Reaktion der Bevölkerung auf Abschluss Vertrag BRD– UdSSR (I)
[ohne Datum]
Information Nr. 863/70 über die Reaktion der Bevölkerung der DDR auf den Abschluss des Vertrages UdSSR – BRD und die Reise von Brandt nach Moskau
Nach den vorliegenden Informationen aus allen Bezirken der DDR ist der Vertrag UdSSR – BRD1 unmittelbar mit dem Abschluss stark in den Mittelpunkt der Diskussion der Bevölkerung gerückt. Diskussionen über den Abschluss und den Inhalt des Vertrages werden in allen Bevölkerungsschichten, besonders anhaltend jedoch in Kreisen der Intelligenz, unter Jugendlichen und in staatlichen Organen, geführt.
Typisch für die Reaktion der Bevölkerung der DDR ist, dass die Verhandlungen und der Vertrag UdSSR – BRD von breiten Teilen unserer Bürger als positiv und nützlich beurteilt werden.
Grundtendenz dieser Zustimmung ist in den meisten Fällen die Ansicht, der Vertrag biete entsprechende Voraussetzungen, vorhandene Spannungen in Europa abzubauen, und könnte als Beginn einer echten Koexistenz und Zusammenarbeit auch auf ökonomischem Gebiet eingeschätzt werden.
In vielen Diskussionen wird vor allem hervorgehoben, dass
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der Abschluss des Vertrages zur Erhaltung des Friedens in Europa beitrage,
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der Vertragsabschluss hauptsächlich durch die Initiative, Verhandlungsbereitschaft und Beharrlichkeit der Sowjetunion zustande gekommen sei,
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der Vertrag dem Sozialismus und der sozialistischen Staatengemeinschaft diene,
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der Vertrag einen Fortschritt auf dem Wege der friedlichen Koexistenz bedeute,
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durch den Vertragsabschluss günstige Voraussetzungen für die Fortsetzung der Gespräche der DDR mit der BRD geschaffen worden seien,
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besonders anzuerkennen sei, dass der Artikel 3 des Vertrages die Unantastbarkeit der gegenwärtigen Grenzen enthalte2 (bezogen auf die »Anerkennung« der Oder-Neiße-Grenze und der Staatsgrenze der DDR seitens der BRD),
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die Reise Brandts3 nach Moskau und die Unterzeichnung des Vertrages durch ihn als Erfolg der fortschrittlichen und demokratischen Kräfte in der BRD zu werten sei.
In weiteren Argumenten wird hervorgehoben, dass der Vertrag eine wertvolle Unterstützung der DDR im Kampf um internationale Anerkennung, Achtung der Grenzen sowie bei der Auseinandersetzung mit dem westdeutschen Imperialismus darstellt.
Vielfach wird der Vertrag als Ausdruck der kontinuierlichen Friedenspolitik der SU und der sozialistischen Staatengemeinschaft sowie als Niederlage für das gesamte kapitalistische System eingeschätzt.
In breitem Umfang werden von der Bevölkerung der DDR Diskussionen über die von der Partei- und Staatsführung der UdSSR durchgeführte Politik – besonders im Zusammenhang mit der Deutschlandfrage – geführt.
Dabei wird wiederholt
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das Bemühen der UdSSR zur Erhaltung und Festigung des Friedens,
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die Initiative zur Normalisierung der Situation in Europa,
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der aktive Beitrag zur Festigung der brüderlichen Beziehungen und allseitigen Zusammenarbeit zwischen den sozialistischen Staaten,
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die Unterstützung der DDR in der Deutschlandpolitik, besonders hinsichtlich der Erreichung völkerrechtlicher Anerkennung der DDR durch die BRD,
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die sozialistische Hilfeleistung an andere Staaten, besonders an die ČSSR,
hervorgehoben.
Neben der überwiegend zustimmenden Haltung zur Politik der UdSSR in der Deutschlandfrage und der Würdigung des Vorgehens im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss mit der BRD werden jedoch auch eine Reihe Spekulationen angestellt.
Dabei ist der Einfluss westdeutscher und Westberliner Rundfunk- und Fernsehstationen offenkundig.
Verbreitet in allen Schichten der Bevölkerung wird die Meinung geäußert, man könne im Zusammenhang mit den Verhandlungen UdSSR – BRD von einer »neuen sowjetischen Politik« sprechen, die durch »Verständigungsbereitschaft und Kompromissbereitschaft« geprägt werde.
