Probleme im VEB Synthesewerk Schwarzheide
5. November 1970
2. Information Nr. 1162/70 über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Investitionsvorhaben Polyurethan, Neubau und Prozessautomatisierung, im VEB Synthesewerk Schwarzheide
Das MfS berichtete bereits im Juni über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Investitionsvorhaben Polyurethan, dem Neubau und der Prozessautomatisierung, im VEB Synthesewerk Schwarzheide (SWS) und stellte dabei fest,1 dass
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eine kritische Situation in der Realisierung dieses strukturbestimmenden Investitionsvorhabens eingetreten ist,
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die vertragspflichtige französische Lieferfirma ENSA/Paris2 die Schwierigkeiten im Wesentlichen wegen Terminverzögerungen, Nichtbeherrschen des Verfahrens, Nichteinhaltung der Sicherheitsbestimmungen und Mängeln in der Zusammenarbeit mit anderen Unterlieferanten verursacht hatte sowie
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Probleme in den DDR-seitig zu realisierenden Bauleistungen aufgetreten waren.
Zum damaligen Zeitpunkt waren noch günstige Bedingungen vorhanden, den französischen Vertragspartner ENSA/Paris zur Bezahlung der vereinbarten Vertragsstrafen und zur Durchsetzung des Staatsplantermins zu zwingen.
Gegenwärtig zeigt sich, dass bei der Realisierung des Vorhabens die Terminverzüge und Schwierigkeiten sich weiter verschärft haben und die Einhaltung der Staatsplantermine
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Konfektionierung (Elastogran AG) 1.1.1971
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MDI-Anlage (erster ENSA-Teilkomplex) 1.4.1971
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Polyesteralkoholanlage (Elastogran AG) 1.7.1971
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TDI-Anlage (zweiter ENSA-Teilkomplex) 1.8.1971 (nach technischen Erfordernissen)
(Beschluss des Politbüros vom 3.10.1967,3 Beschluss des Ministerrates vom 9.11.19674 und Grundsatzentscheidung vom 28.5.19695) ernsthaft infrage gestellt sind.
Die Terminverzüge resultieren weiterhin aus
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Terminverzögerungen und nicht qualitätsgerechter Auslieferung der Dokumentationen und
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nicht termingerechter Anlieferung der Ausrüstungen,
zu verantworten durch die ausländischen Lieferfirmen, und aus
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fehlenden Bau- und Montagekapazitäten (BMK Kohle und Energie),
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nicht termingerechter Lieferung der DDR-Beistellung (Ausrüstungen),
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ungeklärter Versorgung mit Roh- und Hilfsstoffen,
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fehlenden Arbeitskräften für das Inbetriebsetzen und Betreiben der Anlagen,
zu vertreten vom Investitionsauftraggeber VEB SWS.
Im Einzelnen stellt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt die Situation wie folgt dar:
Die Vertragsrealisierung lässt nach Einschätzung der DDR-Partner eine eindeutige Schuldbelastung der Verkäufer der PUR-Anlage, ENSA/Paris und Elastogran AG, für den Terminverzug nicht mehr zu, sodass formell den Verkäufern für Lieferverzüge Vertragsstrafen zwar berechnet werden könnten, jedoch bei ENSA/Paris wenig Aussicht auf Durchsetzung der Forderungen bestehen würden.
Unterschiedliche Auffassungen über die realen Möglichkeiten zur Einhaltung der Staatsplantermine führten u. a. zu Verzögerungen bei notwendigen Entscheidungen, so z. B. zum achten von der Fa. ENSA/Paris vorgelegten Netzwerk, die sich zum Nachteil des Investitionsauftraggebers auswirken können.
Die Mehrzahl der am Vorhaben beteiligten DDR-Fachleute vertraten neben ihrer offiziellen Meinung, die Staatsplantermine könnten bei großen Anstrengungen, Sofortprogramm und erheblichen finanziellen, materiellen und personellen Aufwand gehalten werden, in inoffiziellen Gesprächen häufig den Standpunkt, dass es für die DDR volkswirtschaftlich vorteilhafter wäre, die Staatsplantermine um drei bis sechs Monate zu verschieben.
