Probleme im Zusammenhang mit dem Investvorhaben Polyurethan
3. Juni 1970
Information Nr. 568/70 über einige Probleme im Zusammenhang mit dem Investitionsvorhaben Polyurethan im Synthesewerk Schwarzheide, [Bezirk] Cottbus (SWS)
Dem MfS liegen zum Investitionsvorhaben Polyurethan im Synthesewerk Schwarzheide, [Bezirk] Cottbus, Hinweise vor, die eine Gefährdung der Realisierung der vorgesehenen Staatsplantermine
- –
Probebetrieb der Konfektionierung: 2.1.1971
- –
Dauerbetrieb der Konfektionierung: 1.3.1971
- –
Probebetrieb der PU-Anlage:1 1.4.1971
- –
Dauerbetrieb der PU-Anlage: 1.10.1971
erkennen lassen.
Die für die eingetretene kritische Situation wesentlichen Ursachen werden nachfolgend dargelegt:
Der Vertrag über die Lieferung der Anlagen zur Produktion von Polyurethanrohstoffen im Synthesewerk Schwarzheide wurde mit der Firma ENSA2 am 23.12.1968 mit einem Wertumfang von 210 Mio. VM abgeschlossen.
Laut Vertrag ist die französische Fa. ENSA/Paris gegenüber der DDR alleiniger Partner und gleichzeitig verantwortlich für alle Fragen der Koordinierung und Zusammenarbeit mit anderen Firmen, wie z. B. Fa. Speichim3 (französische Chemieanlagenfirma, Tochterfirma von Schneider-Creuzot), Fa. Litwin4 (amerikanische Ingenieurbüro mit Pariser Filiale, bereits beim Aufbau EVW Schwedt5 beteiligt) und Upjohn6 (amerikanischer Chemiekonzern mit Filiale in Frankreich).
Bei der Vertragsrealisierung kam es mit der Fa. ENSA laufend zu Schwierigkeiten, obwohl diese Firma in der Phase der Vertragsverhandlungen die günstigsten Angebote unterbreitet hatte und den Forderungen der DDR am weitesten entgegenkam.
Diese Schwierigkeiten zeigen sich besonders in
- –
Terminverzögerungen,
- –
Nichtbeherrschen des Verfahrens,
- –
Nichteinhaltung der Sicherheitsbestimmungen,
- –
Mängel in der Koordinierung und Zusammenarbeit mit anderen Firmen.
Zum Beispiel hat die Fa. ENSA bis Anfang Mai 1970 durch Terminverzögerungen eine Situation herbeigeführt, die das Gesamtprojekt gefährdet. Anhand ausführlicher Unterlagen im SWS kann der Fa. ENSA nachgewiesen werden, dass sie bei einem Teil der pönalisierten Termine (wichtige Ecktermine, deren Nichteinhaltung Vertragsstrafen nach sich zieht) mit der Übergabe von Unterlagen im Verzug ist und ca. 90 % aller nichtpönalisierten Termine nicht eingehalten hat. Der Gesamtumfang der Verzögerungen betrug zu diesem Zeitpunkt ca. acht Mio. Mark Ausrüstungslieferungen. Diese Tatsache hat sich zwangsläufig auf die Baurealisierung im SWS negativ ausgewirkt.
Fertigungsprotokolle in Frankreich haben ergeben, dass die Fa. ENSA Terminverzüge aufgeholt hat und in der Lage wäre, kurzfristig größere Mengen an Ausrüstungen zu liefern. Wenn außerdem die von der Fa. ENSA im Netzwerk enthaltenen Aktivitäten eingehalten werden, so besteht von dieser Seite aus keine Gefahr für die Inbetriebnahme der PU-Anlage laut Staatsplantermin.
Wichtige Teilgebiete der Vertragsrealisierung werden von der Fa. ENSA nach Auffassung zuständiger DDR-Experten offensichtlich nicht beherrscht. Das geht so weit, dass durch die beteiligten DDR-Partner selbst provisorische Notlösungen geschaffen werden müssen, damit die PU-Anlage überhaupt zum Laufen kommt. Es handelt sich hier in erster Linie um die Problematik »Abwasser und Abprodukte«. Gelingt es nicht, diese giftigen Stoffe zu vernichten, ist die Inbetriebnahme der PU-Anlage infrage gestellt. Es gibt ernst zu nehmende Hinweise, dass die Fa. ENSA nicht in der Lage ist, bis zum Anfahrtermin 1.4.1971 die Abwasserproblematik zu lösen.