Im Interesse der friedlichen Koexistenz habe sich offenbar durchgesetzt, den »harten Kurs« gegenüber den westeuropäischen Ländern und insbesondere gegenüber der BRD aufzugeben und »gemäßigtere Töne« anzuschlagen.
Den DDR-Politikern sei mit dem Abschluss des Vertrages gezeigt worden, dass die Regierung der SU im Gegensatz zur DDR-Regierung eine »gemäßigtere und verständigungswilligere Politik« betreibe und in diesem Zusammenhang auch zu »vertretbaren Zugeständnissen« bereit sei.
Andere Spekulationen beziehen sich auf die Ursachen, die die UdSSR dazu bewogen haben könnten, diesen Vertrag zu unterzeichnen. Dabei wird geäußert:
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Die BRD habe in letzter Zeit in der Weltpolitik an Prestige gewonnen, sodass die »mächtige SU« Westdeutschland als gleichberechtigten Verhandlungspartner anerkennen musste.
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Die Tatsache, dass sich die SU zu Verhandlungen und zum Vertragsabschluss bereit erklärt habe, demonstriere die zunehmende »Defensivpolitik des Sozialismus«.
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Die UdSSR verfolge mit dem Vertragsabschluss das Ziel, Ruhe und Sicherheit an der Westflanke zu erreichen.
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China habe sich zu einem großen Gefahrenherd für die UdSSR entwickelt. Die SU müsse danach trachten, mögliche Angriffsflächen auszuschalten, da weitere Gefahrenzonen von der SU nicht verkraftet werden könnten.
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Die SU beabsichtige durch eine mögliche Entspannung, Ausgaben für militärische Zwecke einzusparen. Zu diesen Einsparungen sei sie aufgrund einer inneren Wirtschaftskrise, der Konflikte mit China4 sowie ihres Engagements im Nahen Osten veranlasst.
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Die SU verfolge das Ziel, über den Vertrag Anschluss an die EWG zu finden und wirtschaftliche Vorteile zu erlangen.
Weitere Spekulationen, verbunden mit politischen Unklarheiten über die Deutschlandpolitik der UdSSR, beinhalten u. a. nachfolgende Tendenzen:
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Durch die Unterzeichnung des Vertrages ergebe sich ein Widerspruch, der bisher nicht erläutert worden sei.
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Das strategische Fernziel des Sozialismus sei von jeher die Veränderung des Status quo in Europa zugunsten des Sozialismus; durch den Vertrag werde jedoch der Status quo in Europa juristisch weiter gesichert und stelle eine Festschreibung der bestehenden Ordnung für die nächsten Jahrzehnte dar. Offenbar bestehe in Moskau die Einsicht, dem Sozialismus werde es mittelfristig nicht gelingen, sich weiter auszudehnen.
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Die Politik der UdSSR sei weitaus klüger als die der anderen sozialistischen Staaten und der DDR. Die UdSSR habe Brandt als Gegner des Faschismus erkannt und unterstütze in gewissem Maße seine Politik. Würde man Brandt bekämpfen oder isolieren und habe man dabei Erfolge, stehe als Endresultat in Westdeutschland eine faschistische Regierung. Das müsse verhindert werden. Es habe jedoch den Anschein, dass das Vorgehen der UdSSR nicht mit den anderen sozialistischen Staaten abgestimmt worden sei.
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Unklarheiten bestehen weiter darüber, warum die BRD nach relativ kurzer Zeit dem Vertrag, mit dem auch Westdeutschland Kompromisse eingegangen sei, zugestimmt habe. Daraus wird abgeleitet, dass von der SU »Zugeständnisse« gemacht worden seien, die u. a. mit der Berlinfrage in Zusammenhang stehen könnten. Es werden Fragen nach der Rechtmäßigkeit eines derartigen Vorgehens der UdSSR gestellt.
Besonders in Kreisen der Intelligenz treten Meinungsäußerungen auf, es sei erkennbar, dass es in der sowjetischen Führung offenbar größere Unterschiede in der Einschätzung und Haltung gegenüber der westdeutschen Regierung, aber auch der DDR geben würde.
Durchgesetzt habe sich vermutlich die Auffassung, gegenüber der BRD eine »gemäßigtere Politik« anzustreben.