Am 14.10.1970 wurde durch die verantwortlichen Leiter des Investitionsauftraggebers VEB Synthesewerk Schwarzheide und des Generalauftragnehmers VEB Chemieanlagen-Montagekombinat (CMK) Leipzig eine »Komplexvorlage für die Abteilung Grundstoffindustrie des ZK der SED, Genossen Wambutt,6 zur Inbetriebnahme der Polyurethanchemie in VEB Synthesewerk Schwarzheide«7 erarbeitet und der Abt. Grundstoffindustrie im ZK und dem Minister für chemische Industrie, Genossen Wyschofsky,8 zugestellt.
Diese Vorlage unterzeichneten
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Dr. Bach,9 Generaldirektor der VVB Agrochemie,
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Cornelius,10 i. V. für den Generaldirektor der VVB Chemieanlagen, Dr. Pasold,11
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Herbig,12 i. V. des Werkdirektors des VEB Synthesewerk Schwarzheide, Dr. Meyer,13
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Rottleb,14 i. V. des Betriebsdirektors des VEB Chemie-Montage-Kombinat Leipzig, Hamerla.15
Die Vorlage stellt den Stand der Realisierung per 30.9.1970 dar und enthält als Schlussfolgerung den Vorschlag, die Staatsplantermine um drei bis sechs Monate zu verschieben. Die vorgeschlagene Veränderung des Zeitpunktes der Inbetriebnahme ist abhängig davon, in welchem Umfang und wie zusätzlich DDR-Leistungen, erforderliche Roh- und Hilfsstoffe und Arbeitskräfte für die Inbetriebnahme des PUR-Komplexes abgesichert werden können. Die Importpartner sollen auf der Grundlage absolut gesicherter DDR-Leistungen aufgefordert werden, neue Netzwerke für ihre Vertragserfüllung zu erarbeiten.
Hauptgründe für diesen Vorschlag bestehen darin, dass
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der zur Sicherung der Staatsplantermine erforderliche volkswirtschaftliche Aufwand – besonders wegen des fehlenden wissenschaftlich-technischen Vorlaufs bei der PUR-Anwendung zur Chemisierung der Volkswirtschaft der DDR – vom erzielbaren Nutzen nicht aufgewogen wird und
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die hohe Konzentration der erforderlichen Kräfte in dem zur Sicherung der Staatsplantermine noch zur Verfügung stehenden Zeitraum Risiken hinsichtlich des Arbeitsschutzes und der Sicherheit bei der Inbetriebnahme des PUR-Komplexes mit sich bringt, die nicht vertretbar wären.
Die Vorlage geht von einer objektiven Darstellung des gegenwärtigen Realisierungsstandes und einer sachlichen Einschätzung der bestehenden Möglichkeiten zur Einhaltung des Staatsplantermins aus.
Sie entspricht in ihrem wesentlichen Inhalt und ihren Schlussfolgerungen im Prinzip den in den Untersuchungen des MfS getroffenen Feststellungen.
In einigen Fragen werden jedoch in dieser Vorlage Entscheidungen zu den dargestellten Schwierigkeiten vorgeschlagen, die nach Auffassung des MfS nicht real sind. So wird u. a. der Versuch unternommen, festliegende Verantwortlichkeiten des Investitionsauftraggebers, des Generalauftragnehmers und der örtlichen Organe der Staatsmacht auf eine höhere Leitungsebene zu verlagern.
Die Vertragsrealisierung durch die Importpartner ENSA/Paris und Elastogran AG (EAG) kann gegenwärtig wie folgt eingeschätzt werden:
Die Firma ENSA/Paris hat seit Beginn der Auslieferung der Dokumentation erhebliche Terminverzüge zugelassen, insbesondere bei der Auslieferung der Baudokumentation.
Gegenwärtig beträgt der Lieferverzug bei Dokumentationen zwischen einem und acht Monaten (Mittelwert von ca. fünf Monaten). Für die Mehrzahl der ausstehenden Dokumentationen liegen keine akzeptablen Terminvorschläge vor. Damit wird selbst unter Berücksichtigung der unzureichenden Baukapazität die Erbringung von Bauleistungen durch den VEB CMK Leipzig erheblich behindert.
Die achte geänderte Fassung des ENSA-Gesamtnetzwerkes ist DDR-seitig bisher nicht bestätigt worden, da die vorgeschlagenen Termine nicht mit dem Gesamtnetzwerk übereinstimmen.
