gebeten. Um den Schutz der Persönlichkeitsrechte zu gewährleisten, war es bei einigen wenigen Berichten notwendig, Passagen, Personennamen oder Adressenangaben zu anonymisieren. Die Aussagekraft der Quellen wird dadurch aber in keiner Weise beeinträchtigt, da es sich hierbei in der Regel um weniger relevante Angaben handelt. Die mitunter sehr aufschlussreichen Anmerkungen und Richtigstellungen von Personen, die sich auf Nachfrage zu den sie betreffenden Aussagen der Berichte äußerten, wurden den Dokumenten als Fußnotenkommentar hinzugefügt.

7. Schlussbemerkungen

Die Berichte des Jahrganges 1970 werfen einige neue Schlaglichter auf die Rolle des MfS im SED-Staat. Vor allem wird deutlich, dass sich die Stasi als Politikberater verstand und ihre Berichte einsetzte, um Entscheidungsprozesse innerhalb der Parteiführung aktiv zu beeinflussen. Besonders die Flankierung der deutschland- und wirtschaftspolitischen Entwicklungen war hinsichtlich Themenauswahl, Terminierung und Verteiler klar darauf ausgerichtet, die Honecker-Fraktion in ihren Bemühungen um eine schleichende Entmachtung Ulbrichts zu stützten. Der Ausschluss Ulbrichts aus dem innenpolitischen Verteilerkreis deutet aber zugleich auch auf die Grenze der Einflussmöglichkeiten des MfS hin. Denn sie zeigen, dass selbst der Parteichef ohne die Informationen der Staatssicherheit auskam und nach Aktenlage auch keinen Versuch unternahm, wenigstens innenpolitisch die Möglichkeiten der Geheimpolizei in seinem Sinne zu nutzen. Eben diese Geringschätzung erlaubte es letztlich Mielke, sich mit den Berichten seines Ministeriums auf die Seite Honeckers zu schlagen.

Hinsichtlich der Mittel, deren sich Mielke bediente, sind die Stimmungsberichte auffällig. Mithilfe angeblicher Meinungsäußerungen aus der Bevölkerung und ihrer Gewichtung ließen sich kritische Positionen kommunizieren, die im Gegensatz zur offiziellen Parteilinie oder Auffassungen einzelner Akteure standen und auf anderem Wege schwerlich offiziell formuliert werden konnten. Daraus ergibt sich die Frage, in welchem Maße und auf welcher Grundlage das MfS solche Aussagen empirisch untermauern konnte. Die internen Diskussionen der Staatssicherheit deuten an, dass die Staatssicherheit gerade in dieser Hinsicht äußerst freizügig agierte. Wenn die Stimmungsberichte ein scheinbar umfassendes und repräsentatives Bild zeichneten, so fehlte es nach Einschätzung der Arbeitsebene tatsächlich in der Regel an ausreichenden Informationen, um zu belastbaren, d. h. allgemein gültigen Aussagen zu kommen.122 Die Gefahr, hier im besten Fall vorschnell oder unausgewogen zu argumentieren, konnte im Zweifelsfall die Glaubwürdigkeit der Stimmungsberichte beschädigen. Denn das MfS war nicht der einzige Akteur, der solche Berichte regelmäßig anfertigte. Die Staatssicherheit konkurrierte hier vor allem mit dem SED-Parteiapparat und stellte sich mit ihren Einschätzungen, wie die Bezirksverwaltung Leipzig zu bedenken gab, mitunter gegen die SED selbst.123 Politischer Schaden entstand der MfS-Führung daraus wenigstens 1970 nicht. Im Gegenteil deutet vieles darauf hin, dass die tendenziöse Informationsverarbeitung bei den Empfängern auf Wohlwollen stieß – solange sich die Grundaussagen für sie als politisch nützlich erwiesen.