Der Vertrag passe nicht in das Konzept der DDR. Die UdSSR »zwinge« die DDR mit dem Vertrag zu Kompromissen gegenüber Westdeutschland. Die DDR sei aufgrund des Vertrages und zur Aufrechterhaltung der Glaubwürdigkeit hinsichtlich des politischen Einvernehmens mit der SU »gezwungen«, ihre Forderungen nach völkerrechtlicher Anerkennung »zurückzustecken«.
Die SU habe offensichtlich in den Verhandlungen mit der BRD »im Alleingang« gehandelt und habe den Führungskadern der DDR das Resultat ohne Diskussion vorgelegt. Vermutlich habe die sowjetische Führung vor den Verhandlungen mit der BRD keine Abstimmung mit der Führung der DDR angestrebt, da vorauszusehen gewesen sei, dass unsere Funktionäre nicht von ihrer bisherigen Haltung abgehen würden.
In geringem Umfang wird geäußert, die SU sei mit dem Vertrag »zu weit gegangen«. Es sei eine »Anmaßung«, über die Führung der DDR hinweg mit der BRD über die Deutschlandfrage zu verhandeln. Diese Haltung widerspreche auch der bisherigen Darstellung von DDR- und SU-Seite, die Deutschlandfrage sei ureigenste Sache der Deutschen. Die SU habe bei dem Abschluss des Vertrages nur die eigenen Interessen wahrgenommen, dabei jedoch die der DDR und die der anderen sozialistischen Staaten außer Acht gelassen.
In geringem Umfang wird argumentiert, der Abschluss des Vertrages deute auf bestehende Diskrepanzen zwischen der Führung der UdSSR und der DDR hin.
Die »eigenmächtige Handlung« der SU in der Deutschlandfrage und die »offensichtlich fehlende oder ungenügende Abstimmung« zum Vorgehen gegen die BRD lassen die Schlussfolgerung zu, dass die SU eine andere Haltung gegenüber der Brandt-Regierung einnehme als die DDR.
Die Führung der SU sei mit der »dogmatischen Politik« der DDR nicht mehr einverstanden und verspreche sich von ihrer »elastischeren« Politik größere Erfolge.
Andere Spekulationen beinhalten, die politische Führung der SU habe mit dem Vertrag die DDR-Führung »fühlen lassen«, dass die SU weiterhin in allen politischen Fragen die »führende Stellung« im sozialistischen Lager einnehmen wolle. Damit sei die Führung der DDR »zurückgepfiffen« worden und habe einsehen müssen, dass sie die angestrebte »Monopolstellung« in der Beeinflussung der Deutschlandpolitik aufgeben müsste. Im Sinne der SU sei damit der Vertrag als »Niederlage« der politischen Strategie und Taktik der DDR zu werten.
In geringerem Umfang, aber in allen Bezirken und Kreisen der Bevölkerung auftretend, werden Diskussionen über das Verhältnis der sozialistischen Länder untereinander geführt.
Ohne dass in der Reaktion der Bevölkerung der DDR bestimmte Detailfragen zu diesem Komplex zu erkennen sind, setzt sich bei einem Teil der politisch interessierten Bürger eine solche Auffassung durch, wonach in der Außenpolitik der sozialistischen Länder in zunehmendem Maße Eigenständigkeit zu erkennen seien, die darauf schließen ließen, dass zwischen den sozialistischen Staaten eine ungenügende Abstimmung erfolge.
Einige Bürger wollen erkennen, dass verschiedene sozialistische Staaten lediglich nationale und ökonomische Interessen verfolgten, ohne dabei auf die politischen Forderungen der anderen Staaten Rücksicht zu nehmen.
Unklarheiten bestehen in diesem Zusammenhang zur
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Verhandlungsbereitschaft der VR Polen gegenüber der BRD und zum Inhalt dieser Verhandlungen;5
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Position insbesondere auch der VR Ungarn und der ČSSR gegenüber der BRD;
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Abstimmung der UdSSR mit der DDR im Zusammenhang mit den Verhandlungen der UdSSR mit der BRD.
Spekuliert wird, dass es der DDR nicht gelungen sei, die sozialistische Staatengemeinschaft von der Richtigkeit der von der DDR betriebenen Politik gegenüber der BRD zu überzeugen. Entstehende Differenzen aus der unterschiedlichen Haltung gegenüber Westdeutschland würden jedoch in der Endkonsequenz Nachteile für die DDR bringen.