Aufgrund der bei dieser Problematik bestehenden ernsthaften Situation wird erwogen, das Abwasserprojekt neu zu vergeben. In Erwägung wird gezogen, das gesamte Projekt innerhalb der DDR selbst zu realisieren.
In diesem Zusammenhang und anhand praktischer Beispiele zeigt sich immer mehr, dass die Fa. Speichim das schwächste Glied der Kooperationspartner der Fa. ENSA ist. (Die Fa. Speichim ist verantwortlich für die Abwasseraufbereitung und Aufbereitung aller Abfallstoffe.)
Nach der Fertigstellung vorgenannter Anlage folgt die von der DDR zu projektierende und zu bauende Schlussbiologie.7 Um diese Schlussbiologie überhaupt bauen zu können, war es erforderlich, eine Abwasserprobe zu erhalten. Von der Fa. Speichim wurde zwar eine Abwasserprobe übergeben, Laboruntersuchungen im SWS ergaben jedoch, dass es sich nicht um ein Realwasser, sondern um ein Wasser, welches in einem Labor hergestellt wurde, gehandelt hat. Nach Einschätzung von Experten hätte das zu einer Fehlprojektierung der Schlussbiologie, zu einer Vergiftung der Lebewesen in der Schlussbiologie und damit zu einem Totalstillstand der gesamten PU-Anlage führen können.
Es zeigt sich immer wieder, dass von der Fa. ENSA und ihren Partnern besonders die ingenieurmäßige Gestaltung der gesamten PU-Anlage nicht beherrscht wird.
In unverantwortlicher Weise versuchte die Fa. ENSA, die Rohrbrücken der PU-Anlage in Schwarzheide aus unberuhigtem Thomasstahl (Stahl 37/1) zu bauen.
Dieser Stahl ist aus sicherheitstechnischen Gründen und internationalen Normen nicht zugelassen, weil er mit großer Wahrscheinlichkeit bei -20 °C auseinanderbricht. Für das Strukturvorhaben in Schwarzheide hätte das größte Gefahren bedeutet, weil die Rohrbrücken mit Rohren belegt sind, die erheblich giftige und gefährliche Stoffe führen.
Es ist daher unverständlich, dass die Fa. ENSA immer wieder versucht hat, mindestens die Hälfte aller Rohrbrücken mit Stahl 37/1 auszuführen.
Die inzwischen gefundene Kompromisslösung beseitigt nach Einschätzung von Experten die Gefahrensituation (Verwendung von Stahl 37/1 nur bei solchen Anlagenteilen, die den Betrieb nicht gefährden können).
Von der Fa. ENSA wird weiterhin versucht, durch Kosteneinsparung die Analytik so zu verringern, dass keine vollständige Analyse des Produktionsprozesses in Messwarten möglich ist. Diese Absicht birgt die Gefahr in sich, dass aufgetretene Störungen im Produktionsprozess schlecht erkannt und demzufolge Schwierigkeiten beim Abstellen bereiten werden.
Insgesamt wurde die Fa. ENSA ihren vertraglichen Verpflichtungen auch hinsichtlich der Koordinierung und Zusammenarbeit mit anderen Firmen ungenügend gerecht. Das führte dazu, dass immer mehr Fachexperten der DDR in die Vertragsrealisierung eingeschaltet werden mussten. Die mangelhafte Koordinierung der Fa. ENSA zeigt sich besonders mit den Firmen Speichim (Problem Abwasser und Abfallstoffe) und Litwin (Problem Stahl 37/1).
Auf die Klärung der Problematik Konfektionierung mit der Fa. Elastomer hat die Fa. ENSA einen negativen Einfluss ausgeübt. Sie weigerte sich beispielsweise, der Fa. Elastomer die notwendigen Unterlagen über das Laboratorium zu übergeben – mit der Begründung, dass die Fa. Elastomer mit der BASF fusioniert sei und sie diese demzufolge als Konkurrenten betrachte. Das Verhalten der Fa. ENSA führte dazu, dass auch die Unterlagen über das Laboratorium mit erheblichem Terminverzug fertiggestellt wurden.
