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Mängel in der Lagerhaltung für flüssige Treibstoffe der Staatsreserve

22. Mai 1970
Einzelinformation Nr. 506/70 über Mängel in der Lagerhaltung für flüssige Treibstoffe der Staatsreserve der DDR

Im Zusammenhang mit der Untersuchung einer Havarie im Tanklager der Staatsreserve Medewitz, [Kreis] Belzig, [Bezirk] Potsdam, hält es das MfS für notwendig, auf einige in der Vergangenheit bekannt gewordene schwerwiegende Mängel in der gesamten Lagerwirtschaft der Staatsreserve, besonders jedoch in der Lagerhaltung für flüssige Treibstoffe, aufmerksam zu machen.

Am 22.3.1970 zerriss die Tankkuppel des Großtanks Nr. 6 im Tanklager Medewitz, [Kreis] Belzig, [Bezirk] Potsdam. Durch diese Havarie entwichen rund 1 000 t Vergaserkraftstoff (VK), etwa 1,3 Mio. Liter. Der Großtank wurde durch die Havarie teilweise zerstört und es entstand eine akute Explosionsgefahr für das gesamte Tanklager. Eine echte Gefahr der Grundwasserverseuchung entstand durch das Eindringen des VK in den Boden.

Die eingeleiteten Ermittlungen über die Ursachen durch die Organe der DVP und das MfS ergaben bisher nachfolgende Einzelheiten:

Am 25.2.1970 wurde der Großtank Nr. 6 gefüllt. Bei der Einlagerung flossen bereits ca. 50 000 Liter VK ins Erdreich. Überprüfungen ergaben, dass die Messanlagen funktionstüchtig waren und eine manuelle Messung bzw. Beaufsichtigung des Einlagerungsprozesses unterlassen wurde.

Die Art und Weise der Einlagerung von VK in den Großtank Nr. 6 wurde durch den Lagerleiter Schulze1 und durch den Technischen Leiter Horn2 zugelassen, obwohl beide Kenntnis vom defekten Zustand der Messanlagen hatten.

Eine Auswertung des Vorkommnisses erfolgte durch Schulze und Horn nur formal, indem an den Direktor des Objektes I, Spranger,3 eine sehr allgemein gehaltene Vorkommnismeldung übermittelt wurde.

Von diesem wurde lediglich die Weisung erteilt, die Sachlage von einem Mitarbeiter der Abteilung Warenwirtschaft überprüfen zu lassen. (Ein Überprüfungsbericht liegt nicht vor.)

Andere Maßnahmen sind nach den vorliegenden Hinweisen nicht veranlasst worden.

Bei der Einlagerung am 25.2.1970 trat infolge der fehlenden Messungen eine Überfüllung des Großtanks Nr. 6 ein. Das sich bildende Gas-Luft-Gemisch verursachte ein Reißen der Tankkuppel, sodass etwa 950 t VK ungehindert in das Erdreich abfließen konnten.

In der ersten Morgenstunde des 22.3.1970 wurde die gefährliche Lage durch Angehörige des Betriebsschutzes erkannt. In der Umgebung des Großtanks hatte sich ein Gas-Luft-Gemisch mit einer Konzentration von rund 8 % gebildet (Explosionsgefahr besteht schon bei einer Konzentration von 0,8 %).

Durch die Bezirkskatastrophenkommission Potsdam und den Staatsanwalt des Kreises Belzig wurden erste Maßnahmen zur Beseitigung der vorhandenen Gefahrenpunkte angeordnet.

Der Betriebsleiter Schulze erschien erst gegen 2.30 Uhr auf direktem Befehl des Leiters des VPKA Belzig am Vorkommnisort, nachdem er bereits gegen 1.00 Uhr vom wachhabenden Betriebsschutz verständigt worden war.

Selbst der Leiter des Objektes I, Spranger, äußerte zum Zeitpunkt des Bekanntwerdens noch, man solle dieses Vorkommnis nicht dramatisieren.

Die bisherigen Untersuchungen weisen aus:

  • 1.

    Die technischen Messeinrichtungen des Großtanks Nr. 6 waren zum Zeitpunkt der Einlagerung unbrauchbar. Aufgrund dessen erfolgte keine automatische Anzeige der Füllstandhöhe. Eine manuelle Messung wurde nicht vorgenommen. Maßnahmen zur Beseitigung der Schäden an den Messeinrichtungen veranlasste der Lagerleiter nicht.

  • 2.

    Die Sicherungsanlagen, die das Abschalten der Pumpen bewirken, waren gebrauchsunfähig.

  • 3.

    Im Pumpenhaus für Vergaserkraftstoffe war die automatische Pumpenabschaltung durch Manipulationen (Überbrückung elektrischer Leiter) funktionsuntüchtig gemacht worden.

  • 4.

    Die für das Einlagern von Vergaserkraftstoff verantwortlichen Mitarbeiter beherrschen die Technologie nicht vollkommen und missachteten in der Vergangenheit ständig geltende Vorschriften.