Außerdem wäre eine Konzentration von Bau- und Montageleistungen der DDR in den Monaten Dezember 1970 bis März 1971 erforderlich geworden, die ohne grundsätzliche Bilanzentscheidung mit der gegenwärtigen Bau- und Montagekapazität nicht zu erbringen sind.
Voraussetzung für die Bestätigung des Gesamtnetzwerkes der Fa. ENSA und des Feinnetzwerkes als Vertragsbestandteil sind demzufolge:
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Bilanz- und vertragsmäßige Sicherung der Bau- und Montageleistungen und der Beistellungen durch den Generalauftragnehmer (GAN);
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Sicherung der Ausliefertermine für die Dokumentation durch ENSA/Paris bis zum letztmöglichen Termin der technischen Realisierbarkeit;
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Bereitstellung von Valutamitteln für die Mehrkostenforderungen der Fa. ENSA/Paris für zusätzliches Leitpersonal (Drei-Schichtbetrieb) und weitere finanzielle Mittel für Mehrkostenforderungen der DDR-Zulieferbetriebe für Mehraufwand durch Verkürzung der Bestellfristen und Montagezeiten.
Als Folgen einer Nichtbestätigung des Gesamtnetzwerkes von ENSA/Paris sind zu sehen:
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Nach dem Vertrag bilden die Liefertermine im bestätigten Feinnetzwerk die Grundlage für Lieferungen und Leistungen beider Vertragspartner bzw. für die Berechnung von Konventionalstrafen bei Lieferverzug.
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Der festgelegte vorläufige Höchstpreis für Montage- und Probebetriebsleistungen kann nicht in einen endgültigen umgewandelt werden.
Für die Lösung dieses Problems – Bestätigung des Gesamtnetzwerkes – werden nachstehende Alternativen gesehen:
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Eine Lösung bei Beibehaltung des Staatsplantermines erfordert die Klärung der dargestellten Voraussetzungen. Diese Möglichkeit wird von den Fachleuten stark bezweifelt.
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Die Verlegung des Staatsplantermins und die erneute Erarbeitung eines Netzwerkes durch ENSA/Paris auf der Basis gesicherter DDR-Leistungen durch vorgegebene Prämissen für Bau- und Montageleistungen.
Das Feinnetzwerk der Fa. Elastogran AG ist nicht bestätigt worden, die Realisierung erfolgt nach einem Grobterminplan. Die Fa. Elastogran AG hat zurzeit erhebliche Verzüge bei der Auslieferung der Dokumentationen für die Konfektionierung. Fehlende Unterlagen für den Elektro- und BMSR-Teil gefährden vor allem die Realisierung. Die DDR-Fachleute schätzen ein, dass durch gezielte Terminforderungen im Spitzengespräch mit der Fa. Elastogran AG die Einhaltung des Staatsplantermins noch nicht gesichert werden könnte. In diesem Falle wäre jedoch wegen fehlender Valuta-Freigabe (53 Mio. VM) für Rohstoffimporte die termingemäße Inbetriebnahme der Anlage nicht gesichert.
Damit entsteht zugleich die Gefahr, dass die Garantiezeit für die Konfektionierung ohne Inbetriebnahme abläuft. Treten Verzögerungen bei der Inbetriebnahme der ENSA-Rohstoffanlage ein, erhöht sich diese Gefahr noch mehr.
Die Lieferungen von Ausrüstungen für das Anwendungstechnikum waren zum Zeitpunkt des Vertragstermins (30.9.1970) nur zum Teil erfolgt. Die Zusicherungen des Lieferabschlusses bis Jahresende 1970 werden als ausreichend angesehen, weil durch fehlende Bauleistungen und DDR-Beistellungen sowie verspätete Genehmigung der Valutamittel für Rohstoffimporte für die anwendungstechnische Vorbereitung ohnehin DDR-seitig ein Verzug von drei Monaten eingetreten ist.
Als problematisch werden bei der Realisierung der Lieferverpflichtungen der Fa. EAG folgende Fragen angesehen:
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Das vertraglich zugesagte anwendungstechnische Know-how für Klebestoffe und Lacke wird gegenwärtig von der Fa. EAG nicht beherrscht und kann nach Aussagen von Mitarbeitern der Fa. EAG nicht entsprechend den vertraglich fixierten Forderungen geliefert werden, sodass sich auch für den durch die DDR-Seite zu realisierenden technologischen Lösungsweg Schwierigkeiten ergeben.