Am Ende des Jahres ging die Staatssicherheit gestärkt aus dem Machtkampf zwischen Honecker und Ulbricht hervor. Die deutschlandpolitischen Initiativen Ulbrichts waren zu einem vorläufigen Ende gebracht worden. Gleichwohl war das ein Pyrrhussieg. Entgegen der einleitend zitierten vollmundigen Aussagen Gerhard Heidenreichs war die deutsch-deutsche Annäherung keinesfalls abgebrochen. Zwei Jahre später wurde sie mit Abschluss des Grundlagenvertrages auf eine neue Stufe gehoben. Davon sollte letztlich auch das MfS profitieren: Die in den Berichten des Jahres 1970 virulenten Warnungen vor einer inneren Destabilisierung durch Annäherung an den Westen blieben auch unter den neuen Gegebenheiten relevant. Sie bereiteten den Boden für den weiteren Ausbau des Überwachungsstaates und damit einen Machtzuwachs der Staatssicherheit.124

8. Anhang: Adressaten der Berichte 1970

Tabelle 1: Adressaten der Berichte 1970 außerhalb des MfS

Name, Vorname

Information Nr.

(auch Nr. K-Bericht)

Anzahl

Abrassimow, Pjotr. A

(Jg. 1912), sowjetischer Botschafter in der DDR

153

1

Axen, Hermann (Jg. 1916)

ZK-Sekretär für Außenpolitik, ab Dezember 1970 Mitglied des Politbüros

496, 675, 863, 1139, 1183

5

Barth, Willi (Jg. 1899)

Leiter der Arbeitsgruppe Kirchenfragen beim ZK

76, 198, 587, 593, 612, 690, 1036, 1150

8

Böhm, Siegfried (Jg. 1928)

ZK-Mitglied, Minister der Finanzen

1033, 1067, 1099, 1266,

4

Borning, Walter (Jg. 1920)

Leiter der Abteilung Sicherheit beim ZK

5, 8, 410, 446, 543, 713, 751, 761, 988, 1153, 1161, 1172, 1193, 1349, 1355, 1375, 1376

17

Dickel, Friedrich (Jg. 1913)

ZK-Mitglied, Minister des Inneren und Chef der Deutschen Volkspolizei

92, 410, 619, 740, 988, 1033, 1067, 1099, 1110, 1266

10

Donda, Arno (Jg. 1930)

Leiter der Staatlichen Zentralverwaltung für Statistik

1033, 1067, 1099, 1266

4

Ewald, Georg (Jg. 1926)

ZK-Mitglied, Vorsitzender des Landwirtschaftsrates (Minister)

619, 680, 887, 933, 980, 1011, 1041, 1110, 1125

9

Fadekin, Iwan A. (Jg. 1917)

Leiter der KGB-Gruppe in der DDR

96, 153

2

Fichtner, Kurt (Jg. 1916)

stellvertretender Vorsitzender des Ministerrats für Grundfonds- und Investitionspolitik

568, 1162

2

Florin, Peter (1921)

ZK-Mitglied, Staatssekretär im Außenministerium und 1. stellvertretender Außenminister

362, 370, 516, 547, 616, 912, 966, 967, 970

9

Gotsche, Otto (Jg. 1904)

Sekretär des Staatsrates

1074, 1355

2

Grüneberg, Gerhard (Jg. 1921)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Landwirtschaft

67, 619, 680, 1041, 1110, 1125

6

Hager, Kurt (Jg. 1912)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Wissenschaft, Bildung und Kultur

496, 662, 666, 668, 669, 678, 688, 699, 713, 715, 736, 751, 761, 765, 863, 1024, 1139, 1330

18

Halbritter, Walter (Jg. 1927)

ZK-Mitglied, Leiter des Amtes für Preise beim Ministerrat

464

1

Hellmann, Rudolf (Jg. 1926)

Leiter der Abteilung Körperkultur und Sport des ZK

468, 887, 933, 1011

4

Hering, Werner (Jg. 1930)

Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik des ZK

1024

1

Herrmann, Joachim (Jg. 1928)

Staatssekretär für Westdeutsche Fragen

498, 524

2

Hoffmann, Heinz (Jg. 1910)

ZK-Mitglied, Minister für Nationale Verteidigung

8, 96, 153, 538, 560, 801, 970, 973, 984, 1063, 1064, 1153, 1161, 1172, 1301, 1375, 1376

17

Honecker, Erich (Jg. 1912)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen

5, 213, 274, 294a, 325, 362, 403, 410, 461, 462, 464, 496, 498, 506, 516, 524, 526, 538, 543, 547, 560, 597, 607, 610, 613, 616, 740, 771, 784, 785, 788, 800, 801, 863, 886, 910, 912, 966, 967, 970, 988, 1033, 1062, 1063, 1064, 1067, 1099, 1139, 1153, 1161, 1172, 1193, 1247, 1260, 1266, 1279, 1330, 1347, 1349, 1351, 1356, 1371, 1376

63

Jarowinsky, Werner (Jg. 1927)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Handel und Versorgung

464

1

Junker, Wolfgang (Jg. 1929)

Minister für Bauwesen

1125

1

Keßler, Heinz (Jg. 1920)

ZK-Mitglied, Stellvertretender Minister für Nationale Verteidigung

274, 547, 669, 699, 713, 715, 751

7

KGB Berlin-Karlshorst (»AG«)

8, 76, 240, 294a, 306, 325, 338, 403, 461, 547, 597, 662, 678, 688, 699, 713, 714, 715, 736, 800, 863, 912, 966, 967, 970, 973, 984, 1035, 1063, 1064, 1140, 1193, 1247, 1347, 1351

35

Kiesewetter, Wolfgang

(Jg. 1924)

Stellvertretender Außenminister

370, 675

2

Kleiber, Günter (Jg. 1931)

ZK-Mitglied, stellvertretender Minister für Elektrotechnik und Elektronik, Staatssekretär für den EDV-Einsatz beim Ministerrat

642, 740, 1033, 1067, 1099, 1266

6

Kohl, Michael (Jg. 1929)

Staatssekretär für westdeutsche Fragen beim Außenministerium

213, 498, 524, 1324

4

Kramer, Erwin (Jg. 1902)

ZK-Mitglied, Minister für Verkehrswesen

1076

1

Lamberz, Werner (Jg. 1929)

ZK-Mitglied, Leiter der ZK-Abteilung für Agitation

213, 294a, 311, 325, 403, 498, 516, 524, 526, 563, 613, 662, 668, 669, 678, 699, 713, 715, 784, 863, 886, 910, 966, 1247, 1278, 1351, 1364, 1371, 1377

29

Matern, Hermann (Jg. 1893)

SED-Politbüro

668, 802

2

Mittag, Günter (Jg. 1926)

SED-Politbüro, ZK-Sekretär für Wirtschaft

41, 47, 208, 326, 381, 455, 464, 506, 568, 607, 619, 632, 642, 667, 680, 714, 740, 770, 802, 816, 1033, 1041, 1046, 1067, 1076, 1099, 1125, 1162, 1266, 1277,

30

Naumann, Konrad (Jg. 1928)

ZK-Mitglied, 2. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin

886

1

Neumann, Alfred (Jg. 1909)

SED-Politbüro, 1. Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates

41, 47, 92, 294a, 311, 506, 568, 597, 607, 619, 662, 666, 667, 669, 678, 680, 699, 770, 785, 800, 816, 984, 1041, 1110, 1125, 1162, 1351

27

Norden, Albert (Jg. 1904)

SED-Politbüro, Propagandachef der SED

287, 403, 563, 669, 784, 863, 973, 1247

8

Oppermann, Lothar (Jg. 1930)

Leiter der Abteilung Volksbildung des ZK

770

1

Rademacher, Horst (Jg. 1923)