Zusammengefasst ist einzuschätzen, dass die Fa. ENSA als Generalkontraktor die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt. Experten vertreten die Auffassung, dass sie nicht in der Lage ist, Chemieanlagen in dieser Größenordnung – wie das Polyurethanvorhaben in Schwarzheide – zu koordinieren.
Der Fa. ENSA fehlt ein Stamm erfahrener Fachkader. Für die Beherrschung des gesamten Prozesses sind sieben vorhandene Fachleute bei der Fa. ENSA nicht ausreichend. Der wichtigste Partner der Fa. ENSA, die Fa. Speichim, hat bisher lediglich untergeordnete Anlagen für die Alkohol- und Fettsäuredestillation gebaut und hat keinerlei Erfahrungen im Bau großer Chemieanlagen. Hervorzuheben ist aber, dass die Fa. Speichim andererseits hervorragende Fertigungswerkstätten besitzt.
Die bisherige Konzeption der Fa. ENSA lief darauf hinaus, möglichst eine Gesamtverschiebung der vertraglichen Termine zu erreichen und dadurch Vertragsstrafen zu umgehen.
Nachdem aber die Baukalamität auf der Baustelle in Schwarzheide immer offensichtlicher wird, nimmt die Fa. ENSA von einer Terminverschiebung Abstand, da sie offensichtlich glaubt, dass die DDR in Verzug gerät und sie somit aus den vertraglichen Verpflichtungen herauskommt.
Von der Fa. ENSA wurde vorgeschlagen, Mängel durch erhöhte Garantieleistungen abzufangen, ohne dass durch die DDR eine konsequente Prüfung der Projektunterlagen erfolgt. Das Unseriöse dieses Vorschlages ist im Zusammenhang mit den giftigen und explosionsgefährdeten Stoffen, die über die Rohrbrücken führen, zu sehen. Für das SWS würde die Annahme des Vorschlages eine permanente Gefahr bedeuten.
Die Fa. ENSA versucht, den Vertrag zum Nachteil der DDR zu realisieren. Von leitenden Wirtschaftsfunktionären der DDR wird eingeschätzt, dass der Vertragsabschluss mit der Fa. ENSA sehr günstige Positionen für die DDR enthält und für die DDR sehr vorteilhaft ist.
Nunmehr zeigt sich aber, dass die Fa. ENSA versucht, diese Vorteile der DDR wieder abzuringen, um sich selbst ökonomische Vorteile zu verschaffen. Dabei ist zu beachten, dass die Vorteile des Vertrages nicht nur durch die Aktivitäten der Fa. ENSA gefährdet sind, sondern auch durch solche Störfaktoren, die sich besonders auf das Baugeschehen im SWS konzentrieren.
Die schwerwiegendste Problematik ist in diesem Zusammenhang die dem Synthesewerk Schwarzheide nicht zur Verfügung stehende Baukapazität.
Von ca. 70 Mio. Mark Bauleistungen im Jahre 1970 müssen bis 31.8.1970 39 Mio. Mark realisiert sein. (Diese Größenordnung wurde aufgrund der von der Fa. ENSA vorgelegten Netzwerke und des Netzwerkes der DDR-Betriebe errechnet.)
Die Größe dieser Bausumme ergibt sich aus der Notwendigkeit der zur Verfügung stehenden Montagefreiheiten für die Firmen ENSA/Paris und Elastomer AG/Lemförde, wozu die DDR vertraglich verpflichtet ist. Um diese Bausumme zu realisieren, hätten im April 1970 4,5 Mio. Mark Bauleistungen erbracht werden müssen. Erbracht wurden aber weniger als drei Mio. Mark Bauleistungen. Im Monat Mai 1970 mussten ca. acht Mio. Mark Bauleistungen erbracht werden, realisiert wurden aber bis gegen Ende des Monats nur ca. vier Mio. Mark. Daraus ist die gesamte Problematik der Zur-Verfügung-Stellung von Montagefreiheiten zu erkennen. Gleichzeitig ist damit eine Situation eingetreten, die den Inbetriebnahmetermin der PU-Anlage gefährdet.