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Die Fa. EAG kann keine Garantie für die Heißmischstation (Elastomere, Lacke, Kleber) geben, da sie selbst nur über Kenntnisse aus Laborversuchen verfügt (DDR-Fachleute bezweifeln die Lösung des Problems bis zur Aufnahme des Dauerbetriebes am 1.3.1971).
Der Stand der Investitionsrealisierung am 30.9.1970 beträgt nach offiziell vorliegenden Materialien:
[Investrealisierung] | Soll Mio. Mark | Ist Mio. Mark | Rückstand zum Netzwerk in Mio. Mark |
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Gesamt | 192,1 | 169,5 | 28,9 |
davon Bau | 38,3 | 33,6 | 8,6 |
Ausrüstungen | 111,6 | 96,2 | 17,7 |
Importe | 90,1 | 82,8 | 7,6 |
(Die Differenzen zwischen den Soll- und Ist-Zahlen einerseits und dem Rückstand zum Netzwerk andererseits entstehen dadurch, dass Vorleistungen erfolgt sind, die nicht den Erfordernissen des Netzwerkes entsprechen.)
Die ausgewiesenen Baurückstände im VEB SWS beziehen sich auf die vom Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates, Genossen Dr. Fichtner,16 am 28.7.1970 getroffenen Festlegungen, in denen neue Monatsbauleistungen festgelegt wurden.
Danach soll am Jahresende eine Eintaktung in das Netzwerk erreicht werden. Von der geplanten Jahresbausumme in Höhe von 63,2 Mio. Mark wurden 33,6 Mio. Mark bis zum 30.9.1970 realisiert, sodass im IV. Quartal 29,6 Mio. Mark noch zu realisieren sind.
Von den vom BKM Kohle und Energie Hoyerswerda geplanten zwölf Mio. Mark Bauleistungen für Oktober 1970 waren allein 3,8 Mio. Mark Bauleistungen wegen fehlender Kooperationsleistungen nicht gesichert. Die gegenüber dem Plan zu realisierende Leistung hatte sich, bedingt durch Minderleistungen in den Monaten August/September 1970, bereits auf 16 Mio. Mark im Oktober erhöht. Diese Bauleistungen wären notwendig gewesen, um die Termine des komplexen Maßnahmeplanes des GAN vom 31.8.1970 zu gewährleisten.
Gegenwärtig ist an keiner Produktionsanlage die umfassende Montagefreiheit gesichert. Dabei ist das Eintakten der Baurealisierung in das Netzwerk bis Jahresende die Grundvoraussetzung für den geplanten konzentrierten Einsatz der Montagekräfte.
Obwohl verspätet bereitgestellte oder fehlende Dokumentationen der ausländischen Lieferanten auf die Baurückstände erheblichen Einfluss haben, muss als Hauptursache dieser Baurückstände das Fehlen der gewerkegerecht zu stellenden Arbeitskräfte angesehen werden. Das VE BKM Kohle und Energie Hoyerswerda (BKM) als Hauptauftragnehmer Bau beschäftigt gegenwärtig auf der Baustelle 1 440 Arbeitskräfte. Zur Sicherung der Planerfüllung sind nach Berechnungen des Generalauftragnehmers 2 600 Arbeitskräfte erforderlich. Zur Sicherung der termingerechten Inbetriebnahme der produktionsabhängigen Objekte wären in den Monaten November 1970 bis Februar 1971 1 060 Arbeitskräfte erforderlich, bei einem derzeitigen Ist von 545 Arbeitskräften.
Obwohl der Oberbauleiter einschätzt, dass durch die getroffenen Bilanzentscheidungen und die Zuführung von Arbeitskräften aus der örtlichen Industrie der geplante Bauanteil von 63,3 Mio. Mark für 1970 im Wesentlichen erreicht wird und ein verbleibender Überhang von 4 bis 5 Mio. Mark keinen entscheidenden Einfluss auf die Inbetriebnahme der Produktionskapazitäten haben wird, wird dieser Standpunkt durch den Investitionsauftraggeber nicht geteilt.
Nach Meinung des Investitionsauftraggebers sind
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die Gesamtforderungen des GAN für 1970 mit 76,9 Mio. Mark ermittelt worden und
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die Realisierung der Bau- und Montageleistungen vom Hauptauftragnehmer Bau (BKM Kohle und Energie) auf die Abrechnung der Bruttoleistungen orientiert und die Forderungen auf unbedingte Realisierung der für die Inbetriebnahme wichtigen Teilobjekte durch den GAN ungenügend durchgesetzt worden.