Leiter des Staatlichen Amtes für Arbeit und Löhne beim Ministerrat der DDR

1260

1

Rauchfuß, Wolfgang (Jg. 1931)

ZK-Mitglied, stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates

632

1

Schürer, Gerhard (Jg. 1921)

ZK-Mitglied, Vorsitzender der Staatlichen Plankommission

632, 740, 816, 980, 1162, 1277

6

Sieber, Günter (Jg. 1930)

Minister für Handel und Versorgung

1033, 1067, 1099, 1266, 1277

5

Siebold, Klaus (Jg. 1930)

Minister für Grundstoffindustrie

816

1

Sölle, Horst (Jg. 1924)

ZK-Mitglied, Minister für Außenhandel und Innerdeutschen Handel

208, 770, 1277

3

Steger, Otfried (Jg. 1926)

Minister für Elektrotechnik und Elektronik

208, 740, 1033, 1067, 1099, 1266

6

Stoph, Willi (1914)

Vorsitzender des Ministerrates (Regierungschef)

41, 47, 208, 240, 274, 287, 294a, 325, 326, 455, 461, 498, 516, 524, 525, 526, 568, 642, 688, 699, 713, 714, 715, 740, 765, 770, 784, 912, 967, 970, 1024, 1033, 1041, 1046, 1062, 1063, 1064, 1067, 1076, 1099, 1110, 1125, 1162, 1183, 1193, 1247, 1266, 1277, 1279, 1324

50

Titel, Werner (Jg. 1931)

Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der DDR

92

1

Ulbricht, Walter (Jg. 1893)

SED-Politbüro, Erster Sekretär des ZK der SED (Parteichef)

267, 274, 287, 294a, 325, 461, 613, 666, 669, 713, 740, 800, 802, 970, 973,

15

Verner, Paul (Jg. 1911)

SED-Politbüro, 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin

76, 198, 213, 326, 403, 587, 593, 612, 662, 678, 690, 713, 784, 910, 1074, 1150, 1036

17

Wambutt, Horst (Jg. 1932)

Leiter der ZK-Abteilung Grundstoffindustrie

464

1

Wansierski, Bruno (Jg. 1904)

Stellvertretender Leiter der ZK-Abteilung Sicherheitsfragen

274

1

Weiz, Herbert (Jg. 1924)

stellvertretender Vorsitzender des Ministerrates

980

1

Winzer, Otto (Jg. 1902)

ZK-Mitglied, Minister für Auswärtige Angelegenheiten

338, 461, 462, 496, 498, 524, 666, 675, 688, 699, 715, 736, 788, 800, 863, 1139, 1140, 1164, 1183, 1260, 1377

21

Wittik, Johann (Jg. 1923)

ZK-Mitglied, Minister für Leichtindustrie

632, 1277

2

Wyschofsky, Günter (Jg. 1929)

ZK-Mitglied, Minister für chemische Industrie

41, 47, 445, 607, 667, 1260

6

Tabelle 2: Name und Funktion der Adressaten innerhalb des MfS 1970

Name, Vorname

Information Nr.

(auch Nr. K-Bericht)

Anzahl

Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe (Bereich I, Leiter Hans Seidel)

8

1

Abteilung Agitation

213, 516, 662, 678, 713,

5

Stellvertretender Minister für Staatssicherheit

Beater, Bruno (Jg. 1914)

96, 153, 274, 294a, 410, 435, 446, 464, 496, 516, 524, 525, 526, 560, 563, 616, 713, 751, 765, 802, 863, 966, 988, 1017, 1041, 1046, 1062, 1063, 1064, 1074, 1125, 1139, 1140, 1150, 1164, 1193, 1279, 1351, 1371, K1/18

40

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Rostock (Leiter)

Krause, Alfred (Jg. 1910)

1041, 1046, K1/18

3

EDV, vermutlich Bereich in der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe

1033, 1067, 1099, 1266

4

Einsatzstab Erfurt

294a

1

Abteilung Rechtsstelle

(Leiter Filin, Hans)