Wiederholt wird berichtet, dass ein ansteigendes Interesse an der Kommentierung dieses »Problems« sowohl in den Kommunikationsmitteln der DDR als auch in westlichen Sendern besteht.
Die Reaktion der Bevölkerung der DDR zur Politik der Partei- und Staatsführung der DDR im Zusammenhang mit dem Deutschlandproblem ist vorwiegend und von der Grundtendenz her als positiv einzuschätzen.
Das trifft auch für die in den Kommunikationsmitteln der DDR veröffentlichten Stellungnahmen zum Vertragsabschluss UdSSR – BRD zu.
In Argumenten wird weiterhin hervorgehoben:
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der bisherige konstruktive Beitrag der Regierung der DDR zur Erhaltung und Festigung des Friedens,
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die konsequente Haltung gegenüber der Bonner Politik, besonders im Zusammenhang mit der Forderung der DDR nach völkerrechtlicher Anerkennung,
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die offensive Haltung der DDR in der Deutschlandpolitik, besonders gegenüber der SPD/FDP-Regierung, wie auch anlässlich der Gespräche in Erfurt und Kassel6 zum Ausdruck gekommen sei.
Durch die Gespräche der BRD in Warschau und Moskau und mit Abschluss des Vertrages UdSSR – BRD sind jedoch in verstärktem Maße Vorbehalte zur bisherigen Deutschlandpolitik der Partei- und Staatsführung der DDR bekannt geworden.
Derartige Argumente werden aus allen Schichten der Bevölkerung, vorwiegend jedoch auch aus Kreisen der Intelligenz, bekannt. Offensichtlich ist dabei auch, dass eine Reihe dieser »Argumente« westlichen Rundfunk- und Fernsehsendungen entstammt.
Den größten Umfang derartiger Vorbehalte und Spekulationen nehmen Meinungsäußerungen ein, wonach die Partei- und Staatsführung der DDR besonders gegenüber der BRD eine zu »dogmatische Politik« betreibe. Der »harte Kurs« dieser Politik und die »starre Haltung« bestimmter führender Funktionäre der DDR habe bisher jegliche Entspannungstendenzen scheitern lassen.
Daraus sei auch zu erklären, dass die Gespräche in Erfurt und Kassel »gescheitert« und keine Resultate bei der Annäherung der beiden deutschen Staaten zu verzeichnen gewesen seien.
Die DDR habe bisher in der Deutschlandpolitik der BRD gegenüber Maximalforderungen gestellt und dabei nichts erreicht. Es sei vorteilhafter, wenn die DDR zunächst von der Forderung nach völkerrechtlicher Anerkennung abgehen und ebenfalls Fragen des Gewaltverzichts u. dgl. behandeln würde, da damit mehr Fortschritte in Verhandlungen erreicht werden könnten.
Bisher sei die DDR in Verhandlungen mit der BRD zu »unbeweglich« gewesen (vereinzelt wird diese Haltung auch mit »stalinistischen Methoden« verglichen), sodass Schritte zur Entspannung bisher stagnieren mussten.
Alle Maßnahmen der DDR in der Deutschlandpolitik hätten bisher zur »Verhärtung der Fronten« geführt. Die DDR habe durch ihr »dogmatisches Festhalten« an politischen Positionen die wirtschaftliche Zusammenarbeit anderer sozialistischer Staaten mit Westdeutschland verhindert.
Übereinstimmend wird auf ein geringeres Ansteigen solcher »Argumente« hingewiesen, wonach sich die Patei- und Staatsführung der DDR in einer »Führungskrise« befände.
Partei- und Staatsführung hätten offenbar große Schwierigkeiten, die »gemäßigtere, neue Politik der UdSSR« zu verstehen.
In verschiedenen Äußerungen von DDR-Politikern seien »Nuancierungen« zu erkennen, die auf eine unterschiedliche Einschätzung der Deutschlandpolitik schließen ließen. In einigen Äußerungen wird dabei Bezug genommen auf die Ausführungen der Genossen Ulbricht7 in Rostock.8
Die »Differenzen«, die in der Führung von Partei und Regierung bestünden, seien durch das »mehrtägige Zögern« bei der Kommentierung des Moskauer Vertrages »bestätigt« worden. Offenbar habe man sich hinsichtlich der Interpretierung nicht einigen können. Die erste offizielle Stellungnahme sei auch so abgehalten, dass daraus keine Schlüsse auf die künftige Deutschlandpolitik der DDR gezogen werden könnten. Im Wesentlichen sei die Erklärung im gleichen Ton wie früher gehalten und lasse keine Flexibilität erkennen.