Nach den vorliegenden Berechnungen des Hauptauftragnehmers Ausrüstungen, VEB Chemieanlagenbaukombinat, Betriebsteil Konstruktions- und Ingenieurbüro Leipzig, sind mit Stand vom 30.9.1970 die DDR-Importe an Ausrüstungen in Höhe von 1 626 TVM nicht gesichert (Kleinapparaturen, Pumpen, Armaturen, Rohrleitungen).
Für die Polyesteralkoholanlage wären beispielsweise bisher Bestellungen des Synthesewerkes Schwarzheide in Höhe von 2 070 TM an Ausrüstungen (Unterlieferanten aus der DDR) nicht angenommen worden, sodass gegenwärtig keine Bezugsmöglichkeiten im Inland mehr gesehen werden.
Einige ungeklärte Probleme der Inbetriebnahme der PUR-Anlagen
Für die Inbetriebnahme der Anlagen (Probebetrieb) und für die technologische Beherrschung des Dauerbetriebes liegen aufgrund des hohen Verflechtungsgrades von Teilprozessen beim Investitionsauftraggeber VEB SWS keine Erfahrungen vor.
Bei der Besichtigung von Referenzanlagen in den USA wurde u. a. auch festgestellt, dass die künftigen Betreiber solcher Anlagen vorher bis zu zwei Jahren auf ihre künftige Tätigkeit vorbereitet wurden.
Im Projekt PUR-Anlage im VEB SWS war vorgesehen, Leitungskräfte ein Jahr und Produktionsarbeiter ein halbes Jahr vor Aufnahme des Probebetriebes gründlich auf ihre zukünftige Tätigkeit vorzubereiten.
Die im Dezember 1970 abschließende Ausbildung in den entsprechenden Referenzanlagen wird mit zwei fehlenden Anlageleitern und acht fehlenden Schichtingenieuren abgeschlossen werden.
Für die derzeitig nach Netzplan fällige Einarbeitung von 744 Produktionsarbeitern stehen jedoch nur 223 zur Verfügung.
Der Investitionsauftraggeber erklärt zu diesem Problem, dass
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die republikoffene Werbung an ungeklärten Fragen der Wohnraumbeschaffung und der Genehmigung von Auslösungszahlungen scheitert,
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eine Zuführung aus dem VEB Synthesewerk durch eine bereits bestehende Unterbesetzung von 144 VbE (Vollbeschäftigteneinheit) nicht erfolgen kann und
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die Zuführung aus dem Industriezweig ohne Wirkung blieb
Aus diesem Grund stellt er die ordnungsgemäße Inbetriebnahme der PUR-Anlagen zum Staatsplantermin in Zweifel.
Verhandlungen über die Zuführung von etwa 400 bis 500 Arbeitskräften aus der VR Polen blieben bisher gleichfalls ohne Ergebnis. Das Problem des Einsatzes polnischer Arbeitskräfte bestehe darin, dass es doch mehr oder weniger nur Arbeitskräfte aus artfremden Industriezweigen sein werden, die zum Einsatz gelangen könnten und deshalb eine längerbefristete Qualifizierungsphase vorgesehen werden müsste.
Für die Inbetriebnahme der Anlagen sind Import- und inländische Roh- und Hilfsstoffe erforderlich.
Der Probebetrieb der Konfektionierung erfolgt mit Importrohstoffen. Der Dauerbetrieb wird solange mit Importrohstoffen aufrechterhalten werden, bis die Betriebsfähigkeit der ENSA-Rohstoffanlage im Probebetrieb gesichert werden kann und sie qualitätsmäßig und mengenmäßig ausreichende Rohstoffe bereitstellt.
Für den Import der Rohstoffe wurde durch das Ministerium für Chemie am 20.9.1970 die erforderliche Bilanzentscheidung getroffen. Der AHB Chemie dagegen erklärte sich wegen fehlender Finanzierungsmöglichkeiten z. T. nicht in der Lage, diese Importe zu sichern. Außerdem weisen Außenwirtschaftliche darauf hin, dass selbst bei geklärter Finanzierung die materielle Sicherstellung bis zum Probebetrieb nicht mehr garantiert werden kann.