Begünstigt wurden die Erscheinungen u. a. durch folgende Faktoren:

  • Gegenwärtig gibt es noch keine ordnungsgemäßen Unterlagen über die Abnahme des erst im Vorjahr (1969) in Betrieb genommenen Tanklagers.

  • In diesem Lager sind keine Fachleute für BMSR-Technik vorhanden, die u. a. auch diese komplizierte Technik warten und pflegen können.

  • Bedingt durch die unordentliche Lagerbuchhaltung konnte erst nach ca. 14 Tagen der effektiv eingetretene Verlust an VK angegeben werden. (Vorschriftsmäßige monatliche Bestandsermittlungen wurden nicht durchgeführt.)

  • Es gibt noch keine verbindliche Betriebsordnung.

  • Maßnahmepläne zur Bekämpfung von Katastrophen bzw. Havarien wurden noch nicht erarbeitet. (Aus diesem Grunde wurde der Einsatz von Kräften zur Beseitigung der Folgen bedeutend erschwert.)

  • Das laut Anweisung des Leiters der Staatsreserve zu bildende Sicherheitsaktiv wurde im Lager Medewitz noch nicht geschaffen.

  • Seit einem Jahr erfolgte keine Kontrolle der Brandschutzunterlagen. Zur Zeit werden Brandschutzunterlagen überhaupt nicht mehr geführt.

Durch die Verwaltung der Staatsreserve, Abt. Sicherheit und Inspektion, (die gegenwärtig noch nicht auf der Grundlage der Verfügung 136/66 des Vorsitzenden des Ministerrates – Sicherheitsbeauftragte4 – arbeitet), wurde bereits am 11.9.1969 festgestellt, dass im Tanklager Medewitz durch einen Wassereinbruch in den Pumpenhäusern für leichte und schwere Produkte die Einsatzbereitschaft des Lagers eingeschränkt wurde. Obwohl dem Betriebsleiter Schulze diese Tatsachen bekannt waren, wurden von ihm keine Maßnahmen zur Beseitigung der Schäden angewiesen.

Im Heizhaus des Lagers traten grobe Mängel, besonders durch fehlerhafte und fahrlässige Bedienung, auf und die Pflege und Wartung wurde auch vernachlässigt (Schaden ca. 80 bis 100 TM).

Typisch für die groben Erscheinungen der Misswirtschaft war u. a. auch das Abkochen von Teer in unmittelbarer Nähe der Entladeanlagen für Flugturbinenkraftstoff. Erst durch das Einschalten des VPKA Belzig konnte der Lagerleiter Schulze gezwungen werden, die Forderung des Brandschutzverantwortlichen zur Beseitigung dieses Mangels durchzusetzen.

Diese und andere Erscheinungen veranlassten den Leiter der Abt. Sicherheit in der Staatsreserve, die fristlose Entlassung des Lagerleiters Schulze zu fordern.

In der Vergangenheit wurden durch eine Anzahl von Kontrollen und unter Einschaltung anderer staatlicher Kontrollorgane eine Vielzahl von Mängeln in der Lagerwirtschaft der Staatsreserve erkannt, Forderungen zur Beseitigung der gröbsten Mängel erhoben und entsprechende Weisungen erlassen.

So führte die Abt. Finanzen der Verwaltung der Staatsreserve im Januar 1970 eine Revision des Lagers Medewitz durch. Im Revisionsprotokoll sind eine Vielzahl von Mängeln aufgeführt worden. Die Lagerleitung hatte diese Feststellungen bisher nicht ausgewertet.

Der Vorsitzende des Rates des Kreises Belzig wandte sich im Januar 1970 über den Vorsitzenden des Rates des Bezirkes an den Leiter der Staatsreserve und machte ihn auf die groben Mängel und Missstände im Lager Medewitz, [Kreis] Belzig, aufmerksam. Eine Veränderung der Lage wurde jedoch nicht erreicht.

Auch Hinweise des MfS an den Leiter des Objektes I über die Situation in diesem Lager blieben unbeachtet. (Der Leiter des Objektes I ist verantwortlich für die Anleitung und Kontrolle der Lager für Brenn- und Treibstoffe.)

In der Vergangenheit ereigneten sich im gesamten Bereich der Staatsreserve eine Reihe von Havarien und anderen Vorkommnissen, deren Ursachen im Wesentlichen ebenfalls auf grobe Mängel und Missstände in der Durchsetzung der staatlichen Disziplin und Ordnung zurückzuführen waren.

Einige dieser Vorkommnisse waren

  • Explosion im Tanklager Kablow, [Kreis] Königs Wusterhausen, am 12.8.1962. Der Sachschaden betrug ca. drei Mio. Mark. Ursache: Konstruktive Mängel und Mängel in der Installation der elektrischen Ausrüstungen.

  • Bewaffneter Überfall (22.10.1962) auf das Tanklager in Berlin-Adlershof (ein Betriebsschutzangehöriger wurde ermordet und ein weiterer schwerverletzt).