In allen Schichten der Bevölkerung werden Spekulationen angestellt, welche Schlussfolgerungen sich für die DDR aus dem abgeschlossenen Vertrag UdSSR – Westdeutschland ergeben könnten.
Dabei treten im Wesentlichen folgende Tendenzen auf:
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Der Vertrag sollte ausgenutzt werden, um weitere Gespräche Stoph9 – Brandt durchzuführen.
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Die gegenwärtige Politik der SPD/FDP-Regierung biete die Gewähr dafür, bestimme Annäherungen zwischen den beiden deutschen Staaten zu erreichen.
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Ein Abgehen von der Primärforderung nach völkerrechtlicher Anerkennung wäre unumgänglich. Eine Diskussion über Fragen des Gewaltverzichts sei gegenwärtig ergiebiger und bedeute ebenfalls einen Schritt zur Gewährleistung der europäischen Sicherheit.
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Die DDR solle davon abgehen, die völkerrechtliche Anerkennung zu einer »Prestigefrage« auszuweiten.
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Das Beispiel des Vertrages UdSSR – BRD zeige, dass über bestimmte Kompromisse auch wichtige politische Forderungen durchgesetzt werden könnten.
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Auch die DDR sollte Kompromisse eingehen und damit zur Annäherung in der Deutschlandfrage beitragen.
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Die DDR müsse ihre Politik gegenüber Westdeutschland überprüfen. Die in Kassel vorgeschlagene »Denkpause«10 müsse auch von der Regierung der DDR genutzt werden. In der Beurteilung der Regierung der BRD müssten Unterschiede gemacht werden, ob die CDU oder die SPD in Westdeutschland die Politik bestimme. Mit der SPD sei schneller eine Verhandlungsbasis zu finden als früher mit der CDU.
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Die Charakterisierung der Brandt-Regierung und -Politik als »volksfeindlich« u. Ä. sollte überprüft werden. Brandt habe in Moskau bewiesen, dass der Wille zur Entspannung vorhanden sei. In der Argumentation der DDR sollten bestimme Unterschiede zur Person Brandt und Strauß11 bzw. Kiesinger12 zugelassen werden.
Im Zusammenhang mit den Spekulationen über die möglichen Schlussfolgerungen für die weitere Politik der DDR in der Deutschlandfrage werden in zunehmendem Maße auch Illusionen über eventuell zu erwartende Änderungen im Verhältnis gegenüber Westdeutschland und Westberlin bekannt.
Sie beziehen sich vor allem auf
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eine baldige Änderung der Deutschlandpolitik im Sinne einer Kompromissbereitschaft der BRD gegenüber,
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eine Änderung der Lage in den Beziehungen zwischen der DDR und Westberlin, besonders hinsichtlich des Abschlusses eines Passierscheinabkommens13 und des ungehinderten Grenzüberganges von und nach Westberlin,
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Erleichterungen im Reiseverkehr mit Westdeutschland und die Lockerung der Regimeverhältnisse an der Staatsgrenze West,
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den Eintritt einer »Liberalisierungswelle« auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens (Diskussionen unter Kulturschaffenden und Hochschulkadern),
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den Abschluss eines Handelsabkommens und die Verstärkung der Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem und wissenschaftlichem Gebiet.
In zunehmendem Maße wird in Verbindung mit Argumenten über die angeblich bevorstehende Zusammenarbeit mit der BRD auf wirtschaftlichem Gebiet geäußert, es sei mit einer baldigen Anerkennung der EWG durch die UdSSR zu rechnen. Aus diesen Beziehungen würden sich auch Verbesserungen für die DDR ergeben.
Aus verschiedenen Bezirken wird berichtet, dass die von der Bevölkerung – darunter besonders von Jugendlichen – gestellten Fragen zum Vertragsabschluss und zur Deutschlandpolitik der DDR teilweise nur ungenügend durch Funktionäre oder durch die Kommunikationsmittel beantwortet werden.