Für den Probe- und Dauerbetrieb der ENSA-Anlagen werden auch Roh- und Hilfsstoffe aus dem Inland eingesetzt.
Für die langfristige Absicherung dieser Rohstoffe konnten bisher von 80 Positionen nur sechs langfristig aus dem Eigenaufkommen vertraglich gebunden werden, die nicht termingemäße Realisierung von Inlandskapazitäten (Propylenoxyd) würde zusätzliche Importe notwendig machen.
Gegenwärtig zeichnen sich auch Absatzprobleme und Fragen der Anwendung von PUR-Rohstoffen und in der Anwendungstechnik ab.
Die Kapazitätsbestimmung für den PUR-Komplex vor Abschluss der Importverträge erfolgte auf der Grundlage von Koordinierungsvereinbarungen mit den Abnehmern im Jahre 1968. Bei einer Bedarfsabstimmung im September 1970 wurde von der Mehrzahl der Abnehmer der Bedarf wegen
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nicht termingemäßer Realisierung notwendiger Investitionen,
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Änderungen in der Perspektivkonzeption des betreffenden Industriezweiges,
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mangelndem anwendungstechnischen Vorlauf und
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fehlender technologischer Voraussetzungen
wesentlich gesenkt.
Es bestehen gegenwärtig bei Weichschaumkomponenten Forderungen, die die geplante Produktionskapazität übersteigen, insbesondere bestehen Forderungen der Schüngel Chemie KG Burkhardtsdorf, [Bezirk] Karl-Marx-Stadt (halbstaatlicher Betrieb).
Bei Hartschaumkomponenten werden die geplanten Produktionskapazitäten annährend ausgelastet werden.
Erhebliche Absatzschwierigkeiten werden nach den bestehenden Übersichten bei der Auslastung jener Produktionskapazitäten entstehen, speziell bei den PUR-Qualitäten, die für die Chemisierung der Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung sind (Elastomere, Lacke, Kleber, Syntheseleder). Ein Export der nicht absetzbaren PUR-Komponenten erscheint problematisch, da dann das Gesamtsortiment eingesetzt werden müsste.
Von Fachleuten wird eingeschätzt, dass der gegenwärtige Rückstand in der Anwendungsforschung nur durch konzentrierte Sofortmaßnahmen der künftigen Anwender beseitigt werden kann, zumal nach der jetzigen Kenntnis bei der Lieferung des Know-how der Elastogran AG der Einsatz der PUR-Komponenten für Elastomere, Lacke und Kleber nicht beherrscht wird.
Verstärkt werden die Absatzprobleme für den Investauftraggeber VEB SWS noch dadurch, dass bisher über den am 8.4.1970 gestellten Preisantrag für PUR-Produkte vom Amt für Preise noch nicht entschieden wurde. Mit den Abnehmern der PUR-Produkte konnten demzufolge keine Wirtschaftsverträge bisher abgeschlossen werden.
Die Schüngel Chemie KG verfügt gegenwärtig über eine Versäumniskapazität von 12 kt PUR-Weichschaumrohstoffen zu Blockware.17
Innerhalb des Verantwortungsbereiches der VVB Plast- und Elastverarbeitung hat noch der VEB Elguwa Leipzig eine Weichschaumkapazität von 700 t.
Der künftige Bedarf der VVB Plast- und Elastverarbeitung (Bilanzorgan für Weichschaum) wird sich nach einer Bedarfsermittlung vom September 1970 folgendermaßen entwickeln:
[Jahr] | 1971 | 1972 | 1973 | 1974 | 1975 |
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Angaben in kt | 15,57 | 16,09 | 17,22 | 17,84 | 18,18 |
Den überwiegenden Teil hiervon wird die Fa. Schüngel Chemie KG beanspruchen (1971 – 14,00 kt).
Neben der Erweiterung der Weichschaumproduktion arbeitet die Fa. Schüngel seit 1968 an anwendungstechnischen Problemen für die Hartschaumherstellung. Der Betriebsinhaber stellte u. a. an das Synthesewerk Schwarzheide die Forderung nach Lieferung von Hartschaumkomponenten für die Versuchsproduktion und mit der Produktionsaufnahme der PUR-Anlagen in Schwarzheide auch die Forderung nach Zulieferung des Grundmaterials für umfassende Hartschaumverarbeitung bei der Schüngel Chemie KG.