    Die Täter konnten sich nach Überwindung des Zaunes ungehindert im Gelände des Objektes bewegen u. a. auch wegen des Fehlens von Sperrzonen an den Tankbatterien.

  • Wassereinbruch im Lager Löcknitz (1966) führte zu einem Verlust größerer Mengen Zucker. Die Ursachen wurden nicht beseitigt, sodass ein erneuter Wassereinbruch im Sommer 1967 wiederum zu einem Zuckerverlust in Höhe von 600 TM führte.

  • Im September 1968 lieferte das Tanklager Kablow Düsentreibstoff für die NVA aus, der nicht den TGL entsprach (Flammpunkt war unzulässig gesenkt worden). Zur Befüllung des Tanks waren Rohrleitungen benutzt worden, die nicht ausschließlich für diesen Treibstoff zur Verfügung standen.

  • Bei einer im Mai 1967 im Materiallager Niederau, [Kreis Meißen], durchgeführten Überprüfung wurden viele Mängel in der elektrischen Installation erkannt. Die Auflagen zur Beseitigung der Mängel wurden bisher nicht realisiert, wodurch eine akute Brandgefahr entstanden ist.

  • Eine Überprüfung der Lage durch die Technische Überwachung der DDR wurde durch den Objektleiter unterbunden, indem den Vertretern der Zutritt zum Lager verwehrt wurde.

Aufgrund der bedeutenden Vorfälle und einer Vielzahl von Vorkommnissen mit geringeren Ausmaßen, erfolgte 1967 in einer Reihe von Lagern der Staatsreserve eine Überprüfung der Lage durch das MfS.

Im Juli 1967 wurden die Ergebnisse der Überprüfung an den Leiter der Staatsreserve übergeben und von diesen akzeptiert.

Unter anderem wurde daraufhin im Dezember 1967 eine Zusammenarbeit zwischen der Verwaltung der Staatsreserve, dem MdI, HA Feuerwehr, der Zentralinspektion der in der DDR und dem MfS organisiert, um eine Komplexüberprüfung der Lager für Treibstoffe der Staatsreserve durchzuführen.

Die wichtigsten Ergebnisse dieser Überprüfungen bestanden darin, dass

  • die Ordnung in den Lagern nicht nach einheitlichen Grundsätzen erarbeitet sind;

  • es keine einheitlichen Regelungen über das Betreten bzw. Verlassen der Lager für Betriebsfremde und für Betriebsangehörige und keine exakte Nachweisführung über den Personenkreis gibt, der die Lager betritt;

  • keine ausreichende Sicherung der Sicherheitszonen, besonders in Tanklagern, vorhanden sind;

  • der Umgang mit Projektierungsunterlagen und Lageplänen fahrlässig ist;

  • in der Führungs- und Leitungstätigkeit die Hauptfragen von Sicherheit und Ordnung nicht genügend berücksichtigt werden;

  • die Dokumentenführung über technische Anlagen in den Lagern nicht den Vorschriften entspricht;

  • keine Katastrophenpläne vorhanden sind;

  • gesetzliche Bestimmungen zur Inbetriebnahme, Pflege, Wartung, Revision und zur laufenden Überprüfung wartungspflichtiger Anlagen nicht eingehalten werden;

  • die Bestimmungen des Brandschutzgesetzes (v. 18.5.1956)5 nicht konkret durchgesetzt werden.

Den Überprüfungsbericht vom 17.1.1968 über die Situation in den Tanklagern erhielt die Leitung der Staatsreserve zur Auswertung.6 Eine Auswertung der Überprüfungen erfolgte erst auf Aufforderung durch das MfS im Juli 1968.

Weitere Feststellungen im Jahre 1969 und auch in diesem Jahr zeigen, dass die Schlussfolgerungen aus den Komplexüberprüfungen immer noch nicht konsequent und umfassend durchgesetzt werden.

Durch die Staatsanwaltschaft des Kreises Belzig wurde gegen den Lagerleiter Schulze ein EV mit Haft und gegen den technischen Leiter Horn eine EV ohne Haft gemäß § 167 – fahrlässige Wirtschaftsschädigung,7 § 187 – Gefährdung der Brandsicherheit8 und § 193 – Verletzung der Bestimmungen des Gesundheits- und Arbeitsschutzes9 eingeleitet.

  1. Zum nächsten Dokument Grenzprovokatorische Handlungen westdeutscher Zivilpersonen

    22. Mai 1970
    Information Nr. 538/70 über grenzprovokatorische Handlungen westdeutscher Zivilpersonen im Grenzabschnitt Marienborn, Bezirk Magdeburg am 20. und 21. Mai 1970

  2. Zum vorherigen Dokument Provokationen im Zusammenhang mit Treffen in Kassel am 21.5.1970

    20. Mai 1970
    Information Nr. 525/70 über Morddrohungen und andere gegen Genossen Stoph persönlich gerichtete Provokationen im Zusammenhang mit dem Treffen in Kassel am 21. Mai 1970