Das betrifft besonders solche Unklarheiten wie:
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Ändert die Unterzeichnung des Vertrages unsere Einschätzung über den Charakter der Politik der Brandt/Scheel-Regierung?14
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Ist unsere Einschätzung über die Gefährlichkeit des westdeutschen Imperialismus noch aufrecht zu erhalten? Ergeben sich nicht daraus Konsequenzen hinsichtlich des Abbaus der Stationierung von Streitkräften und der Entwicklung der Streitkräfte?
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Warum wird von »wohlverstandenem Interesse« beider Regierungen gesprochen? Bleibt es bei der Einschätzung, dass Westdeutschland eine imperialistische Politik betreibt, die Krieg bedeutet?
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Gibt der Vertrag die Möglichkeit, dass sich die demokratischen Kräfte Westdeutschlands stärker in den Vordergrund stellen?
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Welche Konsequenzen hat der Vertrag für die künftige Politik der Bundesregierung?
Die Reaktion bestimmter Bevölkerungskreise der DDR zur Politik der westdeutschen Regierung gegenüber der DDR, der UdSSR und den anderen sozialistischen Staaten beinhaltet seit dem Vertragsabschluss in stärkerem Umfang als vorher politisch-ideologische Unklarheiten sowie illusionäre und spekulative Vorstellungen.
Sie resultieren vor allem aus
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einer falschen Beurteilung bzw. dem Nichterkennen der Aggressivität des westdeutschen Imperialismus,
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einer Verkennung der wahren Ziele und Absichten der SPD/FDP-Regierung, besonders im Zusammenhang mit der von ihr verfolgten Ost- und Deutschlandpolitik,
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einem Nichtverständnis der gegenwärtigen politischen Lage in Deutschland,
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einem Nichtverständnis der Deutschlandpolitik der Partei- und Staatsführung der DDR.
Dabei zeigt sich in zunehmendem Maße eine verstärkte Aufwertung der SPD/FDP-Regierung und der Person Brandts.
Wiederholt ist aus Meinungsäußerungen erkennbar, dass der Brandt-Regierung gewisses »Vertrauen« entgegengebracht wird und dass z. T. auch Illusionen bestehen, diese Regierung könne bestimmt »Fortschritte« in der Deutschlandpolitik und in der Annäherung zwischen beiden deutschen Staaten erreichen.
Solche »Vorstellungen« werden aus allen Schichten der Bevölkerung bekannt, ohne dass dabei bisher besondere Konzentrationen festzustellen sind.
In zahlreichen Diskussionen wird offensichtlich in dem Bemühen, die Politik der SPD/FDP-Regierung als beispielgebend hervorzuheben, in »Argumenten« formuliert:
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Die Brandt-Regierung betreibe eine realistische und flexiblere Politik als die vorangegangenen westdeutschen Regierungen. Die UdSSR und die DDR müssten das anerkennen und ihre politischen Forderungen darauf ausrichten.
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Die Brandt-Regierung sei eine »Arbeiterregierung«; dem müsse Rechnung getragen werden.
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Die Brandt-Regierung befasse sich mit »echten« Problemen und humanitären Anliegen. Sie vertrete die Interessen der Werktätigen und würde sich nicht scheuen, bis nach Moskau zu reisen.
In anderen Diskussionen, die zum überwiegenden Teil von dem MfS bereits als negativ-feindlich bekannten Personen geführt werden, wird direkt Zustimmung geäußert zur
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Bonner Ostpolitik,15 besonders zur »Initiative« der SPD, Verhandlungen mit der UdSSR, der VR Polen, der DDR und den anderen sozialistischen Staaten zu führen;
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Konzeption der Brandt-Regierung, eine »Annäherung« an die sozialistischen Staaten zu erreichen;
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Forderung Bonns, die DDR solle in politischen Fragen gegenüber Westdeutschland mehr »Kompromisse« eingehen und »humanitäre Maßnahmen« befürworten,
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»Argumentation« Bonner Politiker, die DDR-Regierung zeige in politischen Fragen eine zu »starre Haltung«, daher könne es nie zu einer Änderung in der Deutschlandfrage kommen;
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von Westsendern verbreiteten »Argumentation«, die Initiative zu Verhandlungen mit der UdSSR und zum Vertragsabschluss wäre von Bonn ausgegangen. Das sozialistische Lager befände sich demnach in einer »Defensivposition«.
In weiteren Meinungsäußerungen erfolgt eine Aufwertung der Person Brandts, besonders in der Richtung:
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Die Politik Brandts sei toleranter als die der vorhergehenden westdeutschen Regierungen; er werde es schaffen, dass der Vertrag im Bundestag ratifiziert wird.