Die mengenmäßigen Forderungen der Schüngel Chemie KG an das Synthesewerk Schwarzheide (Hartschaumkomponenten) betragen:
[Jahr] | 1971 | 1972 | 1973 | 1974 | 1975 | ab 1976 jährlich |
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Angaben in kt | 0,3 | 3,0 | 4,0 | 5,0 | 6,0 | 10,0 |
Es ist bekannt, dass der Komplementär der Fa. Schüngel Chemie KG, Otto Schüngel,18 bei der anwendungstechnischen Forschung der Hartschaumkomponenten eng mit der Bayer AG Leverkusen/WD zusammenarbeitet. Schüngel ist eng mit dem leitenden Mitarbeiter der anwendungstechnischen Abteilung der Bayer AG, Dr. Hauptmann,19 befreundet. Dr. Hauptmann wurde 1950 republikflüchtig, war leitender Mitarbeiter in der PUR-Anwenderforschung der Bayer AG und unterstützte Schüngel beim Aufbau seiner Weichschaumanlagen.
Im Jahr 1968 vermittelte er Schüngel die Verbindung zu dem Bayer-Hartschaum-Spezialisten Dr. Anders,20 der sich dann auch 1968 und 1969 auf Einladung Schüngels bei der Fa. Schüngel Chemie KG besuchsweise aufhielt.
Schüngel erklärte nach einer Reise zur Bayer AG im Januar 1970, dass er mit Unterstützung Dr. Hauptmanns bei der Bayer AG die Technologie der Hartschaumherstellung fotokopiert hätte. Schüngel versucht dabei gleichzeitig, sich im VEB Synthesewerk Schwarzheide Zugang zu den Ergebnissen der PUR-Verarbeitung, insbesondere der Hartschaum-Technologie zu verschaffen.
Vor allem arbeitete er auf eine Teilnahme an internen Beratungen über die künftige PUR-Weiterverarbeitung hin (die Teilnahme an diesen Beratungen wurde stets unterbunden).
Im Interesse der Begrenzung der perspektivischen Entwicklung des halbstaatlichen Betriebes Schüngel Chemie KG in der PUR-Verarbeitung und der Geheimhaltung der in der DDR entwickelten und von der Fa. Elastogran erworbenen anwendungstechnischen Kenntnisse auf dem Gebiet der PUR-Verarbeitung (insbesondere unter dem Gesichtspunkt der belegten Zusammenarbeit Schüngels mit der Bayer AG) wird für die Einordnung der Fa. Schüngel Chemie KG von Spezialisten der PUR-Verarbeitung folgender Lösungsweg vorgeschlagen:
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Die bestehenden Kapazitäten der Fa. Schüngel Chemie KG in der Weichschaumherstellung werden entsprechend dem bilanzierten Rohstoffaufkommen für Weichschaumkomponenten ab 1971 ausgelastet. Nach der Einschätzung des internationalen Trends steigt der Bedarf an Weichschäumen nur noch unbedeutend im Verhältnis zur Bedarfsentwicklung bei Hartschäumen.
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In der DDR ist bis 1975 das in der Bedarfsentwicklungstabelle ausgewiesene Ansteigen des Weichschaumbedarfs bis 1975 zu verzeichnen. Im Prognosezeitraum (ab etwa 1975) wird dagegen ein starkes Ansteigen der PUR-Hartschaumbedarfs und der übrigen PUR-Komponenten zu verzeichnen sein; der Bedarf an Weichschäumen wird sich nach einschlägigen Berechnungen rückläufig entwickeln.
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Der Fa. Schüngel Chemie KG sollte kein Zugang zu den anwendungstechnischen Ergebnissen des VEB Synthesewerk Schwarzheide und dem von der Elastogran AG erworbenen Know-how gewährt werden. Sie sollte bei der Sicherung des Absatzes der Hartschaumkomponenten in der volkseigenen Industrie auf das Gebiet der Weichschaumverarbeitung beschränkt werden.
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Da die Versorgung der Schüngel Chemie KG mit Weichschaumrohstoffen bis zum Zeitpunkt des Dauerbetriebes der ENSA-Anlagen ausschließlich aus Importen erfolgt, müsste dafür Sorge getragen werden, dass die Schüngel Chemie KG zur Erhöhung ihrer Importbezüge 1971 nicht bei ihren Abnehmern volkswirtschaftlich unbegründete Bedarfswünsche hervorruft, um auf diese Weise zusätzliche Valutamittel zum Import von Weichschaumrohstoffen zu binden.