153, 863

2

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Karl-Marx-Stadt (Leiter)

Gehlert, Siegfried (Jg. 1925)

1011

1

Hauptabteilung Personenschutz (Leiter)

Gold, Franz (Jg. 1913)

274, 675, 1074

3

Hauptabteilung PS (Personenschutz)

526

1

Hauptabteilung I (NVA, Grenztruppen)

5, 8, 560, 1153, 1161, 1301, 1375, 1376

8

Hauptabteilung IX (Untersuchung)

461, 462, 988, 1062, 1153, 1172, 1349

7

Hauptabteilung VII (Innenministerium, Volkspolizei) Leiter

Kistowski, Erich (Jg. 1909)

K1/18

1

Hauptabteilung VIII (Beobachtung, Ermittlung)

736, 1033, 1067

3

Hauptabteilung XIII (Verkehrswesen)

1033, 1067, 1099, 1266

4

Hauptabteilung XIX (Verkehr, Post, Nachrichtenwesen) Leiter

Ullrich, Werner (Jg. 1929)

800

1

Hauptabteilung XIX (Verkehr, Post, Nachrichtenwesen)

1035, 1046, 1076

3

Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft)

92, 1033, 1067, 1099, 1266

5

Hauptabteilung XX (Staatsapparat, Kirchen, Kultur, Untergrund)

1311

1

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Leipzig (Leiter)

Hummitzsch, Manfred (Jg. 1929)

891

1

Hauptabteilung I (NVA, Grenztruppen) Leiter

Kleinjung, Karl (Jg. 1912)

153, 274, 801

3

Mappe »Konfrontation« (Absicherung der Treffen in Erfurt und Kassel)

294a, 435

2

Minister für Staatssicherheit Mielke, Erich (Jg. 1907)

96, 153, 241, 242, 243, 294a, 435, 526, 688, 765, 863, 891, 1012, 1140, 1311, 1347, 1356, 1371, K1/6, K1/16, K1/18

21

Hauptabteilung XVIII (Volkswirtschaft) Leiter

Mittig, Rudi (Jg. 1925)

241, 242, 243, 891, 1279, K1/16

6

Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe

Oertel, Karl (Jg. 1933)

1351, 1371

2

Operativstab

516

1

Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Poppitz, Peter (Jg. 1937)

1311

1

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl (Leiter)

Roscher, Ludwig (Jg. 1905)

1011

1

Arbeitsgruppe des Ministers (Leiter)

Rümmler, Erich (Jg. 1930)

568, 1162

2

Stellvertretender Minister für Staatssicherheit

Scholz, Alfred (Jg. 1921)

96, 153, 274, 294a, 597, 863, 1351, 1371

8

Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe Schorm, Ursula (Jg. 1934)

294a, 526, 863, 1311

4

Stellvertretender Minister für Staatssicherheit Schröder, Fritz (Jg. 1915)

76, 96, 153, 198, 208, 241, 242, 243, 267, 274, 294a, 326, 381, 403, 435, 455, 464, 468, 496, 506, 516, 526, 543, 563, 568, 587, 593, 597, 607, 610, 612, 616, 619, 632, 642, 662, 667, 678, 680, 690, 714, 740, 761, 770, 771, 784, 785, 788, 800, 801, 802, 816, 863, 887, 891, 933, 1011, 1024, 1035, 1036, 1041, 1110, 1125, 1162, 1247, 1260, 1277, 1279, 1324, 1330, 1349, 1351, 1355, 1356, 1371, 1372, 1377, K1/16, K1/18

79

Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Groß-Berlin (Leiter)

Wichert, Erich (Jg. 1909)

213, 1074, 1164

3

HV A (Leiter)

Wolf, Markus (Jg. 1923)

294a, 435, 526, 563, 1351, 1371

6

Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe

1347, 8

2

Zentraler Operativstab (ZOS)

526, 1351, 1371

3