Der Hauptengpass auf der Baustelle im SWS ist die vom BMK Hoyerswerda installierte Betonmischanlage. Diese hat bisher im Durchschnitt nur zwei Drittel der projektierten Leistung erreicht. Dabei ist noch hervorzuheben, dass die projektierte Leistung maximal eine Bausumme von 40 Mio. Mark realisieren könnte. Dem gegenüber stehen aber die notwendigen Bauleistungen mit einem Wertumfang von 70 Mio. Mark.
Außerdem zeigt sich beim BMK Hoyerswerda, dass Kooperationsketten nicht beherrscht werden, d. h. Betonfertigteile und Nachauftragnehmerleistungen im großen Umfange fehlen.
(Die zuständigen staats- und wirtschaftsleitenden Organe der DDR sind seit Jahresbeginn 1970 über die eingetretene Situation informiert.)
Nach Einschätzung von Experten ist real, dass 60 Mio. Mark Bauleistungen erbracht werden können, wenn kurzfristig durch die verantwortlichen Organe entsprechende Entscheidungen getroffen werden.
Im Falle einer Terminverschiebung ist zu beachten, dass die französischen Anlagen bis zum 1.10.1970 in Betrieb sein müssen, um vor Eintritt extremer Witterungsbedingungen eine stabile Betriebsfahrweise zu erzielen. Eine spätere Inbetriebnahme birgt die Gefahr in sich, dass die Anlage beim Anfahren einfriert.
Ein weiteres Problem ist die Bereitstellung von äußerst reinem Stickstoff mit sehr geringem Sauerstoffanteil. (Dieser Stickstoff wird für die Einlagerung von Isocyanaten benötigt.) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gibt es noch keine Klarheit darüber, ob der Stickstoff in den geforderten Qualitätsparametern zur Verfügung stehen wird.
Am 3.6.1970 fand eine Konsultation zum Netzwerk der Fa. ENSA statt. Dabei wurde das Netzwerk als Arbeitsgrundlage bestätigt. Die DDR-Seite hat kleinere Korrekturen des Netzwerkes erreicht, um eine gewisse Zeitverschiebung im Baugeschehen zu sichern.
An dieser Konsultation nahm u. a. der Generaldirektor der Fa. ENSA, Mayer,8 teil. Dieser brachte zum Ausdruck, über die Situation auf der Baustelle äußerst beunruhigt zu sein. Er ist der Meinung, dass mit einer langen Verschiebung des Inbetriebnahmetermines zu rechnen sei, falls die DDR nicht kurzfristig Verbesserungen im Baugeschehen erreiche. Wie er weiter andeutete, sei die Fa. ENSA in diesem Falle gezwungen, Sanktionen von der DDR zu fordern. (Der Rückstand im Baugeschehen betrug am 12.6.1970 etwa 25 Mio. Mark.)
Es wird eingeschätzt, dass zurzeit noch die Voraussetzungen bestehenden, das Vorhaben Polyurethane termingerecht zu erfüllen. Dazu müssten unseres Erachtens folgende Maßnahmen eingeleitet werden:
- –
Bereitstellung der fehlenden Baukapazität durch das Ministerium für Bauwesen.
Darüber hinaus bedürfte die Durchführung der Bauleistungen, als der derzeit kritische Punkt der DDR-Leistungen im Vertrag, einer besonderen Kontrollpflicht durch das Ministerium für Bauwesen.
- –
Das Ministerium für Chemische Industrie sollte eine Expertenkommission zusammenstellen, die die Bedingungen zur Lösung der Abwasserfrage festlegt.
- –
Die Fa. ENSA müsste gezwungen werden, im Rahmen dieser Festlegungen ihre vertraglichen Verpflichtungen zur Abwasserfrage zu erfüllen.
In Schwarzheide sollte sofort ein wissenschaftlich-technisches Kollektiv aufgebaut werden, das sowohl die Unterlagen zum Projekt als auch die vorhandenen Unterlagen über die Konkurrenzverfahren Polyurethane wissenschaftlich verarbeitet.