Nach Auffassung von Fachexperten wäre es zur Lösung des PUR-Problems im VEB SWS und zur effektiven Gestaltung der Vertragsbeziehungen mit den Lieferanten, ENSA/Paris und Elastogran AG, unbedingt erforderlich, kurzfristig eine verbindliche Entscheidung über die vorgeschlagene Verschiebung des Staatsplantermins herbeizuführen.
Von dieser Entscheidung sind weitere Teilkomplexe, wie sie in der vorliegenden Information detailliert dargelegt worden sind, abhängig, so u. a.
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Bilanzentscheidungen über die Konzentration von Bau- und Montagekapazitäten im VEB SWS durch das BMK Kohle und Energie,
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Bilanzentscheidungen über Importmittel (freie Devisen)
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Grundsatzentscheidungen über die Bestätigung oder Veränderung des 8. ENSA-Netzwerkes mit den bereits dargestellten Folgen (für Festlegung des Staatsplantermins, Vereinbarung über den Höchstpreis usw.),
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Entscheidungen über Beibehalten oder Verschiebung der Probebetriebstermine für die Konfektionierung nach Erarbeitung der dazu notwendigen volkswirtschaftlichen Aufwandsberechnungen und der Konzeption zur Sicherung der Garantieansprüche.
Unabhängig von der Entscheidung über den endgültigen Staatsplantermin sind darüber hinaus prinzipielle Entscheidungen und Festlegungen notwendig geworden, um überhaupt eine ordnungsgemäße Inbetriebnahme des PUR-Komplexes zu sichern, so u. a.
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über die Zuführung von Arbeitskräften; (nachteilige Auswirkungen auf die Qualifikation der vorgesehenen Arbeitskräfte bei weiterer Verzögerung; Hinderung der volkswirtschaftlichen Effektivität des PUR-Komplexes und Beeinträchtigung der Sicherheit der neuen Produktionssysteme),
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über die kurzfristige Lösung der Rohstoffprobleme (Sicherung der Importe für die anwendungstechnische Forschung und den Probebetrieb der Konfektionierung). Davon hängen wesentliche Fragen der volkswirtschaftlichen Effektivität der PUR-Systeme für die Chemisierung der Volkswirtschaft und der Sicherung der Garantieansprüche bei den Importanlagen ab.
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wegen des ungenügenden Forschungsvorlaufes, vor allem beim Einsatz der PUR-Systeme für Elastomere, Lacke, Kleber und Syntheseleder sowie der erkannten Mängel des Know-how der Elastogran AG, die diese Firma auf dem gleichen Anwendungsgebiet hat.
Dies macht die Erarbeitung einer Konzeption in der Richtung erforderlich,
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wie die Elastogran AG zur optimalen Vertragserfüllung gezwungen werden kann und
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wie nach Kenntnis der tatsächlichen Verwertbarkeit der Know-how Unterlagen der EAG ein weiterer Zeitverzug in der anwendungstechnischen Forschung vermieden werden kann und die eigenen Forschungskapazitäten effektiv eingesetzt werden sollten,
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wie durch das Ministerium für chemische Industrie in Zusammenarbeit mit den zuständigen Bereichen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin zur Lösung dieser Fragen ein Sofortprogramm erarbeitet werden kann, um den Forschungsrückstand in diesen, für die Chemisierung der Volkswirtschaft wichtigsten Anwendungsbereichen, aufzuholen. Dabei sollte vor allem auf die kurzfristige Konzentration der Kräfte und Mittel orientiert werden, um möglichst sicher ab etwa 1972 den effektivsten Einsatz der PUR-Systeme in der Volkswirtschaft der DDR zu garantieren.
Zur Sicherung der Forschungsergebnisse im VEB SWS und der erworbenen Know-how-Unterlagen von der Elastogran AG über anwendungstechnischen Einsatz der PUR-Systeme müsste wegen der engen Zusammenarbeit der Fa. Schüngel Chemie KG mit der Bayer AG die Geheimhaltung der Varianten zur Anwendung der PUR-Systeme für Hartschaum, Elastomere, Lacke, Kleber und Syntheseleder in der DDR besonders streng, entsprechend den bestehenden staatlichen Reglungen über den Geheimnisschutz, organisiert werden.