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Die Reise Brandts beweise seine »Aufrichtigkeit« hinsichtlich seiner Erklärungen in Erfurt und Kassel.
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Brandt hebe systematisch das Ansehen der BRD. Er betreibe eine Offensivpolitik.
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Der Abschluss des Vertrages erleichtere Brandt das Vorgehen in den übrigen sozialistischen Ländern. Der Vertragsabschluss sei als eine für Brandt positive Quittung seiner Ostpolitik anzusehen.
Mit der verstärkten Kommentierung des Vertrages UdSSR – BRD und der dabei zu beachtenden Entwicklungen und Zusammenhänge in den Kommunikationsmitteln der DDR nehmen gegenwärtig in der Bevölkerung der DDR Meinungsäußerungen zu, die wieder eine realistische Einschätzung der Haltung und Politik der BRD erkennen lassen.
Neben der Erkenntnis, dass der Vertrag Ausgangspunkt für eine weitere Entspannung in Europa sein kann, bestehen in zunehmendem Maße starke Bedenken hinsichtlich der Einhaltung des Vertrages durch die Regierung der BRD, wobei Parallelen zu der geschichtlichen Vergangenheit gezogen werden.
Verbreitet besteht die Auffassung, dass
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der Vertrag in Westdeutschland nicht ratifiziert werde (mit Hinweis auf den innenpolitischen Widerstand durch die Rechtsgruppen),16
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Westdeutschland an einer Vertragstreue überhaupt nicht interessiert sei (mit Hinweis auf die Begleitumstände des Vertragsabschlusses, wie z. B. die vorzeitige Veröffentlichung des Vertragstextes.17)
Brandt benutze den Vertrag lediglich, um die Glaubwürdigkeit seiner Politik zu unterstreichen und bei der westdeutschen Bevölkerung an Ansehen zu gewinnen.
Gleichzeitig halte er sich durch sein »geschicktes Taktieren« den Weg in die übrigen sozialistischen Länder offen.
Häufig wird der Vertrag als Ergebnis der raffinierter betriebenen Ostpolitik gewertet und betont, dass Westdeutschland trotz des Vertrages weiterhin der Aggressionsherd in Europa geblieben ist.
Von vielen Bürgern wird der möglichen Ratifizierung des Vertrages durch den Bonner Bundestag mit Spannung entgegengesehen, wobei mit massierten Angriffen seitens der Kräfte des Rechtskartells18 gerechnet wird.
Wiederholt werden in der Reaktion der Bevölkerung folgende Punkte genannt, die von der BRD in nächster Zeit durchgesetzt werden sollten, um den Entspannungswillen zu unterstreichen:
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Aufhebung des KPD-Verbots,19
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Verbot der NPD20 sowie aktives Auftreten der Regierung der BRD gegen die neonazistische Entwicklung,
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Anerkennung der DDR,
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Ratifizierung des Moskauer Vertrages und seine Verwirklichung auf allen Gebieten.
Im Zusammenhang mit dem Vertragsabschluss wurden verbreitet aus allen Schichten der Bevölkerung kritische Bemerkungen zur Informationspolitik der DDR bekannt.
Unter diesem Vorwand wurden unmittelbar während der Verhandlungen UdSSR – BRD und nach dem Vertragsabschluss von politisch interessierten Bevölkerungsteilen verstärkt Sendungen westdeutscher/Westberliner Rundfunk- und Fernsehstationen empfangen. In Einzelfällen wurde nach dem Vertragsabschluss in Moskau von einem »Scheitern der Informationspolitik der DDR« gesprochen.
Es habe vier Tage bis zur ersten offiziellen Stellungnahme in unserer Presse gedauert.21 In der Zwischenzeit habe der Gegner Zeit gefunden, die Bevölkerung der DDR im Sinne westlicher »Argumente« zu beeinflussen.
Auch leitende Mitarbeiter verschiedener Sender der DDR äußerten ihre Unzufriedenheit über die publizistische Tätigkeit der DDR anlässlich des Vertragsabschlusses.
Bekannt wurde, dass sich z. B. auch relativ viele redaktionelle Mitarbeiter des demokratischen Rundfunks, Mitarbeiter des Staatsapparates u. a. Bürger anhand der Sendung des Westfernsehens informierten.